Viele reden über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan oder die Reform der Streitkräfte. Das Wort "Abrüstung" fällt hingegen weniger oft. Die L-IZ hat deshalb beim Abrüstungsexperten Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik nachgefragt. Bei der konventionellen Rüstungskontrolle "könnte Deutschland mehr tun", sagt Richter im L-IZ-Interview.

Zur Person: Oberst a.D. Wolfgang Richter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er trat 1968 in die Bundeswehr ein, nach 1990 war er Bataillonskommandeur im sächsischen Marienberg. Mehrere Verwendungen führten ihn zu NATO, OSZE und UNO. Europäische und globale Rüstungskontrolle, Sicherheitskooperation und ungelöste Konflikte im OSZE-Raum bilden heute seine Forschungsschwerpunkte.

Herr Richter, wieder einmal wird die Bundeswehr einer Reform unterworfen. Die Truppenstärke soll weiter sinken, die Wehrpflicht ist bereits ausgesetzt. Was bedeutet das aus abrüstungspolitischer Perspektive?

Die deutsche Truppenstärke befindet sich seit etwa einer Dekade weit unterhalb der nationalen Obergrenzen, denen Deutschland im Zwei-plus-Vier-Vertrag und im Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag 1990/92) zugestimmt hat und an die es völkerrechtlich gebunden ist. Mit der Reform der Bundeswehr wird die Abkehr von Strukturen fortgesetzt, die auf die klassische Landes- und Bündnisverteidigung unter den Bedingungen unmittelbarer konventioneller Bedrohung in Europa ausgerichtet waren.

Stattdessen konzentriert sich die Bundeswehr auf die Fähigkeiten, die zur Abwehr und Einhegung neuer Sicherheitsrisiken auch jenseits des Bündnisgebietes erforderlich sind. Deutschland befindet sich dabei in guter Gesellschaft mit der überwiegenden Mehrheit seiner Bündnispartner. Aber auch andere KSE-Vertragsstaaten, insbesondere Russland, nutzen ihre vertragsrechtlichen Obergrenzen seit langem nicht mehr aus. Der so entstandene Spielraum zwischen den gültigen Obergrenzen und den tatsächlichen Truppenstärken könnte genutzt werden, um die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa zu reformieren und sie durch die Reduzierung der Obergrenzen der Realität anzupassen.

Hat die Abrüstung in Europa also Früchte getragen?

Insgesamt schon; aber es gibt deutliche regionale Unterschiede: So sollte der seit etwa 2004 entstandenen Unwucht in Europa vermehrte politische Aufmerksamkeit gewidmet werden. In Südosteuropa sind noch immer hohe Waffenbestände und Strukturen zu beobachten, die auf klassische konventionelle Kriegführungsszenarien ausgerichtet sind: Sie eignen sich für die bewegungs- und feuerintensive gepanzerte Feldschlacht und können auch für militärische Offensiven im Kontext subregionaler Konflikte genutzt werden.

Insbesondere im Kaukasus ist die Lage besorgniserregend. Dort ist die Entwicklung in den letzten Jahren einem im europäischen Vergleich gegenläufigem Trend gefolgt: Die Waffenbestände in den Konfliktgebieten haben zugenommen und unterliegen zum Teil nicht der Regierungskontrolle; zumindest ein Vertragspartner überschreitet seine KSE-Obergrenzen offen und deutlich und schließt die “militärische Lösung” eines territorialen Statuskonflikts nicht mehr aus. Das Beispiel zeigt, dass die Rüstungskontrolle in Europa noch immer zur Einhegung von Kriegführungspotentialen in instabilen Subregionen, aber auch zur Wahrung der strategischen Stabilität im NATO-Russland-Verhältnis gebraucht wird.Mal allgemeiner: Welchen Stellenwert hat Abrüstungspolitik derzeit auf der politischen Agenda in Deutschland?

Das Thema der Abrüstung scheint auf den politischen Agenden in Europa insgesamt keinen vorrangigen Stellenwert mehr einzunehmen und von den drängenden aktuellen Themen der Eurokrise, des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus, der Einsätze in Afghanistan und Libyen usw. verdrängt worden zu sein. Erstaunlich ist, wie nüchtern, ja zögerlich Europa auf die durch Präsident Obama neu akzentuierte globale Abrüstungsinitiative und seine Vision einer nuklearwaffenfreien Welt reagiert hat.

