So schnell wird aus einer guten Idee ein kleines Jubiläum. Im Umfeld der emsigen Sammelarbeit für das kleine Großzschocher-Museum "Heimatblick" und die bei Pro Leipzig erschienenen opulenten Bände "Großzschocher-Windorf. Aus der Geschichte eines Leipziger Ortsteils" begann Werner Franke vor zehn Jahren, auch einen Kalender für Großzschocher aufzulegen, gespickt mit Bildern aus seinem wachsenden Archiv.

Aber es sollten nicht einfach nur jedes Jahr 13 neue Motive sein, die den Ortsteil im Leipziger Südwesten bunt abbildeten. Der schmale, gut für Notizen geeignete Kalender, sollte den Käufern auch immer wieder einen neuen Blick ermöglichen – auf den Ortsteil, die spannenden Bilderbestände oder einige ausgewählte Themen, die das Leben in Großzschocher und Windorf sichtbar machen. Mal widmete sich Franke den heimischen Malern (die den noch fast dörflichen Charakter des Ortsteils immer wieder gern mit Farbe und Pinsel festhielten), mal bestimmten Epochen – den 1930er Jahren zum Beispiel.

Im Kalender für 2014 hat er das Dia-Archiv einer langjährigen Fotografin aus Großzschocher genutzt: Gerda Bamberg. Ihre Tochter Toni Wacker hat das Bildarchiv mit Fotografien aus den 1950er und 1960er Jahren zugänglich gemacht. Sie zeigen wieder ein Kapitel des Ortsteils, wie es heute nicht mehr zu sehen ist. Denn noch schlimmer als die Bomben der Jahre 1943 und 1944 wütete im Straßenbild die nachfolgende Vernachlässigung der Bausubstanz. Der Verfall und der folgende Abriss, sie wüteten in bis dahin noch erhalten gebliebenen Straßenzügen. Die älteren Zschocherschen werden viele “alte Bekannte” wiedererkennen, beginnend im Januar mit dem alten Hirtenhaus, das heute nur noch als Trümmerhaufen zu finden ist, über die Reihe alter Bauernhäuser an der Brückenstraße, die man heute vergeblich sucht. Ein Teil dieses Straßenstücks ist heute Schulgarten – auf einem anderen will die Firma Gerlach eine Lagerhalle errichten.Doch schon das birgt eine erste Überraschung. Denn dieser Teil der Straße gehört zum ganz alten Kern der Gemeinde Großzschocher, die im Jahr 2017 den 800. Jahrestag ihrer Ersterwähnung feiert. Ein Termin, bei dem Werner Frankes Augen zu leuchten beginnen. Denn wie wird man ein solches Jubiläum am besten würdigen, wenn nicht mit einem neuen Buch? Die Arbeitsgruppe zur Zschocherschen Chronik hat ja nach Erscheinen des vierten “Ergänzungsbandes” zur Ortschronik nicht wirklich die Arbeit eingestellt. Die Geschichte ihres Ortsteils hält das Dutzend emsiger Heimatforscher weiter zusammen. Regelmäßig treffen sie sich im “Heimatblick”, stellen neue Forschungsergebnisse vor oder lassen sich von einem neuen Thema in Bann ziehen.

Und Stoff haben sie eigentlich genug, um weitere Bände zu füllen. Ein echter Jubiläums-Band ist da ein fesselndes Arbeitsziel. Mit Pro Leipzig, bei dem auch die anderen Bände erschienen, dazu ein Band mit alten Postkarten und einer mit heutigen Ortsansichten, ist man dabei längst im Kontakt. Denn zum Jubiläum bietet sich natürlich an, die ältere Geschichte Großzschochers aufzuarbeiten. “Die neuere der letzten 200 Jahre haben wir praktisch komplett”, sagt Franke. “Aber was davor war, ist bislang kaum erforscht.”Aus gutem Grund: Denn das macht Arbeit. Da muss man in die Archive von Kirchen, Verwaltungen, Ländern, muss in Grund- und Zinsbüchern wühlen, mit Kirchenbüchern abgleichen, sammeln und sortieren. Oder ausgraben, wenn es dazu die Gelegenheit gibt. Und die gab es in diesem Sommer tatsächlich mit den Bauplänen der Firma Gerlach. Schnell stellte sich heraus, dass das abgerissene Gebäude an der Brückenstraße zum alten Siedlungskern des Dorfes gehörte, das auch im Namen ja schon zeigt, dass es keine neuzeitliche Gründung ist, sondern eine aus der slawischen Besiedlungsperiode. Auch wenn die Leipziger Namenskundler Ernst Eichler und Hans Walther nicht so recht sicher sind, aus welcher Wortwurzel dieses Zschocher nun eigentlich kam. Naheliegend könnte die Deutung “Ort, an dem Flachs geriffelt wurde” sein.

Aber Flachs war es nicht, was Sachsens Archäologen nun an der Brückenstraße fanden, sondern Scherben waren es, die ihnen eine erste zeitliche Verortung des Siedlungsplatzes um 800/900 ermöglichten. Als Großzschocher dann im Jahr 1217 als Patronat der Thomaskirche zugeschlagen wurde (2012 hat Leipzig ja gerade “800 Jahre Thomana” gefeiert”), hatte das Dorf mit seinen reichen Äckern also schon mindestens 300 Jahre Siedlungsgeschichte auf dem Buckel.

Natürlich sieht man auf den alten Fotos der 1950er Jahre nicht die slawischen Wohnhäuser, sondern die späteren Bauernhäuser, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch standen. “Da ist einiges zu sehen, was ohne größere Mühe gerettet hätte werden können”, sagt Franke. Doch die Schwerpunkte in der Bauwirtschaft der DDR lagen woanders. Und so büßte Großzschocher viele markante Bauwerke ein. Das Schloss freilich schon in den Bombennächten 1943/1944. Eine Aufnahme auf dem März-Kalenderblatt muss also schon in den 1940er Jahren entstanden sein, auch wenn das Schloss in Teilen auch nach Kriegsende noch nutzbar war.

Im April und Mai kann man sehen, was heute von der historischen Bebauung in der Buttergasse verschwunden ist. Im Juli rückt das Fachwerkhaus mit dem Namen “Druckrolle” ins Bild, was Großzschocher nicht als Buchdruckerdorf kenntlich macht, sondern als einen Ort der Herstellung von landwirtschaftlichen Maschinen.

Alte Post und Apostelkirche rücken im August ins Bild, und der September zeigt das ortsbildprägende Gasthaus “Zum Trompeter” noch in seinem Erhaltungszustand der 1950er Jahre – der hätte mit ein bisschen Müh durchaus gerettet werden können. Genauso wie das “Klubhaus LES” – das spätere “Arthur Nagel” (Oktober). Der November zeigt die noch fast komplette Pappelallee nach Knauthain. “Heute stehen davon nur noch zwei Pappeln”, sagt Franke. Und im Dezember zeigt ein Blick in die Wingertgasse, wie bäuerlich das Zschochersche Schwesterdorf noch bis vor Kurzem war.

Den neuen Großzschocher-Kalender bekommt man für 8 Euro bei Werner Franke in der Herberge “Zur alten Bäckerei”.

www.herberge-zur-alten-baeckerei.de

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