Es gibt sie zum Glück noch: die Ansichtskartensammler, die sich akribisch um ganz spezielle Sammelgebiete bemühen – den Ort zu Beispiel, in dem sie leben und jede Ecke kennen. Ihre Sammlungen sind Schätze für die Forschung, denn auf alten Ansichtskarten ist oft zu sehen, was in den Fotoarchiven der Museen nicht zu finden ist. Nun bekommt auch Plagwitz einen großen Bildband, der den Leipziger Ortsteil zeigt, wie er vor 100 Jahren aussah.

Damit setzt Pro Leipzig seine Reihe großer Ansichtskarten-Bildbände fort, in der unter anderem schon Connewitz, Lindenau, die Südvorstadt oder Wahren/Möckern vertreten sind. Bände, die jeder für sich natürlich auch eine kleine Geschichte der Ansichtskarte sind – und der Leipziger Ansichtskartenverlage, von denen es ganz große gab, die die ganze Welt im Bilder-Repertoire hatten, und ganz kleine. Auch in Plagwitz. Die bedienten dann das ganz spezifische Interesse der hier Wohnenden und Arbeitenden.

Und gearbeitet wurde in Plagwitz ja ganz gewaltig. Plagwitz war um die vorletzte Jahrhundertwende das industrielle Herz der Stadt.

Hier hatte der legendäre Karl Heine ja nicht nur die komplette Flur des kleinen Dorfes Plagwitz aufgekauft, sondern den Weg Leipzigs zur Industriestadt überhaupt erst geebnet, indem er hier Platz schuf zur Ansiedlung riesiger Fabriken, Gleisschneisen legte, sodass alle Güter auch sofort auf dem Schienenweg abtransportiert werden konnten, und auch den Traum eines Wirtschaftskanals bis zur Nordsee träumte.

Ein Traum. Der ja bekanntlich so groß war, dass ihn heute immer noch einige Leute träumen, die das Kanalprojekt unbedingt bis zur Saale weiterbauen wollen, obwohl heutige Lastenkähne nicht mal mehr durch den Kanal passen würden. Ganz zu schweigen von den massiven Wasserproblemen, die die Weiße Elster und die Saale längst haben.

Nur auf die Idee, einen touristischen Kanal zu bauen, wäre Heine nie gekommen. Dazu war er viel zu sehr Pragmatiker. Er wusste schon früh, was eine moderne Industriestadt brauchte. Einen Kanal am Ende nicht unbedingt. Aber Brücken, die das neue Industriequartier an die Leipziger Innenstadt anschlossen. Und natürlich Gleise für die Pferdebahn.

Schöne Grüße von 1900

Alles zu sehen auf den alten Ansichtskarten, die für die Menschen, die sie ab ungefähr 1890 in die Welt schickten, das modernste und preiswerteste Kommunikationsmittel waren, das es gab. Dazu auch noch von Sammlerwert, denn auf einmal konnte man die Bilder seines Ortes in die Welt verschicken. Für wenig Geld.

Viel schreiben musste man auch nicht, dazu war gar nicht genug Platz auf der Ansichtsseite, die bis 1907 als einzige beschriftet werden durfte. Und trotzdem bekam der Empfänger ein vollgültiges Paket voller Informationen – quasi die Twitternachricht des späten 19. Jahrhunderts. Mit Bild und 140 Zeichen. Oder 300, wenn jemand ganz klein schrieb.

Und die Bilder erzählten wie heutige digitale Nachrichten von einem klaren „Ich war hier“. Oder: „Das ist mein Zuhause“. Anfangs noch in kolorierten Lithografien, auf denen es oft blumig zuging und der Himmel immer blau war und Plagwitz ein romantisches Örtchen.

Das war der 1891 nach Leipzig eingemeindete Ortsteil da freilich schon lange nicht mehr. Denn die Energie für den Motor lieferte damals die Kohle. Hunderte Schornsteine ragten in den Himmel. Und eine Postkarte geht sogar humorvoll auf den Rußregen ein, der damals garantiert an etlichen Tagen auf Dächer, Plätze und Balkonwäsche herunterregnete.

Die Plagwitzer scheinen es mit Humor genommen zu haben, denn die rauchenden Schlote gaben ihnen Arbeit und Einkommen.

