Noch bevor die AfD bei den Europa- und Kommunalwahlen im Mai und der Sachsenwahl im August ihre Prozente einfahren konnte, haben die Leipziger Sozialwissenschaftler Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler wieder über 2.400 Bundesbürger befragt zu ihrer politischen Einstellung. Und gerade das Phänomen AfD bestätigt ihre These von der narzisstischen Plombe auf deutlichste.

Seit 2002 erfassen sie mit ihren Studien die Einstellung der Wahlbürger zur Demokratie, zu den Parteien und zu einem großen Tableau rechter bis rechtsextremistischer Anschauungen. Denn auch der deutsche Faschismus kam 1933 nicht aus dem Nichts. Er machte sich alle Ressentiments der Wähler gegen die Demokratie, gegen eine zunehmend globalisierte Welt, gegen gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheiten zu Nutze. Sie konnten auf das riesige Reservoir der nationalistischen und chauvinistischen Einstellungen zurückgreifen, die schon das Kaiserreich vor dem 1. Weltkrieg geschürt hatte. Und wirklich verschwunden sind diese Einstellungen der Ausgrenzung, der Abgrenzung und Abwertung bis heute nicht, auch wenn nach 1990 eine ganze Gesellschaft gern so tat, als sei die Geschichte damit erledigt, als sei die westliche Demokratie nun einfach unanfechtbar, und nur der Osten hätte ein Problem mit diesen schrecklichen Nazis.

Das war dann der Schock, der vor allem westdeutsche Medien erst einmal verwirrte, als die ersten “Mitte-Studien” aus Leipzig belegten, wie fest verankert die alten Vorurteile in der deutschen Gesellschaft noch heute sind. Anfangs gingen sofort wieder die Zeigefinger hoch, die besonders hohe rechtsextreme Werte im Osten sahen: Gucke mal da!

Aber das änderte sich bald, je differenzierter die Leipziger Forscher das Bild zeichneten. Da blieb nicht viel über von einem besonderen Erbe der “zweiten deutschen Diktatur” und von “Töpfchenzwang”. In gemütlichem deutschen Kleinbürgermilieu wurden landauf, landab die uralten Ressentiments sichtbar, der alte Diederichsche Untertanenstolz, der sich so gern einmauert, abgrenzt, ausgrenzt und mit Verachtung auf andere Nationen und Kulturen herabschaut. Selbst der tot geglaubte Antisemitismus wurde wieder sichtbar – und zwar nicht nur bei der Linken, der man so gern ihre Israel-Kritik zum Vorwurf macht.

Im Grunde war nur die Frage: Wo bleibt dieses ganze Gewaber, wenn es nicht gerade rechtsextreme Parteien wie die NPD wählt? Und augenscheinlich wählten ja die meisten Leute, die sich diese altvorderen Einstellungen gönnten, eher selten NPD oder Republikaner. Das war und ist bis heute eher etwas für Leute mit niedrigen Einkommen, niedriger Bildung und Arbeitslosenstatus, wie auch die jetzt vorgestellte Studie “Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland 2014” zeigt. Die Frage aber ist mittlerweile beantwortet: Die AfD ist genau in diese Lücke gesprungen.

In seiner “Spiegel”-Kolumne “Alternative für Deutschland: Eine Partei aus der Gruft der Geschichte” hat Jakob Augstein das gerade am 23. Oktober treffend analysiert: Die AfD ist keine moderne Partei, auch wenn das Wort “Alternative” danach klingt, sie übernimmt in weiten Teilen das Weltbild einer längst tot geglaubten Partei: die der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) des Medienmoguls Alfred Hugenberg, der seine Medienmacht (er kontrollierte über 50 Prozent der deutschen Presse) dazu nutzte, die Weimarer Republik sturmreif zu schießen.

