Da hat doch gerade der Leipziger Uni-Professor Beat Siebenhaar die obersächsische Mundart für tot erklärt - und nun das: Ein ganzes neues Buch in obersächsischer Mundart. Genauer: im Leipziger Dialekt der Lene Voigt. Eine echte Hommage in neun märchenhaften Kapiteln von einer lebendigen Leipzigerin. Schöner kann man wohl nicht vermelden: Lene lebt!

Auf jeden Fall im Herzen von Silvia Sachse, die die Dichterin Lene Voigt nicht einfach so liebt, wie man es sonst so als Leipziger Gewächs tut: vergniegt und jemiedlich. Sie hat sich richtig Arbeit gemacht. Eine Arbeit, die Lene Voigt wohlweislich vermieden hat.

Sie hat zwar die Glassigor ordentlich bearbeitet und auf den Boden der sächsischen Tatsachen geholt, aber sie hat es vermieden, sich auch noch mit den so genannten Volksmärchen der Brüder Grimm zu beschäftigen, die ja bekanntlich zum größten Teil aus dem Hessischen und dem Französischen stammen und von Jakob und Wilhelm noch ein bisschen nachgebessert und deutschlicher gemacht wurden, als sie zuvor waren. Deswegen erkennt sich eigentlich kaum einer wirklich drin wieder – außer Walt Disney, dem alle diese zuckersüßen Wittchen jede Menge Farben und Geträller wert waren.Sächsisch ist in den Grimmschen Märchen nichts. Anders als bei Schillern und Goethen, die wenigstens mal Leipziger Luft geatmet haben. Da hat Lene Voigt lieber die Finger von gelassen, wohl wissend, was für eine Heidenarbeit das wäre, in diese Märchen auch nur eine Spur sächsischer Gemütlichkeit und Heimtücke zu bringen. Das ist schwierig. Das weiß jeder lebende Sachse. Aus einem hessischen Kassenwart wird kein sächsischer Minister, egal, wie man’s dreht.

Und wie ist es mit Wolf, Hans, Goldmarie und Rotkäppchen? All diesen verkleideten Gestalten aus dem französischen Feenmärchen, das in der Grimmschen Version so grauslig blutig und boshaft wurde? – Silvia Sachse hat sich die Mühe gemacht. Die doppelte Mühe. Denn um den Voigtschen Balladenton zu treffen, muss man des Leipziger Idioms schon mächtig sein und wissen, wie man ihn zum Singen bringt. Erste Feststellung: Das hat sie geschafft. Man hört, wie sie diese ganz spezielle Mentalität eingefangen hat. Oder abgeguckt. Was egal ist. Denn wer das schafft, hat bei Lene Voigt schon eine Menge gelernt.

Der Voigtsche Balladenton ist eben nicht nur einfach hingeplappert und hingereimt, wie es auch heute noch gerne Leute tun, die sich für Profis der Lustigkeit halten. Dieser Ton lebt vom ganz speziellen Leipziger Understatement: Man ist zwar irgendwie Weltstadt und verdient das ganze Geld, das die reichen Säcke in Dresden verprassen, hat aber selber nüschde davon. Kann’s aber auch nichts ändern. Man kann zwar Revolutionen anfangen – den Sieg aber heimsen sich immer wieder die Sekretäre in der Residenzstadt ein. Und sagen dann “Ädsche!”.

Was kann man da tun? – Man nimmt’s mit Witz und ein bisschen Kraftmeierei, bei der man sich selbst auf den Arm nimmt, verpackt in liebensgewürzig weiches Einwickelpapier, bei dem man den Stachel, der da sticht, nicht gleich merkt. Das klingt nur für den Ausländer ein bisschen mährig und derb. Wer den Ton versteht, merkt: Da stecken 1.000 Jahre Erfahrung drin (nicht zu verwechseln mit der Margarine-Kampagne “Auch du bist Leipziggg.”).