Weshalb sie wohl auch mit Stolz Ansichtskarten verschickten, auf denen die dicht an dicht gedrängten Fabriken zu sehen waren, Werkhallen mit riesigen Maschinenparks, aber auch Bilder von stolzen Arbeitern und Arbeiterinnen in ihrer schmutzigen Werkskleidung, stolz aufgestellt zum Belegschaftsfoto.

Alles in diesem Band zu sehen, der Plagwitz als etwas sichtbar macht, was es heute nicht mehr ist.

Ist Plagwitz noch zu retten?

Viele der einst eindrucksvollen Klinkerbauten sind natürlich erhalten. Denn Plagwitz hat relativ wenig unter den Bombardements des 2. Weltkrieges gelitten. Wirklich flächenmäßige Abrisse gab es erst ab 1990, als der gesamten Industrie hier der Stecker gezogen wurde und zehntausende Menschen über Nacht ihre Arbeit verloren.

Was jetzt klingt wie ein Trauerlied. Aber lange wäre das sowieso nicht mehr gegangen. Die Maschinenparks waren veraltet, die Produktion nicht konkurrenzfähig. Und neben den noch immer qualmenden Fabriken verfiel die Bausubstanz.

Noch 1999 hätte man die Frage stellen können: „Ist Plagwitz noch zu retten?“ Und manch einer zweifelte, dass Leipzig, das binnen zehn Jahren über 100.000 Einwohner verloren hatte, je wieder die Kurve kriegen würde. Aber mit der EXPO 2000 war auch ein Teil von Plagwitz Modellprojekt für Stadtumgestaltung, wollte Leipzig hier im heruntergekommenen ehemaligen Arbeiterkiez zeigen, dass man Stadt auch anders denken konnte.

Und es funktionierte. Links und rechts vom Karl Heines Kanal entstand eines der beliebtesten Wohnquartiere der Stadt – teils durch die längst überfällige Restaurierung der 100 Jahre alten Wohnsubstanz, teils durch Umnutzung der gigantischen Fabrikpaläste wie an der Nonnenstraße.

Diese spätere Geschichte erzählt der Band natürlich nur punktuell. Denn dazu gibt es kaum Ansichtskarten. Mit dem Ende des 2. Weltkrieges ging auch die Geschichte der meisten Ansichtskartenverlage zu Ende.

Alles wurde sozialistisch planmäßig gebündelt – was dann auch eine gewisse Einförmigkeit im Ansichtskartenangebot mit sich brachte. Oder einst beliebte Postkartenmotive völlig verschwinden ließ aus dem Angebot. Ganz so, als wäre eine Identifikation mit diesen Orten nicht mehr gewünscht.

Und dabei gehörte der Felsenkeller vorher immer zu den beliebtesten Fotomotiven aus Plagwitz, ganz ähnlich wie der Palmengarten mit dem Karl-Heine-Denkmal davor, die Post, das Rathaus, die Kirche und das Gosen-Schlösschen.

Plagwitz hatte ja alles, was der Mensch zum Leben brauchte. Die Konsumgenossenschaft hatte hier in der Weißenfelser Straße ihren ersten Laden und errichtete dann später ihre gigantische Zentrale mit eigener Großbäckerei an der Jahnstraße, der heutigen Industriestraße.

Straße für Straße

Vieles erkennt auch der heutige Besucher von Plagwitz wieder. Aber da die Ansichtskarten in einer Zeit entstanden, in der noch nicht alles fertig war, sieht man auch noch Dinge, die heute verschwunden sind – wie die Mündung der Rödel in die Weiße Elster, Najorks Fabrik an der Zschocherschen Straße oder die Brücke übers Pleißeflutbett.

Dass man hier weit in der Zeit zurückgereist ist, sieht man schon an den Straßen, auf denen viele dunkle Haufen davon erzählen, dass Pferdegespanne das Haupttransportmittel waren. Besonders eindrucksvoll die riesigen Wagen, mit denen die Gose ins Gosen-Schlösschen gebracht wurde.

Die übrigens nicht die einzige Restauration mit großem Freisitz unter Bäumen war. Auch damals saßen die Plagwitzer schon gern draußen unter Bäumen, wenn sie ihr Bierchen trinken wollten.

Und es gab eindeutig mehr Kneipen, Cafés und Bäckereien. Straßen wie die Karl-Heine-Straße und die Zschochersche Straße waren dicht an dicht mit Läden besetzt. Es gab die Bekleidungsgeschäfte genauso wie die Schuster, Schneider und Butterläden.