Ganz ähnlich analysieren es jetzt auch Decker, Kiess und Brähler in ihrer neuen Studie: “Noch bis in die 1920er-Jahre wurde die Bedrohung der demokratischen Gesellschaft vor allem von rechts wahrgenommen. Das veränderte sich mit der Russischen Revolution, denn nun empfand man neben den restaurativen, konservativ-monarchistischen Parteien auch die sozialistischen Bewegungen als Gefährdung – die Demokratie schien demnach von den beiden sich gegenüberliegenden politischen Rändern der Gesellschaft angegriffen zu werden. Das Aufkommen der faschistischen Bewegungen jedoch führte dazu, dass von den Angehörigen eines bis dahin als des Extremismus unverdächtig geltenden sozialen Milieus eine massive Gefahr für die Demokratie ausging. Der US-amerikanische Soziologe Seymour Lipset ergänzte daher die Unterscheidung zwischen Links- und Rechtsextremismus um einen Extremismus der ‘Mitte’ (center, middle class): ‘Die klassischen faschistischen Bewegungen stellen den Extremismus der Mitte dar.’ (Lipset 1959)”.
Die kleine, aber wichtige Warnung dabei: “Der Befund provoziert bis heute, zeigt er doch, dass die Idee von der gesellschaftlichen Mitte als Garant der Demokratie und des sozialen Ausgleichs eine Fiktion ist.”

Denn was passiert, wenn dieser “Mitte” das gesellschaftliche, wirtschaftliche und mediale Entwicklungstempo zu hoch wird? Wenn die gepflegte Burgmentalität auf einmal nicht mehr zu schützen scheint gegen den Aufprall der Veränderungen? – Dann beginnt in gemütlichen Wohnstuben die blanke Panik um sich zu greifen: “Der europäische Integrationsprozess und die Modernisierungs- und Transformationsbrüche, die er mit sich bringt, wie die sogenannte Eurokrise, scheinen dabei in vielen Ländern Katalysatoren für rechtspopulistische Bewegungen in der Mitte zu sein”, stellen die Autoren der Studie fest.

Ein Aspekt dabei ist die nun von außen massiv in Frage gestellte eigene Autorität, die in früheren Zeiten immer ihr Pendant in der kaiserlichen und staatlichen Autorität hatte. Man hat es nicht mehr mit den wenig gebildeten, halbstarken Schlägertypen zu tun, die aus Protest in eine radikale Anti-Partei wie die NPD gehen. Mit der AfD formiert sich ein Bürgertum, das nach wie vor gut verdient und sich in der Regel auch für einen Teil der Leistungselite hält und das auch durchaus alten Erziehungsmustern anhängt – übrigens nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch der Gesamtgesellschaft gegenüber.

“Jene autoritäre Erziehung, welche für die Studien zum Autoritären Charakter namensgebend war (Adorno et al. 1950), ist noch heute anzutreffen”, stellen die Studien-Autoren fest. “Über die Generationen lässt sich zwar eine deutliche Veränderung im Erziehungsstil feststellen – die körperliche Gewalt nimmt ab, die Vermittlung von Wärme und Nähe zu – aber körperliche Gewalterfahrungen im Elternhaus gibt es noch immer. Bis in die jüngere Generation hinein ist der Effekt dieser Erfahrung auf die Gewaltbereitschaft und die antidemokratische Einstellung nachweisbar. Der Typus eines postautoritär-destruktiven Charakters (Decker et al. 2008) ist das Ergebnis willkürlich ausgeübter Gewalt durch Eltern, die schlagen, weil sie die Stärkeren sind.”

