„Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“ Dieser Satz von Bertolt Brecht ist kein Trost. Er ist eine Warnung. Denn Vergessen geschieht nicht plötzlich, sondern leise. Es beginnt dort, wo Menschen Teil des Stadtbildes werden, aber nicht mehr Teil der Gesellschaft sind.

Zwischen Tafel und Traum – so fühlt sich dieses Jahr an. Die Tafel ist präsent, konkret, zuverlässig. (Quietscht und klappert seit Jahren.) Sie hängt im Klassenzimmer, sie strukturiert den Tag, sie verspricht Übersicht.

Auf ihr stehen Jahreszahlen, Zitate, Erwartungshorizonte. Sie ist das Werkzeug eines Systems, das Ordnung erzeugen will – und Ordnung mit Sinn verwechselt. Ich stehe täglich vor dieser Tafel. Bildung heißt dann: Reduktion, Auswahl, Struktur. Das ist notwendig – und zugleich eine Form von Ausblendung. Denn was nicht an die Tafel passt, bleibt oft außerhalb des Blickfelds.

Es gibt noch eine andere Tafel. Sie steht nicht im Klassenraum, sondern in Gemeindesälen, Hinterhöfen, provisorischen Ausgabestellen. Die „Tafel“ als Ort der Essensausgabe ist der institutionalisierte Beweis dafür, dass dieses Land soziale Verantwortung delegiert hat: an Ehrenamtliche, Spenden und das Durchhaltevermögen der Bedürftigen.

Freitag, bei klirrender Kälte, auf dem Weg zum Kinoerlebnis am zweiten Weihnachtstag sehe ich Menschen unter Brücken, in Haltestellen, eingerollt in Schlafsäcke. Keine Ausnahmesituation, keine Schlagzeile. Eine Normalität, an die man sich gewöhnt hat – was vielleicht das Verstörendste ist.

Während im Warmen über Bildungsgerechtigkeit diskutiert wird, frieren Menschen, deren dringendste Frage nicht nach Selbstverwirklichung, sondern nach Überleben lautet.

Hier kippt das Bildungsversprechen. Wir sprechen von Chancengleichheit, aber meinen Startbedingungen, die längst nicht mehr gegeben sind. Wir reden von Leistung, ohne die Voraussetzungen mitzudenken, die Leistung überhaupt erst ermöglichen: Sicherheit, Gesundheit, Zeit. Wer diese Voraussetzungen nicht hat, fällt durchs Raster – entschwindet dem Blick.

Unfall des Systems? Teil seiner Funktionslogik? Armut wird verwaltet, nicht beseitigt. Bildung wird beschworen, ohne sozial abgesichert zu sein. Und auch ich bin Teil dieses Systems. Ich profitiere von seiner Stabilität und erkläre Jugendlichen die Welt, während andere aus dieser erklärten Welt herausgefallen sind.

Meine Ohnmacht und meine Zweifel sind real – und gleichzeitig bequem. Sie entlasten mich davon, die eigenen Routinen infrage zu stellen. Welche Texte lesen wir? Welche Wirklichkeit kommt vor, welche nicht? Vielleicht beginnt Bildung nicht dort, wo wir Antworten liefern, sondern dort, wo wir die richtigen Fragen nicht mehr vermeiden.

Der Traum ist dabei kein Eskapismus. Er ist der Störfaktor. Er widerspricht der Normalisierung von Kälte, von Armut, von Ausgrenzung. Er erinnert daran, dass gesellschaftliche Zustände menschengemacht sind – und veränderbar.

Zwischen Tafel und Traum zu stehen heißt, diese Spannung auszuhalten. Es heißt, sich dem Komfort der Gewöhnung zu verweigern. Vielleicht ist das die ehrlichste Form politischer Bildung heute: nicht alles erklären zu können, aber deutlich zu machen, was nicht hinnehmbar ist.

Denn vergessen werden Menschen nicht durch Mangel an Wissen, sondern durch Mangel an Aufmerksamkeit.

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