Man dreht sich um und schaut und staunt: Wo bin ich hier? - Einem Connewitzer aus dem Jahr 1911 würde es genau so gehen, stünde er heute am Kreuz und schaute sich um. Verschwunden die stolze Häuserfront zwischen Scheffelstraße und Arthur-Nitzsche-Straße, dasselbe von der Arthur-Nitzsche-Straße zur Bornaischen. Verschwunden auch der dominierende Bau an der Kreuzung mit der Commerzbank unten drin.

Rund 500 Postkarten aus der Zeit von 1890 bis 1970 haben Oswald Müller und Thomas Nabert für diesen Bildband zusammengestellt. Einen solchen Band hat Pro Leipzig auch für Großzschocher-Windorf herausgebracht. Wie groß der Fundus von Postkarten insbesondere aus der Zeit zwischen 1890 und 1930 ist, zeigte ja schon der dicke Band “Bilderbogen” von Pro Leipzig.

Dass die Bilderflut auch kanalisiert werden kann und einen ganzen Ortsteil in seiner ursprünglichen Unzerstörtheit vor den Bombardements des 2. Weltkrieges zeigen kann, war im Band für Großzschocher-Windorf recht eindrucksvoll zu sehen. Die Idee, so ein Projekt auch für andere Ortsteile umzusetzen, lag also nahe. Die Karten erzählen eigentlich kommentarlos ihre Geschichte. Wenn man weiß, was sie darstellen. Denn die Faszination für Ansichtskartensammler wie Oswald Müller geht ja von den alten Schmuckstücken nicht nur aus, weil sie den Glanz der “guten alten Zeit” zeigen. Das auch.

Auch Connewitz wuchs und gedieh in den Jahren, als Leipzig sich zur Großstadt mauserte. Aus dem Dorf wurde – auch das durch etliche Karten gut dokumentiert – erst ein beliebter Ausflugsort mit einer reichen Gastronomielandschaft und dann nach und nach ein recht formidabler Stadtteil, in dem die Häuser höher wurden, Lücke für Lücke geschlossen wurde und der Platz um das Connewitzer Kreuz tatsächlich ein richtiger Stadtplatz wurde.

Hier würde der historische Betrachter stehen und sich wundern. Und vielleicht auch nicht verstehen, warum die gewaltigen Lücken, die die Bombenteppiche des Weltkrieges gerissen haben, bis heute nicht wirklich wieder geschlossen sind, warum der Platz auch nicht mehr wie ein Platz wirkt, obwohl das stilvolle Volksbrausebad noch immer in der Grünfläche steht – heute als Café Südbrause. Gerade in Richtung Waisenhausstraße, der heutigen Arno-Nitzsche-Straße, wirkt die Bebauung provisorisch. Auch wenn die einstige 14. Bürgerschule, die zwischendurch mal Herderschule hieß und heute Apollonia-von-Wiedebach-Schule, noch steht und an den Stolz der alten Bürgerstadt erinnert.

Die originale Herderschule stand einmal in der Herderstraße. Heute erinnert dort nichts mehr an die verschwundene Schule. Der Herderplatz ist ein Spielplatz geworden und der Knobloch-Spruch gilt: misstraut den Grünflächen. Auch in Connewitz. Denn mancher Mangel – wie der heute bei den Schulgebäuden – hat hier seine Ursachen. Die alten Ansichten erinnern auch an eine Stadt, die nicht auf die knauserigen Fördergelder zweier Regierungen angewiesen war, die von notwendigen Investitionen nichts wissen und nichts verstehen.

Denn Nostalgie – die in etlichen dieser zuweilen recht üppig verzierten Karten natürlich auch zu finden ist, ist das eine – das andere sind Blicke in eine Zeit, in der diese Karten auch dazu dienten, für das zu werben, was Menschen da geschaffen hatten. Nicht ohne Grund gibt es ganze Kapitel wie “Mein Haus, mein Laden, meine Villa”, “Eispartie, Stechkahnfahrt und Wildfütterung” und “Wassergott, Wald-Café und Meierhof”, die an das Leben und Treiben in diesem Ortsteil erinnern. Er lag damals eben nicht nur an Wald und Wasser – er war einer der beliebtesten Ausflugsorte am Rand der Stadt. Erst recht, weil man hier bequem mit der Straßenbahn hinkam – und auch weiterschunkeln konnte Richtung Markkleeberg. Auf der Pleiße konnte man nicht nur gondeln, man konnte auch drin baden, denn das Wasser war – im Gegensatz zu heute – noch nicht mit belasteten Sedimenten gepuffert.

Das Vereinsleben war wesentlich bunter – in Turn-, Schreber- und Musikvereinen traf man sich auch, weil man Geselligkeit noch etwas anders verstand. Die große Zeit der Kinos begann gerade (die erstaunlich karg auftauchen in diesem Buch), Kino, Radio und Quasselapparate “to go” waren noch nicht erfunden. Und in der Biedermannstraße wurde Kronen-Bier gebraut.

Straßen wie die Bornaische und die Wolfgang-Heinze-Straße waren von kleinen Ladengeschäften geprägt. Man kann hineinschauen in die Wolfgang-Heinze-Straße, die damals noch Pegauer hieß, und sieht eine Tram, einen Radfahrer, ein Pferdefuhrwerk – der Rest der Bevölkerung ist hier sichtlich zu Fuß unterwegs.

Man spaziert mit den Postkarten auch in die Waisenhausstraße hinein, die natürlich benannt war nach dem 1901 / 1902 erbauten Waisenhaus, das heute das Haus der Demokratie ist und dem sichtlich ein paar Erker und der Dachreiter fehlen – auch hier schlugen im zweiten Weltkrieg Bomben ein.

Einige Postkarten zeigen logischerweise auch die Veränderungen des alten Dorfes hin zum bürgerlichen Stadtteil – mal ist noch die alte Gärtnerei und daneben das Sägewerk am Kreuz zu sehen, mal kommt die noch unfertige Bornaische Straße an der Wendeschleife der Tram ins Bild, mal das alte Dorf an der Prinz-Eugen-Straße oder die alte Mühle, die es genauso gab wie den Gose-Ausschank an der Straßenbahn-Endstation an der Koburger Brücke. Man begegnet noch einmal den gewaltigen Ballsälen und den eindrucksvollen Biergärten der Zeit – und dem legendären “Sächsischen Haus”, das zuletzt “Schorschl” genannt und 1995 abgerissen wurde.

Natürlich kann man da nostalgisch werden. Man kann auch nachdenken über heutige Stadtgestaltung, über die architektonische Gestaltung von Lebensräumen, wie es Ortsteile nun einmal sind. Und auffällig ist, dass eine Stadt, die für Fußgänger gebaut wurde, auch anders wirkt als eine, in der die Planer das Automobil im Fokus haben. Irgendwie gemeinnütziger und zugänglicher und vor allem: nicht so zugestellt.

Oswald Müller / Thomas Nabert “Connewitz. Ein Leipziger Ortsteil auf alten Ansichtskarten”, Pro Leipzig, Leipzig 2011, 17 Euro

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