Immer wieder hatte es Verleger Mark Lehmstedt im Katalog stehen. Immer wieder gab es noch was dran zu machen. Jetzt ist es endlich da in sattem Blau und Gelb: das "Sächsische Volkswörterbuch". Herausgegeben von Gunter Bergmann und unter Mithilfe einer ganzen Autorenmannschaft. Denn sächsische Mundart macht Arbeit. Und das Buch ist ein Kleinod geworden.

Es baut – wie geplant – natürlich auf dem vierbändigen “Wörterbuch der obersächsischen Mundarten” auf, das die Sächsische Akademie der Wissenschaften zwischen 1994 und 2003 in großen grünen Bänden herausgegeben hat. Der Band knapp 100 Euro. Da stutzt jeder Käufer. Auch wenn er neugierig ist auf diese Sprache, auch wenn alle Nase lang irgendwelche dubiosen Institute per Umfrage herauszufinden glauben, Sächsisch sei einer der unbeliebtesten Dialekte in Deutschland.

Umfragen haben ihre Tücken. Jüngst war ja wieder so eine Umfrage in den Gazetten zu finden, die den Lesern weiszumachen versuchte, Norddeutsch sei der beliebteste Dialekt. Wer einmal auf die Landkarte schaut, sieht, dass es gar kein “Norddeutsch” als Dialekt gibt, schon gar nicht als einen, der in Hamburg gesprochen würde. Dort wird ein Dialekt des Niedersächsischen gesprochen. Und der gehört zum niederdeutschen Sprachgebiet. Man hört zwar immer wieder diverse Mundarten im deutschen Fernsehen (oft genug falsch genug). Aber die meisten Deutschen wissen nicht wirklich viel darüber. Auch nichts über die Vielfalt der gesprochenen Dialekte und ihre Abstufungen.

Trotzdem, so erklärt Gunter Bergmann, der auch schon am großen Wörterbuch der Sächsischen Akademie der Wissenschaften mitgearbeitet hat, sollte man die Einschätzungen ernst nehmen. Nicht weil das Sächsische in der Beliebtheit nun knapp hinterm Berlinischen ist, sondern weil die Einschätzung noch vor 200, 300 Jahren eine völlig andere war. Da galt das Sächsische als wichtige Verkehrssprache und Martin Luther wählte nicht ohne Grund ausgerechnet das Meißner Kanzleideutsch, um die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Hochdeutsch sagt man heute dazu.Ausgewählt hat Luther die Vorlage ja vor allem, weil sie gängig war. Sie wurde in ganz Deutschland verstanden – was bei den bayerischen und plattdeutschen Dialekten bis heute nicht der Fall ist. Und Sachsen als traditioneller Transit- und Handelsraum hat einen Dialekt bekommen, der schon von Anfang an ein vermittelnder war. Eben einer, den sie alle verstanden, wenn sie nach Leipzig zur Messe kamen. Es war also von Anfang an dem Hochdeutschen am nächsten von allen deutschen Dialekten. “Dasselbe Merkmal also, das früher seine hohe Achtung bewirkte, erzeugt nun sein Gegenteil”, schreibt Bergmann. Es wird als “verwahrlostes und liederlich ausgesprochenes Hochdeutsch” empfunden.

Dabei unterliegen die obersächsischen Mundarten denselben Funktionen wie alle anderen deutschen Dialekte. Es hat seine Regeln. Es hat seine markanten geografischen Grenzen, die es nicht nur gegen andere Dialektgruppen abgrenzen, sondern auch verschiedene Unterdialekte gegeneinander. Dazu kommt, das Sachsen historisch ein Flickenteppich war. Im Osten haben sich etliche lausitzische Dialekte erhalten, die an die ursprünglich slawische Bevölkerung des Gebietes erinnern, im Süden funktionieren das Erzgebirgische, das Vogtländische und das Nordbaierische wieder nach anderen Prinzipien. Dafür sind große Teile des südlichen Sachsen-Anhalt und des südlichen Brandenburg – historisch bedingt – von diversen obersächsischen Dialekten geprägt. Wittenberg übrigens auch.

Und selbst im Kernland zwischen Dresden, Freiberg und Leipzig wird nicht überall derselbe Dialekt gesprochen. In Dresden dominiert das Ostmeißnische, in Leipzig ist es das Südwestosterländische als Teildialekt des Osterländischen. Was dann wieder selbst viele Ur-Einwohner nicht mehr wissen, dass die Leipziger Region einmal das Osterland war. Was nichts mit dem Osterhasen zu tun hat, dafür viel mit der deutschen Osterweiterung um das Jahr 1.000. Wer damals von Merseburg ostwärts reiste, kam in slawisch bewohnte Gebiete.

