Alle Jahre wieder. Zumindest in Großzschocher. Da setzt sich Werner Franke hin und gestaltet für die Zschocherschen einen Kalender. Das Material hat er ja seit Jahren eifrig gesammelt im "Heimatblick". Es ist ein kleines Ortsteilmuseum, Treffpunkt der IG Großzschocher und Archiv. Denn Werner Franke sammelt alles, was er zur Geschichte seines Ortsteils finden kann.

Vieles davon kann man in den sechs großen Bänden zur Geschichte von Großzschocher/Windorf wiederfinden, die bei Pro Leipzig erschienen sind. Einiges auch in den Banden mit alten Ansichtskarten und mit heutigen Fotos aus dem Ortsteil im Leipziger Südwesten. Es gibt eigentlich keinen anderen Stadtteil, in dem die an der eigenen Geschichte Interessierten derart umfangreich gesammelt und erzählt haben, was ihren Ortsteil so besonders macht. Und das lange vor dem nächsten knackigen Jubiläum. Das ist nämlich 2017, da feiert Großzschocher den 800. Jahrestag seiner Ersterwähnung.

Und zwischendurch ist immer wieder und Werner Franke durchblättert sein Archiv und überlegt, welche Motive er im nächsten Kalender für seine Zschocherschen bringen kann. Es sollen ja nicht jedes Jahr dieselben sein. Sie sollen auch nicht so aussehen, als seien es immer wieder dieselben. Das eben, was so einen Ortsteil, der 1922 zu Leipzig eingemeindet wurde, ausmacht: Kirche, Schule, Elsterbrücke, Wasserturm, Gemeindehaus. Unverwechselbar: Körnerhaus, Buttergasse und die Zickmantelsche Mühle, die derzeit eine komplette Neuerfindung durchmacht. Aus dem historischen Mühlenbau (dem Großzschocher auch den einzigartigen Mühlpark verdankt), werden attraktive Wohnungen. Genauso wie aus der alten Schäferei. Großzschocher wird zu einer neuen Wohnadresse für Leute, die das Besondere lieben.

Verschwunden sind einstige Ortsmarken wie das Schloss, die Windmühle, der berühmte Gasthof “Zum Trompeter”, ein Dutzend alter Kneipen, viele kleine Läden und vier Brauereien. Was noch nicht erzählt wurde in der großen Ortschronik. Die Interessengemeinschaft Chronik Großzschocher Windorf ist noch aktiv, sammelt auch weiter. Aber den Kraftakt nun noch zu einem siebenten Chronik-Band, den traut sich die emsige Truppe doch nicht mehr zu. Manches würde auch schlichtweg professionelle Unterstützung brauchen – etwa die Aufarbeitung der Zschocherschen Vorgeschichte. Immerhin hat auch dieses Dorf eine Geschichte vor seiner Ersterwähnung in alten Akten. Der Ortsname verrät es ja schon, dass es – wie in Leipzig – die Sorben waren, die hier eine erste Siedlung am Elsterknie gründeten. Tonscherben, die jüngst bei einem Neubau an der Brückenstraße ergraben wurden, erzählen davon. Doch die liegen nun in Dresden beim Landesamt für Archäologie. So manches Buch ist in Leipzig noch ungeschrieben. Auch das der Vor-Geschichte all der Orte, die heute im Leipziger Stadtgebiet aufgegangen sind. Viele davon ganz alte slawische Gründungen.

Geschichte fasziniert immer wieder. Auch Menschen, die für ferne Sorben, Bischöfe oder gar Kaiser nicht so viel Interesse aufbringen. Aber wenn Geschichte vor der eigenen Haustür greifbar wird, ist das schon etwas anderes. Und so begrüßt der neue Wandkalender für 2015 die Zschocherschen mit einer Postkarte von 1926, die die Kirche ein paar Jahre nach ihrem Umbau zeigt. “Und das Besondere”, so Werner Franke. “Die Postkarte zeigt zum ersten Mal die beiden Apostelfiguren in den Nischen.” Die Nischen wurden schon beim neobarocken Umbau 1904 bis 1906 geschaffen. Aber die beiden Skulpturen sollte eigentlich Leipzigs Starbildhauer Max Klinger schaffen. Dazu ist er aber – ganz ähnlich wie beim Wagner-Denkmal – nie gekommen. So dass die beiden Apostel 20 Jahre später aus einer anderen Werkstatt kamen. “Welcher Bildhauer das war, das weiß ich noch nicht”, sagt Franke. Das müsse er noch erforschen. Aber die Namen kennt man: Petrus und Paulus.

Der Kalender lädt also ein zu einer kleinen Reise in jene Zeit ein, als Großzschocher zum Eingemeindungsfall für das größere Leipzig wurde. Damals stand noch Vieles von dem, was das Dorf über Jahrhunderte geprägt hatte. Das Schloss derer von Ponickau, das 1945 zerstört wurde, ist mit einer Ansicht von 1930 im Kalender das Januar-Bild. Im Februar zeigt sich das erste großstädtische Element in Großzschocher: der Schmuckplatz in der Huttenstraße. Im März sieht man die Buttergasse um 1930. Es folgen alte Straßenansichten aus der Gerhardt-Ellrodt-Straße, der Brückenstraße, der Trift- und der Libellenstraße. Alles Dinge zum Wiedererkennen. Oder zum Nicht-Wiedererkennen. Wie in der Dieskaustraße, Ecke Albert-Vollsack-Straße, wo in den 1980er Jahren ein ganzer alter Straßenzug abgerissen wurde.

Die Zickmantelsche Mühle ist auf einer Karte von 1930 noch unversehrt und voll funktionstüchtig. Nicht abzusehen, dass sie 14 Jahre später im Bombenhagel zu großen Teil zerstört werden wird. Und im Dezember verabschiedet sich das Jahr mit einem Blick auf die Elsterbrücke um 1930. Die damals noch recht neu war. 1910 hatte sie eine alte Holzbrücke ersetzt. Nicht auszudenken, wenn der heutige Verkehr über die Brückenstraße noch über eine Holzbrücke rollen müsste. Auszudenken aber war das Ende eines zwölf Jahre lang schwelenden Projekts, die Trasse der Brückenstraße übers Gelände der alten Mühle zu verlegen. Dem hat der Wohnungsbau auf dem Mühlengelände ein Ende bereitet. Die Pläne sind seit Januar vom Tisch.

Wer den Kalender wieder in seine Küche oder über seinen Arbeitsplatz hängen möchte, bekommt ihn zu Beispiel bei Werner Franke in der Herberge “Zur alten Bäckerei” (Zur Alten Bäckerei 12), Tel. (0341) 415300, für 8 Euro.

www.herberge-zur-alten-baeckerei.de

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