Die wichtigsten Straßen (Nonnenstraße, Zschochersche Straße, Karl-Heine-Straße und die Erich-Zeigner-Allee (damals Elisabethallee), Weißenfelser und Merseburger) haben in diesem Band jeweils ein eigenes Kapitel bekommen, genauso „das alte Dorf“, also jener kleine Kern, aus dem binnen weniger Jahre eine eigene selbstständige Gemeinde gewachsen ist – samt Kirche, Rathaus und Schule.

Kaum Platz für Grün

Natürlich gehört der Palmengarten nicht mehr zu Plagwitz. Und die Rödel auch nicht. Aber die große Karte im Buch zeigt auch, wie komplett die alte Plagwitzer Flur mit Wohnquartieren und Fabriken zugebaut wurde. Da war so gut wie kein Platz mehr für öffentliches Grün. Wer hier wohnte, war immer mit dem Lärm der Fabriken konfrontiert. Die haben – als „Plagwitzer Fabrikviertel“ – ein eigenes Kapitel bekommen.

Und besonders gewürdigt wird auch die Brauerei Naumann, die in Plagwitz Bier herstellte – nach Enteignung und Umbenennung bis nach der „Wende“. Nur noch Teile der Brauerei existieren heute noch, zu Wohnungen umfunktioniert in einem neuen Wohnquartier.

Aber die Brauerei ist ja nicht nur durch ihr Bier in Erinnerung geblieben. Sie schuf ja auch mit dem Felsenkeller das größte und beliebteste Ausflugslokal auf Plagwitzer Flur.

Wer auf Seite 92 das Bild der Elisabethallee betrachtet, sieht auch sehr eindrucksvoll, dass die breiten Bürgersteige nicht für parkende Autos gebaut wurden. Nicht grundlos tragen einige Straßen in Leipzig den Namen Allee.

Dass sie zum Spazierengehen und Erholen gedacht waren, sieht man heute kaum noch, weil die eigentlichen Flaniermeilen mit Autos zugeparkt sind. Etwas, was den Stadtplanern damals gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Weit und breit sieht man auf den frühen Ansichtskarten keine Autos, nur Pferdefuhrwerke, ein paar Radfahrer und sehr viele Fußgänger.

Die Leute gingen tatsächlich meistens zu Fuß, wenn sie nicht gerade die Straßenbahn nutzten, die ja ab 1896 elektrifiziert wurde und damals auch noch durch die Weißenfelser Straße fuhr und ein Depot in Plagwitz hatte.

Es passt ganz schön viel in so einen Ortsteil. Und das Leben hat einen völlig anderen Rhythmus, wenn alles fußläufig erreichbar ist und zu Hause kein Fernsehapparat quengelt. In die Häuser kann man zwar nicht hineinschauen. Aber das Brausebad auf dem Karl-Heine-Platz erinnert daran, dass die meisten Plagwitzer in ihren Wohnungen kein Bad hatten.

Aber auch – für Plagwitz – sensationelle Ereignisse wurden auf Postkarten festgehalten – so wie das Hochwasser von 1909, das in Plagwitz mehrere Straßen überschwemmte, oder der Brand der Konsum-Bäckerei 1903.

Für viele Jüngere wird dieser Band die Bekanntschaft mit einem Plagwitz ermöglichen, das es heute so nicht mehr gibt, auch wenn viele markante Gebäude und Straßenzüge noch erhalten sind. Sie sind die Richtmarken, an denen man sich orientieren kann und da und dort noch ein klitzekleines Gefühl dafür entwickeln kann, wie es hier einmal aussah.

Zu jedem Motiv gibt es eine kleine Erläuterung, die die Orte identifiziert, die auch an einst weltbekannte Unternehmen erinnert und längst vergessene Gaststätten und Ladeninhaber.

Fast bekommt man Lust, einfach Hut und Mantel, zu schnappen und in eins der so verlockend angepriesenen Lokale zu spazieren. „Guten Abend, Herr Wirt, ein Naumanns bitte!“ Aber Burgkeller und Gosen-Schlösschen laden schon lange nicht mehr ein. Na dann eben ins Naumanns im Felsenkeller. Es ist nicht alles verschwunden.

Wilfried Grylla, Thomas Nabert „Plagwitz. Ein Leipziger Ortsteil auf alten Ansichtskarten“, Pro Leipzig, Leipzig 2022, 21 Euro.

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