Die Herren und Fürsten wechseln, ab und zu trampeln Horden von Soldaten durchs Land und schröpfen die Stadtkasse. Hinterher muss dann der Leipziger wieder ran und die Schulden bezahlen und die geplünderten Kassen füllen. Das prägt die Sicht auf Könige, Prinzessinnen, Räuber und Polizisten.Und das ist der zweite Schritt, den Silvia Sachse gegangen ist: Sie hat die hessischen Dorfmärchen in Leipziger Stadtballaden umgedichtet. Das ändert das Personal, das wesentlich jünger und forscher daherkommt als die ganzen naiven Bauernkinder bei den Grimms. Die Mädchen werden fesch und frech, die Jungen naseweis und forsch. Außer Hans, der es sowieso nicht lernt. Und der sich zwar wieder “Hans im Glück” nennen darf, aber seine Jugendliebe, zu der er nach sieben Jahren Lehre ohne einen Heller in der Tasche nach Hause kommt, hält ihn keineswegs für einen Glückspilz, sondern für einen Deppen. Und wer die sächsischen Mädchen nicht kennt, bekommt ihren Charakter hier butterweich aufs Brot geschmiert: “So viel an Bleedheid off eem Haufen …” – So sind sie, die schönen Mädchen aus Sachsen. Das Herz auf der Zunge.

Natürlich muss Silvia Sachse die Grimmschen Märchen umbauen, damit ordentliche Geschichten draus werden. Silvia Sachse ist nicht die einzige, die nicht so recht weiß, warum die Volkskunstmärchen der Brüder aus Hessen noch heute gelesen und von Kindern akzeptiert werden. Die Rollenbilder sind geradezu weltfremd. Warum lädt sich eine alte Frau so ein junges Ding wie Rapunzel auf und wundert sich dann noch, dass sie sich vom Erstbesten in Liebe entflammen lässt? – Bei Grimm ist das ein Rätsel. Bei Silvia Sachse nicht mehr. Auch die Oma aus Rotkäppchen macht sie zu einer echten Leipziger Omma – wohnhaft im Wolfswinkel, gleich bei Markkleeberg, wo mal wieder die Straße aufgeruppt wurde. Und da ist sie hineingestürzt ins Malheur. Muss also Rotkäppchen hin mit Guchen, Gärzen, Flasche Wein ausm Gonsum. Krankenbesuch. Mit Wolfsbegegnung und wachsamem Nachbar.

Wer das Märchen vom Froschkönig bis heute nicht begriffen hat, findet’s bei Silvia Sachse endlich ordentlich erzählt – von der krilligen jungen Dame, die falsche Versprechen gemacht hat, über den Frosch, der sich so eine Abfuhr einfach nicht gefallen lassen will, bis hin zu Papa König, der zwar seiner Tochter gern alles durchgehen lässt – aber ein Versprechen nicht halten, das geht gar nicht. Denn: Auch einsame Könige fühlen sich irgendwann verlassen, wenn sie das Haus nur voller krilliger Töchter haben.

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Es war einmal in Sachsen
Herkules Verlag 2013, 11,90 Euro

Es ist der alte, nicht tot zu kriegende Leipziger Lebenswitz, den Silvia Sachse hier eingefangen hat und der all die alten Grimmschen Kamellen in beinah echte sächsische Balladen verwandelt hat. Ganz wird man ja die Grimmsche Moral nicht los. Silvia Sachse versucht sie mit kleinen nachgesetzten Moral-Versen zu konterkarieren – etwa zum ewigen Frösche-Küssen, das einfach unhygienisch ist. Kluge Mädchen klatschen den Frosch gleich an die Wand – wenn er sich nicht einschüchtern lässt, ist er der richtige. So macht man das in Sachsen.

Am 14. März um 19 Uhr wird das Buch “Es war einmal in Sachsen.” im Berufsförderungswerk Leipzig (Georg-Schumann-Straße 148) von Illustrator Thomas Oberbuchner, Autorin Silvia Sachse und Schauspieler Jürgen Fliegel vorgestellt.

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