Seit Sonntag (bei einer Kandidatin auch schon seit Samstag) hängen und stehen die Wahlplakate zur Bundestagswahl in Leipzigs Straßen. Doch das Gefühl, dass es am 22. September um eine Richtungsentscheidung in der deutschen Politik gehen könnte, will nicht aufkommen. Nicht bei der regierenden CDU, deren Spitzenkandidatin Heribert Prantl am 10. August mit dem pragmatisch prinzipienlosen Reichskanzler Bismarck verglich, nicht beim SPD-Herausforderer, der sich von Prantl an August Bebel messen lassen muss. August Bebel, der heute vor 100 Jahren starb.

Heribert Prantl schreibt in seinem Kommentar in der “Süddeutschen”, in dem es nur beiläufig um Bebels 100. Todestag, vordergründig aber um die lähmende Visionslosigkeit der heutigen Volksparteien geht, speziell auf die so erfolglos ringende SPD: “Weil der SPD die alltagstaugliche Utopie fehlt, ist sie depressiv. Bebel ging jeden Tag mit der Überzeugung zu Bett, dass es bis zur Revolution nur noch wenige Tage dauern könne. Das ist passé.”

Das Wort “Revolution” plakatieren dieser Tage die Genossen von der Linkspartei, quasi der ungeliebten Tochter der SPD. Noch nie haben wohl Mütter und Töchter derart langwierig aneinander herumgemäkelt wie diese beiden. Wobei die Tochter auch gern mal ihren Namen wechselte. Anfangs nannte sie sich frech KPD und verkörperte ein paar Wochen lang tatsächlich das schlechte Gewissen der Mutter, die sich ab 1914 so willfährig den deutschen Kriegsveranstaltern angedient hatte. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren die Vertreter dieses anderen Gewissens – und wurden ermordet. Die KPD geriet in die Gleichschaltung Stalins, mauserte sich später zu SED und DKP, wurde zur PDS und zur heutigen Linkspartei. Wer unter dem riesigen Wort “Revolution” das Kleinergedruckte liest, merkt schnell: Auch die ganz linken Genossen wollen eher eine friedliche Nachbarschaft als eine Revolution.

Ist das Wort verbrannt? Oder fehlen nun einfach die Leute, die noch den Mumm haben, wie ein August Bebel Prinzipien zu haben und diese auch zu vertreten? Und warum ist der Wurm drin? Liegt es nur an Gerhard Schröder und seinem Ausverkauf alter sozialdemokratischer Werte an den ach so perfekten Markt?

Der Wurm ist schon länger drin. Niemand hat das als so frustrierend erlebt wie August Bebel, 1840 in Köln-Deutz geboren, 1860 als Geselle in Leipzig gelandet. Ein Preuße in Sachsen. 1864 hatte er seinen Meisterbrief als Drechslermeister in der Tasche und seine Werkstatt im Hof der Petersstraße 18, mitten in der Stadt. 1865 wurde er Präsident des Arbeiterbildungsvereins. Jürgen Schmidt wundert sich in seiner großen Biografie zu August Bebel “August Bebel. Kaiser der Arbeiter”, an einigen Stellen darüber, dass diese frühe Sozialdemokratie keineswegs von Arbeitern geprägt und dominiert wurde. Auch Handwerker und Handwerksmeister fühlten sich von dieser neuen Partei angezogen. In den liberalen Parteien dominierte das Bildungsbürgertum, in den konservativen Parteien dominierten Haus- und Landbesitzer. Die SPD, wie sie dann 1869 endgültig entstand, war auch eine Handwerkerpartei.
Bebel war der erste Vorsitzende dieser Partei. Da hatte er auch schon 1868 sein Bürgerrecht in Leipzig bekommen, die sächsische Staatsbürgerschaft hatte er schon 1866 bekommen. Sein Unternehmen lief so erfolgreich, dass er sogar einen zweiten Gesellen anstellen konnte. Und er praktizierte etwas, was auch bei den Genossen damals nicht so üblich war – im Handwerk schon: Er machte seine Frau Julie, gelernte Putzmacherin, zur Geschäftspartnerin, überschrieb ihr auch 1872 sicherheitshalber das Unternehmen, denn da drohte ihm eine mehrjährige Festungshaft.

Es war zwar noch nicht die Zeit des Bismarckschen Sozialistengesetzes, das wurde 1878 verabschiedet. Aber die Staatsmacht beobachtete das Treiben der Genossen argwöhnisch und mit tiefstem Misstrauen. Denn die meinten es augenscheinlich ernst, zeigten sich aber taktisch klug und waren scheinbar nicht zu fassen.

Gegen Bebel und seinen Leipziger Freund Wilhelm Liebknecht wurde bereits 1870 wegen Hochverrats ermittelt. Gegen den Redakteur des sozialdemokratischen “Volksstaats” Adolf Hepner übrigens auch. Die drei kamen in Untersuchungshaft, aber so gründlich die Beamten auch untersuchten, sie fanden kein Beweisstück, das den Dreien in ihren Texten tatsächlich Hochverrat nachwies. Aber irgendwie fühlt man sich an den ein oder anderen Fall vor heutigen Gerichten erinnert. Obwohl die drei Verdächtigten wegen Mangels an Beweisen freigelassen werden mussten, wurde der Prozess 1872 doch wieder aufgerollt. Ein Schauprozess, bei dem all ihre Veröffentlichungen der vergangenen Jahre aufgehäuft wurden – dasselbe Material, das schon 1870 nicht zu einer Anklage gereicht hatte, und sie wurden zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.
Und weil Bebel und Liebknecht den Prozess weidlich nutzten, die Argumente ihrer Ankläger zu zerpflücken, wurde dieser Leipziger Hochverratsprozess am Königlich Sächsischen Bezirksgericht in Leipzig zur größten Marketing-Aktion der noch jungen SPD. Das stelle man sich heute mal vor. Es geht nicht.

Eine Tafel in der Straße des 17. Juni erinnert heute an diesen Prozess. Bebel bei diesem Prozess: “Unsere Partei ist keine Partei der Putsche, keine Partei, die Krawalle und Putsche auf ihre Fahnen geschrieben hat.” – Das klingt ein bisschen wie das heutige Wahlplakat der Linkspartei.

Denn Bebel wartete zwar auf die Revolution, die jeden Tag ausbrechen sollte, und teilte diese Erwartungshaltung mit dem Großteil seiner Genossen und auch mit den beiden Burschen in London, mit denen er befreundet war: Karl Marx und Friedrich Engels. – Aber er wollte den Weg in den “Volksstaat” (damals gehörte das Wort noch der SPD) mit parlamentarischen Mitteln ebnen. Was ihm später immer saurer wurde. Denn die SPD war als neue Massenpartei auch für Kleinbürger und deutsche Theoretiker eine Heimstatt geworden. Ab 1896 entflammte in der SPD der Revisionismus-Streit, den der Bankkaufmann Eduard Bernstein angezettelt hatte. Wo Bebel noch die Notwendigkeit sah, die parlamentarischen Möglichkeiten zur Umsetzung von SPD-Forderungen auch zu nutzen, sah Bernstein den einzigen Weg zum künftigen Sozialismus nur noch über Reformen und eine Anpassung ans aktuelle Herrschaftssystem.

Der Konflikt wurde tatsächlich nie aufgelöst. Und er zerreißt die SPD bis heute.

Aber wie das so ist mit theoretischen Vor-Arbeiten: Es gibt einen Klugen, der damit versucht, eine Debatte anzustoßen – und Bernstein war einer der klügsten Köpfe der SPD. Und es gibt einen Haufen von Leuten, die die ganze Sache versimpeln und sich dann ganz wohl damit fühlen. Denn während die Mehrheit der SPD im 1. Weltkrieg ihren “Burgfrieden” mit Regierung und Militärs schloss, war Bernstein unter denen, die diesen Burgfrieden heftig kritisierten. Er war 1917 dabei, als eine weitere der neuen SPD-(Protest)-Töchter entstand: die Unabhängige SPD (USPD), die übrigens in Leipzig in den 1920er Jahren die stärkste linke Partei war.

Diese Aufspaltung bekam der SPD erst recht nicht gut: “Nach der Spaltung der SPD während des Ersten Weltkrieges sollte die MSPD den Revisionismus letztlich offiziell als theoretische Grundlage übernehmen. Die Bewertung des Bernsteinschen Revisionismus jedoch schwankt bis heute zwischen begeisterter Zustimmung und entschiedenster Ablehnung”, heißt es im Bernstein-Artikel der Wikipedia. MSPD ist die Mehrheits-SPD und im Grunde das, was heute noch im Mantel SPD übrig geblieben ist.

Bebel hatte noch Prinzipien, betont Heribert Prantl. Er passte sie auch nicht der jeweiligen Wetterlage an. Und solche Typen fehlen der heutigen SPD, Typen mit einer Vision, die über den mühseligen Alltag hinausweist. Typen, die ihre Haltung auch mit einem deutlichen Eintreten für elementare Bürgerrechte verbinden. Heribert Prantl: “Nicht passé ist aber die Idee, dass die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie Ausbildung und Auskommen brauchen, um Bürgerinnen und Bürger sein zu können. Und die Idee, dass bestimmte elementare Güter im Gemeineigentum bleiben müssen (Wasser zum Beispiel), ist es auch nicht.”

Es gibt eigentlich noch genauso viel zu tun wie zu Bebels Zeiten. Und Fakt ist wohl auch: Es reicht nicht, wenn die schönen Ziele in den Wahlprogrammen stehen. Die lesen – so meint Prantl – nicht mal die Genossen selbst. Solche Ziele muss man leben und auskämpfen. Das andere, das Regieren ohne Prinzipien, das ist Bismarck-Politik. Und die weiß Prantl anderswo in besseren Händen.

Die “Südddeutsche”: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
www.sueddeutsche.de/politik/die-spd-jahre-nach-august-bebel-auf-der-suche-nach-der-verlorenen-zeit-1.1743492

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