John Eliot Gardiner gilt in der Klassik-Welt als Exot. Man glaubt es kaum: Der Meister Alter Musik, der selbst so nicht betitelt werden möchte, bewirtschaftet neben dem Dirigieren im provinziellen Dorset einen Öko-Bauernhof. Im Gewandhaus haucht der Maestro am Donnerstag Werken von Brahms, Mendelssohn und Schein Leben ein.

Der exzentrische Präsident des Bach-Archivs Leipzig erfindet mit dem Gewandhausorchester das Rad nicht neu. Das Konzertprogramm spielte Gardiner in weiten Zügen schon 2012 auf CD ein. Natürlich mit vokaler Unterstützung des von ihm 1964 gegründeten Monteverdi Choir.

Gardiner präsentiert Brahms’ 1. Sinfonie c-Moll als Höhepunkt von dessen Chorsinfonik. Lange hatte der gebürtige Hamburger (1833 – 1897) während seiner erfolgreichen Wiener Jahre an dem schweren Erbe zu knabbern, das ihm Beethoven hinterlassen hatte. Zu allem Überfluss sah manch musikalischer Zeitgenosse in dem Norddeutschen dessen legitimen Nachfolger. Zwar begann Brahms die Arbeit an der Sinfonie bereits 1862. Bis zur Uraufführung sollten jedoch 14 Jahre vergehen.

Gardiner beginnt das Programm mit Brahms’ “Begräbnisgesang”. Der Monteverdi Choir singt durchweg euphorisch, interpretiert manch Verszeile äußerst kraftvoll, geradezu besessen von dem Rausch, den Brahms Komposition entfaltet. Die fünfstimmige Motette “Da Jacob vollendet hatte” von Thomaskantor Johann Hermann Schein (1586 – 1630), die erst nachträglich ins Programm rutschte, hört sich als Kontrast dazu geradezu rau bis abgenutzt an. Ein Hörerlebnis, das ein wenig zum Stirnrunzeln einlädt.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) funktioniert dagegen in Leipzig eigentlich immer. Gardiner stellt die Dramatik der achtstimmigen Motette “Mitten wir im Leben sind” gar nicht erst in Frage. Die sakrale Wirkung der Töne darf sich im Gewandhaus genüsslich ausbreiten. Erster Höhepunkt des Abends ist Brahms’ “Schicksalslied”. Die sinfonische Vertonung des gleichnamigen Hölderlin-Gedichts vollendete der Komponist 1871. Das Werk trägt klanglich bereits Züge eines ausgereiften Sinfonie-Satzes. Die Streicher transportieren die nihilistische Grundstimmung der Hölderlin-Dichtung vortrefflich in den Saal. Der Chor agiert selbstbewusst, singt dramatisch und doch betont präzise. Die Zuhörer sind angetan, spenden dem Ensemble viel Applaus.

Die 1. Sinfonie gestaltet sich zunächst als spannender Hör-Krimi. Stakkatohafte Töne wechseln im ersten Satz mit langgezogenen Streicher-Sequenzen. Gardiner füllt das Gewandhaus mit einem melodischen Klangteppich, der durch das sichere Zusammenspiel aller Mitwirkenden – von den 1. Violinen bis zur Pauke – bestechen kann. Im melodramatischen zweiten Satz darf Konzertmeister Frank-Michael Erben seine Virtuosität mit Bravour unter Beweis stellen. Im Dritten verzückt das virtuose Zusammenspiel beider Violin-Stimmen eine Zuhörerin fast zu einem spontanen Beifall.

Der vierte Satz gerät zum Höhepunkt des Abends. Sicher ist dies die musikalisch spannendste Stelle des Werks. Der angedeutete Choral, das Waldhorn-Motiv, die Reminiszenz an Beethovens “Neunte”. Der Satz hat für aufmerksame Ohren jede Menge zu bieten. Gardiner erzeugt mit dem Orchester ein geradezu durch und durch vollkommenes, rundum sättigendes Klangbild.
Kaum ist der letzte Ton erloschen, vernimmt der Zuhörer im lautstarken Applaus vereinzelte “Bravos”. Ein Jammer, dass man im Konzertsaal nicht wie am heimischen CD-Player auf die Wiederholungstaste drücken kann. Hätte Gardiner entgegen der Gepflogenheiten dem Publikum die nochmalige Aufführung des fulminanten Schlusssatzes als Zugabe angeboten, kaum einer wäre vorzeitig gegangen.

Weitere Termine: 28.11., 29.11.*

*Benefizkonzert: Robert Schumann, Konzert für Violine und Orchester d-Moll; Johannes Brahms, 1. Sinfonie c-Moll

MDR Figaro sendet am 5. Dezember ab 20:05 Uhr eine Aufzeichnung des Programms vom 27./28.11.

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