Und Bergmann fordert wohl zu recht, dass sich Schulen im Land deutlich ernsthafter auch mit den Dialekten beschäftigen und nicht nur mit den gerade gefragten Fremdsprachen. Denn auch die versteht der Schüler besser, wenn er weiß, woher Sprachen eigentlich kommen und wie sprachliche Unterschiede entstehen. Dass man Sächsisch freilich wieder lehren sollte an Sachsens Schulen, das hält auch der Sprachforscher für utopisch. Der Grund ist simpel: Nicht erst Prof. Dr. Beat Siebenhaar von der Uni Leipzig hat ja nachgewiesen, dass der sächsische Dialekt eigentlich längst am Aussterben ist. Im Unterschied übrigens zum Erzgebirgischen und Vogtländischen, die beide auch noch in der Identifikation der Sprecher mit ihrer Region eine Rolle spielen.Die Meißner und Osterländer Dialektformen sind nach den Forschungsergebnissen der Leipziger Forscher schon seit 200, sogar 300 Jahren auf dem Rückzug. Sie spielen keine Rolle mehr in der regionalen Abgrenzung und spielen auch im Alltag keine Rolle mehr. Die dialektale Färbung ist noch da. Und selbst wenn sich die (Ober-)Sachsen hochdeutsch miteinander unterhalten, kommt diese Färbung immer wieder mal durch. Aber selbst als die Erkundungstrupps nach dem 2. Weltkrieg in alle Ecken der Region ausschwärmten, waren die Leute, die Sächsisch noch in seiner ganzen Schönheit und Funktionalität beherrschten, fast ausgestorben. Über 1.000 Helfer gingen damals auf die Suche nach überlebenden älteren Exemplaren, sammelten das Material für das große Wörterbuch akribisch zusammen. Was dann im Keller des Leipziger Akademie-Gebäudes eine ganze Wand voller Kästen mit Karteikarten ergab, auf jeder verzeichnet, welche Abwandlungen und konkreten Verwendungsformen es gab.

Schon das ein Grund, der das große vierbändige Lexikon für den einfachen Leser fast undurchdringlich macht: Er begegnet der Fülle einer Dialektwelt, die es so heute nicht mehr gibt. Bis hin zu Worten und Fachbegriffen, die mit den Objekten und Tätigkeiten, die sie bezeichneten, verschwunden sind. Ein paar ältere Landwirtschaftsgeräte als Abbildung im Anhang deuten die einst reiche bäuerliche Welt an, die es seit der Industrialisierung auch nicht mehr gibt.

Deswegen haben Bergmann und seine Mitstreiter für diesen Band auch nur die 5.000 gängigsten Begriffe ausgesucht. Gängig auch in dem Sinn: Sie werden heute größtenteils noch verstanden und im Alltagsgespräch auch immer wieder gern verwendet. Die Sachsen hängen ja trotz alledem an ihrer Mundart. Und viele der hier ausgewählten Worte lassen ahnen, welche reiche Bilderwelt, wieviel Phantasie und Sprachwitz die obersächsischen Dialekte einst hatten. Und wer sich die Ruhe nimmt zum Durchblättern, der merkt auch bald, dass das, was man heutzutage im Fernsehen oder auch auf diversen Bühnen als “Sächsisch” serviert bekommt, mit dem einst gesprochenen Dialekt wenig bis gar nichts zu tun hat. Es ist auch schon wieder die künstliche Inszenierung von Dialekt.

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Sächsisches Volkswörterbuch
Gunter Bergmann, Lehmstedt Verlag 2012, 19,90 Euro

Das Forschungsprojekt der Akademie erwischte die obersächsischen Mundarten gerade in ihrem Kernteil noch geradeso vor dem Verschwinden. Heute würde man wohl nicht einmal die Leute finden, die Auskunft geben könnten über Worte und Wendungen. Aber dafür ist dann das Lexikon wieder richtig gut. Denn dann und wann tauchen solche Wendungen eben doch wieder auf, irgendwo beiläufig ins Gespräch geworfen – und selbst der Sprecher weiß gar nicht recht, warum er die Worte jetzt gerade benutzt hat. Da kann man dann nachschauen, was hinter muddeln steckt und pispeln und pimpeln, um nur mal drei zu nennen. Drei Worte, die auf den ersten Blick komisch wirken, als hätte da einer das Hochdeutsche malträtiert. Dass hinter den Worten aber ganze Bedeutungsebenen und Interpretationsspielräume liegen – hier kann man’s nachblättern. Und je mehr man blättert, umso deutlicher wird, dass da tatsächlich eine vollgültige Sprache gestorben ist.

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