Nur lässt sich dieser private Macht-Raum immer seltener verteidigen: “Doch in einer Zeit, in der die Erfahrung von körperlich ausgeübter erzieherischer Gewalt zum Glück nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme ist, stoßen wir auf einen anderen verstörenden Befund: gleichzeitig mit der Abnahme körperlicher Gewalt in der Kindheit, nimmt bei der Mehrzahl der Menschen das Gefühl der Überforderung zu (Decker et al. 2012a). Zwar werden die Regeln der Gesellschaft nicht mehr mit repressiver Gewalt durchgesetzt, aber die Eltern scheinen ihre Kinder auch immer weniger gegenüber der permanenten Leistungsanforderung der Gesellschaft schützen zu können. Dieses Durchschlagen von gesellschaftlichen Forderungen in den privaten Raum der Familie scheint selbst eine neue Form der autoritären Vergesellschaftung zu sein – einer, die ohne jene Autorität auskommt, die in der patriarchalen Familienstruktur bis spät ins 20. Jahrhundert hinein vom Vater repräsentiert wurde.”

Ein verblüffender Befund, denn die selben “Eliten”, die in den vergangenen Jahren die Mobilisierung, Flexibilisierung und die ins Privatleben vordringende “Leistungsbereitschaft” propagiert und forciert haben, erscheinen jetzt auf einmal als Selbst-Betroffene der Entwicklung. Die Entwicklung schlägt auf sie selbst zurück. Nur wird das weder wahrgenommen noch reflektiert. Man ist ja selbst Hamster im Rad und erlebt den wachsenden Leistungsdruck als stille, aber darum umso unbarmherzigere Gewalt: “Wenn nun aber die Vermittlung der gesellschaftlichen Gewalt ohne die Präsenz einer sichtbaren und konkreten Autorität auskommt, wie wird dann für die Unterwerfung entschädigt?”

Das ist dann die Frage nach der “narzisstischen Plombe”. Menschen sind nur bereit, sich so einer Gewalt der Prozesse zu unterwerfen, wenn sie auf irgendeine Weise dafür entschädigt werden. Das war in der Regel bislang das Geld, die exzessive Teilhabe am Konsum, der erlebte Wohlstand auch als gesellschaftliches Prestige. Man konnte zumindest alle Ersatzwünsche befriedigen. Doch seit die “Mitte” selbst unter Druck gekommen ist, ist es damit vorbei.

Aber wie wehrt man sich aus so einer Position gegen die Zumutungen und die Autorität eines als anonym erlebten “Marktes”? – Ein Ding der Unmöglichkeit. Und so wird sich Ersatz für die kochenden Emotionen gesucht. Die Autoren der Studie: “Denn auch gegen diese Autorität kann sich die Aggression nicht richten, dafür ist sie viel zu mächtig. Stattdessen richtet sie sich gegen ‘Andere’. Angeboten haben sich dafür schon immer Gruppen, die aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft zwei Merkmale erfüllen: sie müssen als schwach wahrgenommen werden und der Phantasie Nahrung geben, sich der gewaltvollen Autorität entzogen zu haben.”

Und genau das bildet sich auch in der 2014er-Studie ab und in der Positionierung der AfD, die – auch das muss betont werden – sich anders als die NPD nicht als Gegner der Demokratie fühlt, sondern Demokratie als Bühne sogar sehr hoch einschätzt. Die Befürwortung der Demokratie innerhalb der AfD-Wählerschaft (96,2 %) ist fast ebenso hoch wie bei den Grünen-Wählern (97 %), die hier immerhin den höchsten Wert aufweisen. Doch wenn nach der “Unzufriedenheit mit der Demokratie als politisches System laut Verfassung” gefragt wird, kippt das Ganze, dann reiht sich die AfD (34,6 %) gleich hinter Nichtwählern und NPD (36,4 %) ein und noch deutlich vor Piraten (31 %) und Linkspartei (29,2 %), die ihre Unzufriedenheit mit dem Zustand der aktuellen Demokratie aus ganz anderer Richtung artikulieren.

Noch deutlicher wird das bei der Frage nach der “Unzufriedenheit mit tatsächlicher Demokratie in der BRD”. Da überholen AfD-Anhänger mit 75 % sogar noch die NPD (73,9 %). Eine Einstellung, die stark gekoppelt ist mit der Befürwortung einer autoritären Diktatur (zweithöchster Wert mit 7,1 %), Chauvinismus (zweithöchster Wert mit 9,8 %), Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Beim Gesamtwert “Rechtsextreme Einstellungen” kommen AfD-Anhänger auf 47,3 Prozent. Höher sind die Werte nur noch bei der NPD (58,2 %). Und wie bei der NPD richtet sich die Abwehrhaltung vor allem gegen Muslime, Asylbewerber, Sinti und Roma und die EU.

