Eigentlich hätte Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP) für seinen Vorstoß am Dienstag, 17. April, Beifall bekommen sollen. Er bezifferte nicht nur die Zahl der bis 2025 in Sachsen fehlenden Fachkräfte auf 215.000. Er stellte auch die "Fachkräftestrategie" der Landesregierung vor, mit der sie gegensteuern will. Und als erstes Handlungsfeld wurde da genannt: "Frühkindliche- und (außer-)schulische Erziehung und Bildung".

Er bekam natürlich eher wenig Beifall, aber viel Kritik von der Opposition. Denn die definierten Handlungsfelder sind weder mit Personal, noch mit genug Geld untersetzt. Seine Beiträge zu den Nebenkosten in den Kindertagesstätten hat der Freistaat seit Jahren gedeckelt, das beitragsbefreite Vorschuljahr hat die aktuelle CDU/FDP-Regierung gleich nach Regierungsantritt wieder gekippt. Entsprechend wenig Geld steht für Betreuungspersonal in den Kindertagesstätten zur Verfügung. Mit der Folge, dass der Betreuungsschlüssel hoch ist. Da bleibt wenig Zeit, noch emsig an der frühkindlichen Bildung zu arbeiten.

Das Thema “Betreuungsschlüssel” wird von den Betroffenen dabei seit Jahren immer wieder auf politischer Ebene angemahnt. Doch nichts passiert.

Am Freitag, 20. April, nahm die Liga der Freien Wohlfahrtspflege gemeinsam mit der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und den Elternverbänden deshalb die Kampagne “Weil Kinder Zeit brauchen” wieder auf.

“Unsere Geduld ist am Ende”, sagte der Vorsitzende der Liga der Freien Wohlfahrtspflege und Vorstandsvorsitzende des DRK Sachsen, Rüdiger Unger. “Seit Jahren fordert nicht nur die Fachwelt in Wissenschaft und Praxis einen besseren Personalschlüssel für die sächsischen Kitas. Eltern sammeln Tausende Unterschriften, Kitas laden Abgeordnete ein und zeigen die Probleme vor Ort. Alle Verantwortlichen stimmen uns zu und trotzdem passiert nichts. Das Bildungsland Sachsen steht nicht nur in Schulfragen am Scheideweg. Frühkindliche Bildung ist der Schlüssel für weiteren Bildungserfolg. Wir haben einen exzellenten Kita-Bildungsplan in Sachsen. Gleichzeitig trägt Sachsen mit den zweitschlechtesten Personalschlüsseln bundesweit den Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf dem Rücken der Fachkräfte und letztlich unserer Kinder aus. Das muss aufhören.”
Die Wohlfahrtsverbände tragen die Kampagne “Weil Kinder Zeit brauchen” gemeinsam mit der GEW Sachsen und den Elternverbänden Dresdens, Leipzigs und Chemnitz?. Sie soll ein öffentliches Bewusstsein schaffen für die notwendigen Verbesserungen der Kita-Rahmenbedingungen. Mit eigenen Plakaten, Postkarten und vielen Aktionen sowie Veranstaltungen vor Ort werden die etwa 1.000 sächsischen Kindertageseinrichtungen in freier Trägerschaft Mandats- und Entscheidungsträger des Landes und der Kommunen mit der Problemstellung konfrontieren und die Öffentlichkeit informieren. Über GEW und Eltern nehmen auch die kommunalen Kitas an der Kampagne teil.

Und weil das Thema zumindest bei den Oppositionsparteien nicht vergessen wurde, gab’s auch gleich am Freitag die Zustimmung von dort.

“Die SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag unterstützt die Kampagne der LIGA der Wohlfahrtverbände ?Weil Kinder Zeit brauchen.?”, betonte Dr. Eva-Maria Stange, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. “Ziel der Kampagne ist die Verbesserung des Personalschlüssels in Sachsens Kindertagesstätten. Diese Mammutaufgabe müssen wir stemmen, damit jedes Kind in den Genuss hoher Bildungsqualität und individueller Förderung kommen kann. Kindertagesstätten sind keine Parkhäuser, sondern die wichtigsten Bildungseinrichtungen im Leben eines Menschen.”

