Erkunden heißt, wachsam sein. Und noch geht das auf meiner Tour. So erfahre ich in Wahren etwas über die Existenz des dunklen Wiesenknopf-Ameisenbläulings und sehe die Beatles. Ich betrete auch das Wahrener Rathaus, was ich mir irgendwie spannender vorgestellt hatte.

Zehn vor zehn bin ich tatsächlich in Stahmeln angekommen. Gewiss kann man die Strecke geradliniger und schneller zurücklegen, aber was würde man schon auf der Halleschen Straße sehen? Da ist mir mein Umweg über den Schlosspark sympathischer. Nach meiner Erkundungstour durch das Park-Dickicht entschleunige ich geistig an der Luppe. Ein paar Nordic Walker hecheln mir entgegen, Jogger folgen ihnen und werden die putzigen “Stock-Läufer” auch bald eingeholt haben. Ich biege derweil nach links in einen kleinen Weg namens Aue ein. In den angrenzenden Gärten haben sich schon ein paar Freunde des heiligen Gartenzwergs versammelt. Ob sie bei dem grauen Himmel Spaß in ihrer Parzelle haben werden?

Ursprünglich wollte ich auch das dörfliche Stahmeln erkunden, verpasse aber den Abzweig und lande letztendlich auf der schon fortgeschrittenen Stahmelner Straße, wo mir sofort die nächste Ruine ins Auge fällt. “Hier entsteht ein neues Traumhaus” liest jeder, der hier vorbeiläuft – auch wenn das nicht viele zu sein scheinen, auf einem großen Plakat. Im denkmalgeschützten Mühlengebäude will die KSW GmbH vier Reihenhäuser errichten. Das Gelände ist allerdings verwildert und zugewuchert, kurz: wenig traumhaft. Eine versendete Anfrage lässt die KSW unbeantwortet.
Ich drehe mich um und wundere mich prompt über den Straßennamen. Hier verläuft die Hermundurenstraße. Tatsächlich benannt nach dem germanischen Volksstamm der Hermunduren. Siedelten diese auch hier? Unwahrscheinlich. Ihr Kerngebiet war Thüringen. Stattdessen siedelt derzeit nicht weit von der Hermundurenstraße der dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling, eine seltene Schmetterlingsart dessen Leben in Leipzig-Wahren vergleichsweise sorglos auf einer geschützten Streuobstwiese über die Bühne geht. Der BUND besitzt diese seit dem Jahr 2000 und gibt Acht auf die verschiedenen Altbäume, die unter anderem auch Äpfel tragen.

Direkt gegenüber liegen tatsächlich Äpfel auf der Straße, wohl von einem “herkömmlichen” Vorgarten-Apfelbaum gefallen. So oder so: Ein seltener Anblick in unserer Stadt, ein Paradies für Frutarier, die bekanntlich nichts von Bäumen oder Sträuchern reißen und ein Paradies für Fliegen. Und wie es das Schicksal so will, findet sich am Ende der Stahmelner Straße, am Kirchberg, die nächste Brachfläche. Hier verspricht das Ingenieurbüro Morgenstern, “Ihre neue TOP-Adresse” entstehen zu lassen. Also ich hab sowieso nur eine und die ist jedenfalls besser, als der derzeitige Zustand dieser “TOP-Adresse” (muss man TOP denn unbedingt auch noch in Versalien schreiben?). Hier tut sich nämlich gar nichts.
Aber die Atmosphäre verändert sich. War es auf meinem Weg durch die Stahmelner Straße beinahe gespenstisch ruhig – und das nach um zehn – höre ich mittlerweile Autos. Menschen laufen die Straße entlang. Mehrfamilienhäuser lösen die zahlreichen Einfamilienhäuser ab. Es wird städtischer, die Straßennamen nicht minder komisch. Wer war Claußbruch, der der Claußbruchstraße seinen Namen gab? Warum heißt der Opferweg Opferweg und wer oder was sind Vlamen, wonach die Vlamenstraße benannt ist? Das Internet weiß alles und so erfahre ich, dass die Claußbruchstraße nach Heinrich Cramer von Claußbruch benannt wurde. Einem Handelsherrn aus einem Stadtgeschlecht, das ursprünglich aus der Freien Reichsstadt Eger, heute Cheb, kam. Er lebte im 16. Jahrhundert. Vlamen ist die alte Schreibweise der Flamen und warum der Opferweg so heißt, ließ sich selbst im Internet nicht hieb- und stichfest ermitteln. Schade.

Hier höre ich wieder konkretere Lebenszeichen. Die Kinder im Kindergarten, der im Erdgeschoss der ehemaligen 58. Mittelschule untergekommen ist, machen auf sich aufmerksam. Bald soll hieraus eine bereits vor Entstehung preisgekrönte Quartiersschule werden. Ein Jammer, dass dann auch die teils antiken Schriftzüge an der Schulfassade verschwinden werden. Eigentlich unglaublich, dass auf dem alten Backstein noch immer gelbe Kreidestriche zu erkennen sind, die das Wort “Beatles” ergeben…

Wenig später biege ich in die Linkelstraße ein und kämpfe mich hoch bis zum Wahrener Rathaus, was mir seit Kindesbeinen ein Begriff ist. Das liegt allerdings nicht daran, dass man hier Teile des Amts für Jugend, Familie und Bildung besuchen kann. Es ist vielmehr einer der Fixpunkte in Leipziger Wegbeschreibungen: “…und dann kommst du am Wahrener Rathaus raus.”, “Am Wahrener Rathaus musst du dann links abbiegen und…”, “Am besten du steigst am Wahrener Rathaus um” etc.

Aber wie sieht es im Wahrener Rathaus eigentlich aus? Endlich kann ich dieser Frage mal nachgehen und betrete das 1905 errichtete Gebäude, dessen Eingangshalle ich mir imposanter vorstellt hatte. Ein eher kleines Treppenhaus führt nach oben, links und rechts geht es direkt zu den Ämtern. Ich steige die Treppen empor in der Hoffnung, dass sich meine Enttäuschung legt. Allerdings bleibt der Charakter des Gebäudes zweckmäßig. Prunkvoll ist der Bau von Richard Lucht keineswegs. Daran ändert auch die mintgrüne Treppenhausbemalung aus den 90er Jahren, so schätze ich, nichts. Imposant ist dafür die Esse, die nach wie vor auf dem Parkplatz steht. Sie gehörte zum in den 90er Jahren abgerissenen Kohleheizhaus. Wie die Stadt mitteilte, wird sie zurzeit von der DFMG Deutsche Funkturm GmbH genutzt, die hier Funktechnik installiert hat. Von den Einnahmen soll irgendwann der Abriss bezahlt werden. Wenn man an dem Schornstein vorbeischaut, hat man zudem einen wunderbaren Blick über Wahren und Stahmeln.

So markiert das Wahrener Rathaus auch einen Wendepunkt in meiner Wanderung. Nun bin ich im Stadtleben angekommen – und durchquere fortan Straßen und Siedlungen, in denen mir das Leben wenig Spaß machen würde…

Mehr im Internet:
http://sachsen-zweinull.bund.net/themen_und_projekte/natur_und_artenschutz/naturschutz/streuobstwiese_leipzig/

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