Wie es sich wirklich lebte in der Zeit, in der der Merseburger Bischof Thietmar von Merseburg (975-1018) lebte, werden wir nie wirklich wissen. Geschichte ist immer eine Rekonstruktion, ein Versuch, sich aus vielen Details ein ganzes Bild zu machen. Ohne dass wir wissen, wie viel „Political correctness“ in den Überlieferungen steckt. Stimmt schon. PC war auch vor 1.000 Jahren ein Thema. Nur halt mit einer anderen Sprech-Erwartungs-Haltung als heute.

Oder besser: Schreib-Erwartungshaltung. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass in damaligen Kneipen und Herbergen genauso unflätig und unzensiert gesprochen wurde, wie es heute in den Blogs und Foren all der Leute passiert, die sich über heutige „Political correctness“ echauffieren. Weil sie wohl nie begriffen haben, dass ein offizieller Sprach-Standard einer Gesellschaft auch geordnete Verhaltensregeln verleiht. Niemand verstößt gegen diese Regeln, ohne sich selbst unmöglich zu machen und als Sprechender zu disqualifizieren.

Solche Regeln gab es immer. Es gab sogar Jahrhunderte, da war das öffentliche Sprechen geradezu mit Bombast überlagert und jeder, der nicht ziseliert die richtigen Anreden gebrauchte, outete sich als gesellschaftlich nicht zugehörig.

Denn darum geht es bei „Political correctness“ immer: Wer den offiziellen Sprachgebrauch unterläuft, macht sich selbst zum Außenseiter.

Weiß eigentlich jedes Kind. Und für Thietmar war das ganz bestimmt elementar.

Und in Thietmars Zeit muss dieser offizielle Sprachgebrauch sehr christlich geprägt gewesen sein. Denn davon erzählt der Stil, in dem Thietmar in seiner berühmten Chronik berichtet. Ob es außerhalb der kirchlichen und adligen Kreise, in denen er sich bewegte, anders war, wissen wir nicht. Dazu haben sich zu wenige schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit erhalten.

Die Schreibstuben der Klöster waren fast die einzigen Orte, an denen überhaupt emsig Chronik geschrieben wurde. Auffällig ist auch das genaue Wissen um Rangunterschiede. Thietmar macht sehr deutlich, wie groß der Respekt vor Höherstehenden war. Auch das war PC.

Und mit hoher Wahrscheinlichkeit hüteten sich Bauern und Handwerker bei Begegnungen mit der Obrigkeit, den Rahmen der gültigen PC zu verlassen.

Eine andere Frage ist natürlich: Wie weit reicht der christliche Sprachgebrauch? Waren die Menschen zu Thietmars Zeit alle so tief religiös wie der kämpferische Bischof von Merseburg?

Auch darüber kann man nachdenken, wenn man die Ausstellung „Thietmars Welt“, die in Merseburg zum 1.000. Todestag des Bischofs und Chronisten gezeigt wird, besucht.

Und um neugierig zu machen, verweist der Ausstellungsträger, die Vereinigten Domstifter zu Merseburg, in kürzeren Abständen auf eindrucksvolle Ausstellungsstücke, die in der Ausstellung zu sehen sind. Und ein Ausstellungsstück verweist natürlich auf die Religiosität der Zeit. Und auf das religiöse Denken des Chronisten.

Memoria – die Kraft der Erinnerung und des Gedenkens

Thietmars Chronik verkörpert in einzigartiger Weise den christlichen Geist und die Bedeutung der Memoria, also das Gedenken an die Verstorbenen im Gebet. Dieses Bedürfnis bildete einen grundlegenden Wesenszug des mittelalterlichen Weltbildes in den christlichen Gebieten. Bereits zu Lebzeiten war es den Menschen wichtig, Vorkehrungen für ihre spätere Memoria zu treffen. Immer wieder betonte Thietmar deshalb in der Chronik seine eigene Sündhaftigkeit und gestand dem Leser, dass er gegen die Gebote und sittliche Normen verstoßen habe und daher des Gebets bedürfe.

„Seit ich das Hirtenamt führe, habe ich meine Untertanen nur durch Worte, nicht durch mein Beispiel belehrt. Äußerlich erschien ich gut, mein Inneres aber befleckte ich mit schlimmsten Gedanken. […] ich kenne keinen schlechteren Menschen als mich. Ich klage mich so an, damit du (lieber Leser) meine Wunden erkennen, mit der erforderlichen Kur mir beistehen und als mein enger Schicksalsgefährte mir allenthalben so helfen kannst, wie du es dir selbst von anderen wünschest.“

Pilgerampulle, München, Sammlung Christian Schmidt. Foto: Vereinigte Domstifter
Pilgerampulle, München, Sammlung Christian Schmidt. Foto: Vereinigte Domstifter

In der Chronik erwähnte Bischof Thietmar zahlreiche Todestage der verstorbenen Großen des Reiches und ergänzte dies noch mit Hinweisen auf den Lebenswandel der Verstorbenen. Stets verband Thietmar diese Nachrichten mit dem Wunsch an den Leser, er möge für die Seelen der Verstorbenen beten.