Kinder seien weder ein “Betreuungsproblem” noch eindimensional “künftige Leistungsträger”. “Kinder sind Persönlichkeiten, die gefördert und gefordert werden wollen”, sagt Stange. “Daher brauchen wir bestens ausgebildetes Personal, das mit Freude bei der Arbeit ist und genügend Zeit zur Verfügung hat. Das wird uns jedoch nur gelingen, wenn wir den Betreuungsschlüssel in den sächsischen Kindertageseinrichtungen in den nächsten Jahren signifikant verbessern. Überforderte und gestresste Erzieherinnen und Erzieher sind Gift für die frühkindliche Bildung. Die SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag wird die Kampagne mit parlamentarischen Mitteln unterstützen. Wir werden im Plenum erneut die Senkung des Betreuungsschlüssels einfordern.

Mehr zum Thema:

Große Befragung “Jugend in Leipzig”: Bildungschancen hängen immer noch vom Geldbeutel der Eltern ab
Während aller Nase lang ein neues Ranking …

Kassensturz: Steigende Betreuerzahlen in Sachsens Kitas – doch der Freistaat knausert
Politik feiert ja gern, ruft Jubilo ins Land …

Linke sammeln Fakten zum ostdeutschen Musterland: Bei Sozialstandards ist Sachsen nur Mittelmaß
In den einschlägigen Rankings, die in Deutschland …

Ich wünsche mir, dass die Kampagne ?Weil Kinder mehr Zeit brauchen.? bei den Verantwortlichen Gehör findet und Konsequenzen nach sich zieht. Bereits in diesem Jahr wird der neue Doppelhaushalt des Freistaates verhandelt. Schon hier müssen die Weichen gestellt und mehr Mittel für die Kinderbetreuung eingeplant werden.”

Am 22. März hat die SPD-Fraktion einen Antrag eingereicht, in dem sie von der Staatsregierung eine Planvorlage fordert, nach der die Betreuungsrelation in Sachsens Krippen auf 1:4, in Kindergärten auf 1:10 und in Horten auf 1:16 verbessert wird. Zeitrahmen: von 2013 bis 2017.

“Spätestens seit Inkrafttreten des Bildungsplans im Jahr 2005 sind sich Fachkräfte und Politiker einig: Kitas sind zuallererst Bildungseinrichtungen”, stellt auch Annekathrin Giegengack, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag fest. “Um Kinder individuell zu fördern, braucht es aber Zeit. Im bundesweiten Vergleich gehört Sachsen zu den Bundesländern mit dem schlechtesten Erzieher-Kinder-Schlüssel. Das muss sich ändern. Aus diesem Grund unterstützen wir die Kampagne der Liga der freien Wohlfahrtsverbände.”

Und es ist der Freistaat, der sich bewegen muss und seine Parolen vom Bildungsland auch mit Geld unterfüttern muss, auch wenn ihm das in Hochschulen, Schulen und Kindertageseinrichtungen so mordsmäßig schwerfällt.

Giegengack: “Die Kommunen dürfen mit der erheblichen Mehrbelastung für einen verbesserten Personalschlüssel an Kitas von über 200 Millionen Euro bis 2016 jedoch nicht allein gelassen werden. Hier muss gemeinsam mit dem Freistaat eine tragfähige Lösung zur Finanzierung der Mehraufwendungen gefunden werden. Sachsen ist in der Pflicht, endlich die Initiative zu ergreifen. Die Kampagne der LIGA der Wohlfahrtsverbände ist auf diesem Weg ein wichtiger Schritt.”

Die Forderungen der Kampagne auf einen Blick:

– Senkung des Personalschlüssels in der Krippe von 1:6 auf 1:4
– im Kindergarten von 1:13 auf 1:10
– im Hort von 1:20 auf 1:16
– Berücksichtigung der Zeit für Vor- und Nachbereitung als 20 Prozent der Arbeitszeit
– auf 100 Kita-Plätze muss eine Freistellung für die Kita-Leitung erfolgen
– ein dichteres Netz der Fachberatung und Weiterbildung

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar