Die Zeit vergeht. Und wir können nichts daran ändern, auch wenn die Zukunft riesig weit zu sein scheint, wenn man ein neues Projekt beginnt. So etwas wie einen eigenen Kalender für den Ortsteil Großzschocher. Das war im Jahr 2004 einzigartig für Leipzig. Und das ist es auch 2023 noch, auch wenn Werner Franke, der diesen Kalender 20 Jahre lang herausgegeben hat, jetzt sagt: Es ist genug. Der Kalender für 2024 ist der letzte.

Wobei die Entscheidung ihm nicht leicht gefallen ist. Doch die „äußeren Umstände“ haben mitgeholfen, jetzt den Schlussstrich zu ziehen. Die Papierpreise sind ja nicht nur für Zeitungen massiv in die Höhe geschnellt. Sie machen auch einen solchen liebevoll gestalteten Kalender mit Ansichten von Großzschocher letztlich unbezahlbar. Und auch seine langjährige Druckerei – Stempel + Druck Otto in Kleinzschocher – hat mittlerweile geschlossen.

Da fiel es ihm nicht schwer, mit dem 20. nun auch den letzten Wandkalender für Großzschocher zu gestalten, gefüllt mit den schönsten Ansichtskarten aus dem Ortsteil im Leipziger Südwesten, die daran erinnern, dass auch das Gestalten von Ansichtskarten einmal eine Kunst war und auf historischen Ansichtskarten ein ganzes Stück Ortsgeschichte verewigt ist.

Ein einzigartiges Ortsteil-Museum

Viele dieser Karten und andere ältere Ortsansichten hat er in seinem kleinen Ortsteil-Museum „Heimatblick“ gesammelt. Nebst hunderten anderen Sammelstücken zur Geschichte von Großzschocher. Ein Fundus, der ja bekanntlich schon dazu diente, auch die von der Interessengemeinschaft Großzschocher-Windorf herausgegebenen großen Chronikbände bei Pro Leipzig zu bebildern.

Am Ende waren es acht Stück – eine echte Ausnahmepublikation für Leipzig. Die freilich auch von der rührigen Arbeit der Interessengemeinschaft Großzschocher-Windorf erzählt, die zwar keine weiteren Chronikbände mehr herausgibt („Irgendwann ist mal genug.“), sich aber trotzdem noch regelmäßig im „Heimatblick“ trifft, um mit eingeladenen Fachleuten Neues über all die Dinge zu erfahren, die einen Ortsteil so beschäftigen. Der Umgang mit dem Mühlgraben etwa, den die Stadt in naher Zukunft wieder als natürlichen Bachlauf gestalten will, über die Pflege des Waldes oder die Unternehmen, die in Großzschocher und Windorf natürlich noch zu Hause sind und gar nicht daran denken, den Ort zu verlassen.

Und eine reiche Auswahl der Ansichtskarten fand auch in einem großformatigen Band „Ein Ortsteil in alten Ansichtskarten“ von Pro Leipzig ihren Platz. Eine Auswahl, die zeigte, wie sehr Großzschocher um 1900 herum eines der beliebtesten Ausflugsziele der Leipziger war. Man setzte sich einfach im Sonntagsstaat in die Straßenbahn und kehrte dann in einem der großen Gasthöfe ein – im Gasthof Windorf etwa, in der Obstweinschenke Kiessig (später Würzburger Hof und Ratskeller), im Café Frosch, im Gasthof zur Brauerei oder im Gasthof zum Trompeter.

Alle auch in diesem Kalender für das Jahr 2024 enthalten – meist recht lütt, da sich die Postkartenverlage vor 120 Jahren ja bemühten, möglichst mehrere Sehenswürdigkeiten auf einer Ansichtskarte unterzubringen. Und ein bisschen Platz für einen schriftlichen Gruß musste ja auch noch bleiben, denn nur die Vorderseite (mit den Bildern) durfte beschrieben werden.

Was die Karten umso interessanter machte für all die Ausflügler, die dann bei einem gepflegten Bier, einer Brause oder einer Tasse Kaffee schöne Grüße an die Daheimgebliebenen in Leipzig oder anderswo schrieben. Kurz und knapp und im Gefühl, trotzdem mal herausgekommen zu sein aus der großen, lauten Stadt.

Ein Stück Ortsgeschichte an der Wand

Wer also den 2024er-Kalender erwirbt, bekommt seine kleine Zeitreise quasi dazu, mitten hinein in einen Ortsteil, der erst vor 101 Jahren nach Leipzig eingemeindet wurde, obwohl die Straßenbahn schon seit 1896 bis Großzschocher/Huttenstraße fuhr. Was nicht nur beliebter Aussteigepunkt für Sonntagsausflügler war, sondern auch Einsteigepunkt für all die Menschen, die in den Betrieben des Leipziger Westens Arbeit gefunden hatten, aber in Großzschocher wohnten.

Die Ansichtskarten zeigen natürlich eher das sonntägliche Leben. Die Ruhe, wenn die Menschen ihre Muße haben und Spazierengehen als Geschenk begreifen. „Nicht immer war es leicht, passende Themen und entsprechendes Material zu finden“, entschuldigt sich Werner Franke geradezu in seinen Abschiedsworten im Kalender. Das war immer sein eigener Anspruch: Jeder Kalender sollte etwas Besonders zeigen, besondere Themen und Motive.

Und dabei waren die Käufer des Kalenders schon dankbar dafür, dass sie jedes Mal dreizehn eindrucksvolle Motive aus Werner Frankes großem Archiv boten. Und dazu kleine Erläuterungstexte, die erklärten, was man sah. Denn auch in Großzschocher hat sich in den vergangenen Jahren vieles verändert. So sonntäglich still wie auf den Bildern um 1900 ist es schon lange nicht mehr. Und die großen Gasthöfe mit ihren einladenden Biergärten gibt es auch nicht mehr.

Ab wann interessiert man sich wirklich für Geschichte?

Wer sich trotzdem für die 805-jährige Geschichte von Großzschocher interessiert, kann jederzeit den „Heimatblick“ an der Straße zur Alten Bäckerei besuchen, lädt Werner Franke ein. Der „Heimatblick“hat zwar keine offiziellen Öffnungszeiten. Aber man kann sich anmelden. Und wenn man sich gar mit einer ganzen Gruppe anmeldet, kann man auch eine Führung mit Vortrag von Werner Franke erleben, den die Beschäftigung mit der Geschichte seines Ortes nicht loslässt. Einen Nachfolger, der das mit so viel Liebe aufgebaute Museum weiterbetreuen wird in der Zukunft, hat er noch nicht.

Aber vielleicht liegt das auch einfach daran, dass sich jüngere Leute meist noch im Berufsleben aufreiben und das Interesse für den eigenen Wohnort erst mit zunehmendem Alter wächst, wenn man sich bewusst wird, wie Generationen von Menschen, die man kannte, die Geschichte des Ortes geprägt haben. Da will man es dann wissen. Und dann ist es ein Goldschatz, wenn man so eine Sammlung wie im „Heimatblick“ findet und einen antrifft, der einem (fast) alles erzählen kann über die zumindest etwas jüngere Vergangenheit.

Und wenn man seinen Kalender „Großzschocher 2024“ nicht an einer der bekannten Verkaufsstellen in Großzschocher findet, bekommt man ihn direkt vor Ort in der „Herberge zur alten Bäckerei“, die mit ihrem Namen auch daran erinnert, dass es hier tatsächlich einmal eine Bäckerei gab.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar