Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der Romanist Manfred Naumann am 21. August 2014 im Alter von 88 Jahren nach längerer Krankheit in Wandlitz bei Berlin gestorben. Der Lehmstedt Verlag trauert um ihn nicht nur als einen seiner Autoren. 2012 war bei Lehmstedt Naumanns Buch "Zwischenräume" erschienen. Der Titel ist programmatisch.

Denn anders als die durch die Stalin-Prägung bestimmte Funktionärselite um Walter Ulbricht standen Denker wie Manfred Naumann, Hans Mayer, Werner Krauss und Ernst Bloch für einen anderen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung. Dass sich ihr Wirken in Leipzig vernetzte, hatte natürlich mit prägenden Gestalten wie Mayer und Bloch zu tun. Doch mit dem harten Kurs, den die Ulbricht-Regierung nach dem Ungarn-Aufstand 1956 einschlug, war auch dieses zarte Pflänzchen eines Versuches, eine alternative Gesellschaft – gar mit dem “Prinzip Hoffnung” – zu denken, erledigt.

Es war ganz ähnlich wie nach der von Ralf Schröder in der Sowjetunion diagnostizieren Tauwetter-Periode: Wer nicht in die Mühlen des neuen, alten Kurses geraten wollte, tauchte ab, wenn er nicht gerade noch die letzte Chance nutzte, das Land gen Westen zu verlassen. Manchen – wie Ralf Schröder oder Erich Loest – gelang das Abtauchen nicht, sie gerieten in die Mühlen der politischen Justiz. Andere suchten sich Nischen und versuchten dort, einen kleinen Rest alternativen Denkens am Leben zu erhalten. Naumann gehörte dazu.

Geboren am 4. Oktober 1925 in Chemnitz, entkam er den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs, weil er bereits bei seinem ersten Fronteinsatz schwer verwundet wurde. Prägend wurden die Studienjahre ab 1949 in Leipzig, wo er bald schon zu den Meisterschülern von Werner Krauss, Hans Mayer und Ernst Bloch gehörte.1957 mit nur 32 Jahren als Professor für Romanistik nach Jena berufen, endete sein steiler akademischer Aufstieg schon zwei Jahre später mit der Entlassung aus dem Amt und dem Ausschluss aus der SED “wegen partei- und staatsfeindlicher Tätigkeit in einer Agentengruppe”. Naumann hatte in seiner Leipziger Zeit zum Kreis um Erich Loest, Gerhard Zwerenz, Winfried und Ralf Schröder gehört und ganz im Geiste der Voltaireschen Aufklärung Reformen in der stalinistisch geprägten DDR gefordert. Dank der Unterstützung von Werner Krauss und Hans Mayer gelang Naumann die Rückkehr in die Wissenschaft bis hin zum von der Stasi misstrauisch überwachten Aufstieg zum Direktor des Zentralinstituts für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR im Jahr 1981.

“Da hatte er sich längst als Stendhal-Forscher und als geistiger Vater einer marxistischen Rezeptionstheorie (mit dem zum Klassiker gewordenen Band ‘Gesellschaft – Literatur – Lesen’, 1973) weit über die Grenzen der DDR einen Namen gemacht, von Kollegen wie Hans Robert Jauß oder Hans Ulrich Gumbrecht respektiert und anerkannt, stellt Verleger Dr. Mark Lehmstedt fest.

Als dann aber 1990 das große Abwickeln und Abwracken begann, wurde kein Unterschied gemacht.

Am Ende von Naumanns Laufbahn stand die nahezu rückstandsfreie Abwicklung der Geisteswissenschaften der DDR im Zuge der deutschen Vereinigung, der auch “sein” Zentralinstitut für Literaturgeschichte zum Opfer fiel. 2012 publizierte Manfred Naumann seine Lebenserinnerungen “Zwischenräume” bei Mark Lehmstedt in Leipzig. Hans Ulrich Gumbrecht hielt dieses letzte Buch des großen Romanisten für “singulär”. “Naumann schreibt mit luzider Selbstironie, hinter der als Tonschlüssel die Geschichte der DDR zur gelassenen Chronik einer fortschreitenden Auflösung wird”, schrieb Gumbrecht in der FAZ vom 5. Juni 2013.

Tatsächlich aber ergänzt das Buch wichtige weitere Titel aus dem Lehmstedt-Verlag wie zum Beispiel die Briefbände von Hans Mayer. Und es steht wirklich die Frage: Ist das nun tatsächlich alles abgeräumt? Oder hat auch die heutige Gesellschaft das Ausloten von alternativen Wegen und Modellen bitter nötig? Wer Bücher wie Naumanns “Zwischenräume” liest, bekommt zumindest so eine Ahnung davon, dass es die Mühe lohnt, über das Alternativlose und Basta-Mäßige der Gegenwart hinauszudenken. Und sei es mit dem fein geschliffenen Instrumentarium der Klassiker. Warum nicht mit Stendhal? Die heutige Bundesrepublik hat, wenn man mal wieder in Stendhals Bücher abtaucht, erstaunlich viel mit der Bourbonenzeit zu tun, in der er schrieb. Aber das Gefühl haben philosophische Denker wohl immer wieder, wenn sich Gesellschaften festfahren in einer der vielen Darmschlingen der Geschichte.

www.lehmstedt.de

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