Anders stellt sich die Lage in Deutschland dar: Hier spielt die Abrüstung in der politischen Rhetorik eine im europäischen Vergleich noch immer bedeutsame Rolle. Allerdings ist ein deutlicher Unterschied zu spüren zwischen der Behandlung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, für die sich die Bundesregierung meines Erachtens mit mehr Nachdruck einsetzen sollte, und jener der globalen Abrüstung und Nichtverbreitung, die vor allem Massenvernichtungswaffen im Blick hat.

Auf der globalen Bühne drängt Deutschland nachdrücklich auf weitere Fortschritte bei der Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. In den Verhandlungen mit dem Iran, das im Verdacht eines nuklearen Waffenprogramms steht, spielt Deutschland zusammen mit den ständigen Mitgliedern des VN-Sicherheitsrates im Format “E 3 plus 3” (mit Großbritannien und Frankreich: drei EU-Staaten plus USA, Russland und China) eine wichtige Rolle. Ihr geht es darum, einen Ausbruch aus dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zu verhindern und eine friedliche Entwicklung des iranischen Atomprogramms sicherzustellen.

Wenn Sie der Bundesregierung einen Rat geben könnten: Welche Abrüstungsinitiative hätte für Sie absolute Priorität?Ich bin skeptisch gegenüber dem Versuch, “absolute” Priorisierungen von Instrumenten und Detailinitiativen vorzunehmen; sie schränken die notwendige Flexibilität ein und versperren den Blick für Alternativen. Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sind wichtige, ja unverzichtbare, aber nicht die einzigen Instrumente zur Wahrung der internationalen Stabilität und der Verhinderung kriegerischer Konfliktlösungsversuche.

Ferner sollte realistisch bedacht werden, dass Deutschland zwar internationales Gewicht hat, aber doch keine Weltmacht und zudem ein Nichtnuklearstaat ist; es handelt nicht politisch autark, muss bündnis- und europapolitische, aber auch globale politische und völkerrechtliche Rahmenbedingungen berücksichtigen, konkurrierende Ziele abwägen und angesichts von Zielkonflikten nachvollziehbare, tragfähige und nachhaltige Lösungen anstreben. Deutsche Initiativen können sich daher nicht nur am Wünschbaren orientieren; Politik bleibt die “Kunst des Möglichen”.

Aber die Ziele sind klar: Im globalen Kontext geht es darum, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern und dazu auch die nukleare Abrüstung voranzutreiben. In diesem Kontext sollte Deutschland als gewichtiger Bündnispartner und Träger der “nuklearen Teilhabe” sich weiterhin im Bündnis für eine kohärente Bündnisstrategie einsetzen, in der die politische Glaubwürdigkeit des Bemühens um globale Nichtverbreitung und Abrüstung nicht durch das Festhalten an nicht mehr relevanten nuklearen Einsatzkonzepten aus der Zeit des Kalten Krieges konterkariert wird. Allerdings darf Deutschland nicht populistisch mit innenpolitischen Befindlichkeiten argumentieren, sondern muss den strategischen Zusammenhang zwischen Nichtverbreitung und Abrüstung argumentativ untermauern.

Welche Aufgaben warten in Europa?

In Europa müssen die langfristige Stabilität auf dem gesamten Kontinent, vor allem zwischen NATO und Russland, und die subregionale Stabilität in den Zonen verbliebener Territorialkonflikte bewahrt werden. Neue Rüstungswettläufe, die zur politischen und militärischen Destabilisierung führen und wie 2008 in Georgien in kriegerische Konflikte münden können, müssen verhindert werden.

Dazu kann und sollte die konventionelle Rüstungskontrolle weiterhin einen wirksamen Beitrag leisten. Hier könnte Deutschland mehr tun, um diesen bewährten “Eckpfeiler der europäischen Stabilität” zu bewahren, zumal es sich traditionell als politischer Motor und konzeptioneller Taktgeber der konventionellen Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa versteht.

Zu meinem Bedauern hat es bisher nicht zu dieser traditionellen Rolle zurückgefunden. Ich würde mir wünschen, dass es sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale wirft, um dem KSE-Prozess neuen Schwung und Richtung zu geben.

Anderenfalls steht zu befürchten, dass Europa mit dem KSE-Vertrag einen Stabilitätsanker für eine ungewisse Zukunft verlieren wird. Dies könnte negative Konsequenzen für die subregionale Stabilität in Europa, aber auch für das NATO-Russland-Verhältnis haben: Die Rufe nach militärischen Rückversicherungen in Osteuropa könnten lauter werden; Transparenz und vertragsrechtliche Beschränkungen subregionaler Rüstungswettläufe wie im Kaukasus würden ebenso fallen wie die deeskalierende Wirkung kontinuierlicher internationaler Beobachtung.

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