Die liturgische Memoria war Teil des Gebetsdienstes in Stiften und Klöstern ebenso wie an Pfarrkirchen oder Kapellen. Durch die Nennung der Verstorbenen während der Messe sowie das Gebet oder die Fürbitte bei den Heiligen blieben die Verstorbenen unter den Lebenden präsent. Ihr Sündenmaß konnte so gemildert und die Hoffnung auf den Himmel genährt werden.

Die Stiftung eines Altars oder sogar eines ganzen Klosters garantierte die Ausübung des Gebetsgedenkens des Stifters. Für die regelmäßige Abhaltung des liturgischen Gedenkens wurden sogenannte Necrologien bzw. Kalendare angelegt, die die Namen der Verstorbenen enthielten.

In seiner Chronik berichtet Thietmar von Hidda, der Mutter des Kölner Erzbischofs Gero, die eine Pilgerreise nach Jerusalem unternahm. Auf dem Rückweg starb sie tragischerweise – nicht jedoch, ohne ihren Begleiterinnen zuvor die Bitte an ihren Sohn auszurichten, für sie in der Kirche der Heiligen Cäcilie in Köln einen Altar erbauen zu lassen, um damit für ihr Totengedenken zu sorgen.

„Die fromme Mutter des Kölner Erzbischofs Gero, Hidda, wallfahrte nach Jerusalem, um dort zu beten. Als sie dort erkrankte, trug sie ihren Begleiterinnen folgende Botschaft auf: ‚Wenn meine Seele den Wohnort ihres langen Pilgerlebens verlässt, übergebt meinen Leib alsbald der Mutter Erde und bringt meinem Sohne Gero sofort die Nachricht, damit er der fernen Mutter auf Erden nicht die Ehren verweigere, deren mich der gütige Gott im Himmel gewürdigt hat; in der Kirche der hl. Cäcilie soll er mir einen Altar errichten.‘

Diesem Befehl nachkommend, begruben dann ihre treuen Dienerinnen die selig verschiedene Herrin, kehrten sogleich heim und entrannen dadurch, ohne es zu ahnen, nahendem Unheil. Denn damals eroberten die Sarazenen Jerusalem und ließen den Besiegten nichts. Die Dienerinnen kamen also nach Köln und berichteten alles dem Erzbischof. Er empfing sie voller Güte, dankte Gott und erfüllte ihre gerechte Bitte.“

Eine Pilgerampulle aus dem 7. Jahrhundert

Exemplarisch für diesen Auszug aus der Thietmar-Chronik wird in der Ausstellung eine Pilgerampulle aus dem 7. Jahrhundert aus einer Münchner Sammlung gezeigt. Auf ihrer Vorderseite ist die Kreuzigung Christi zu sehen. Das Geschehen ereignet sich auf dem Golgatahügel, der durch drei Erhebungen angedeutet ist. Christus ist ganzfigurig wiedergegeben. Sein Kopf wird von einem Heiligenschein mit eingezeichnetem Kreuz, einem sogenannten Kreuznimbus, hinterfangen. Am Fuß des Kreuzes würfeln zwei Soldaten um Christi Kleider.

Von der Komposition her entsprechen ihnen am oberen Ende des Kreuzes die Symbole für Sonne und Mond. Um dieses Bild verläuft eine griechische Inschrift, die übersetzt bedeutet: „Öl vom Holz des Lebens von den heiligen Stätten Christi.“ Mit dem Holz des Lebens ist das Kreuz Christi gemeint, mit dem das in der Ampulle einst enthaltene Öl in Kontakt gekommen war. Nach dem Glauben spätantiker Pilger wurde es dadurch mit der schützenden Wirkung und der heilenden Kraft des Kreuzes gesegnet.

Auf der Rückseite ist die Auferstehungsszene mit zwei Frauen und einem Engel am leeren Grab Christi dargestellt. Die Frauen kommen von links, die vordere schwingt ein Räuchergefäß in der erhobenen rechten Hand. Der Engel sitzt rechts vom Grabbau. Sein Kopf ist durch Korrosion zerstört. Nur sein Heiligenschein und das Ende seines Botenstabes sind noch zu sehen.

Die Grabkapelle hat im unteren Teil zwei gitterartige Flügel, die rautenförmig gemustert sind, und wird im Giebel von einer großen Muschel geschmückt und von einem Kreuz bekrönt. Darüber spannt sich die griechische Botschaft, auf die der Engel mit ausgestrecktem rechten Arm, von dem nur noch die Hand vorhanden ist, hinweist: Der Herr ist auferstanden.

Wer sich das Stück anschauen möchte, besucht die Ausstellung „Thietmars Welt. Ein Merseburger Bischof schreibt Geschichte“. Sie ist noch bis zum 4. November geöffnet. Zahlreiche Angebote wie Vorträge oder Sonderführungen bringen die Inhalte auf vielfältige Weise näher.

Das zentrale Werk in der Ausstellung „Thietmars Welt“: Thietmars Chronik

Das zentrale Werk in der Ausstellung „Thietmars Welt“: Thietmars Chronik

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