Doch anders als die NPD-Wähler gehören AfD-Wähler nicht zu den eher depressiven Bürgern, die ihre eigene soziale Existenz durch Konkurrenz bedroht sehen, sind auch nicht eher ängstlich wie viele NPD-Wähler. Sie gehören eher zur wohlsituierten, autoritären Mittelschicht der Gesellschaft, die auch noch mitten im Berufsleben steht und dort gewohnt ist, dass die Dinge in ihrem Sinne laufen. AfD-Wähler haben mit 50,6 Jahren einen ähnlichen Altersdurchschnitt wie FDP- und SPD-Wähler. Worin unterscheiden sie sich? – Sie verdienen in der Regel gut, sind zwar oft in gut dotierten Leistungspositionen, haben aber seltener eine akademische Ausbildung als etwa Grüne-, Piraten-, FDP- oder Linke-Wähler. Was einen Teil ihrer Diskussionskultur erklärlicher macht. Und auch ihre Unlust, sich an den Debatten um die moderne Informationsgesellschaft zu beteiligen.

Zwei Drittel der AfD-Sympathisanten sind Männer. Höher ist der Anteil nur noch bei NPD und Piraten. Und ängstlich sind sie auch nicht (nur FDP-Anhänger zeigen noch weniger Angst), was ebenfalls mit ihrem Selbstbild und ihrer gesellschaftlichen Rolle zu tun hat. Sie sind genau die Melange, die in den Lesungen eines Tilo Sarrazin auftaucht, und die wirklich überzeugt ist, dass man “das doch mal sagen darf”. Auch wenn sie es schon tausendmal in ihren Stuben, Firmen und Stammkneipen gesagt haben. Sie fallen mit ihrem Chauvinismus auf. Und das ist bedenkenswert. Denn die Studie von 2014 zeigt auch deutlich, dass die Dimension Chauvinismus in der Gesamtbefragung nach den beiden Befragungen 2010 und 2012 im Jahr 2014 wieder deutlich gefallen ist. Was auch die Abwanderung aus anderen Parteien wie CDU, FDP und Linke erklärt: Man fühlte sich dort zunehmend in der Minderheit. Auch das wieder dieser “Das muss man doch mal sagen dürfen”-Effekt. Denn gesagt haben es die bekannten Kandidaten auch dort oft schon – und einige wurden selbst von der CDU mit Eklat suspendiert.

Damit bekommt auch die Aussage des ehemaligen BDI-Präsidenten und heutigen AfD-Europa-Abgeordneten Olaf Henkel eine neue Nuance: Eine Partei wie die AfD habe im Parteienspektrum der Bundesrepublik noch gefehlt. Vielleicht ist es sogar so: Für so eine Art Haltung gibt es in den anderen Parteien – auch in der von Angela Merkel modernisierten CDU – immer seltener einen Platz. Auch Haltungen wie Antisemitismus oder Sozialdarwinismus (beides stark ausgeprägte Haltungen bei AfD-Wählern) sind im Gesamtspektrum der Studie seit Jahren rückläufig.

Die Autoren der Studie dazu: “Die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen sank allerdings 2014 im Vergleich zu den bisherigen ‘Mitte’-Studien deutlich. Der Anteil derjenigen, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben, ist in ganz Deutschland klar zurückgegangen – von 9,7 % im Jahr 2002 auf 5,6 % im Jahr 2014. Die Abnahme ist zudem in allen untersuchten Dimensionen feststellbar: Befürwortung einer Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus und Chauvinismus finden in Ost- und Westdeutschland weniger Akzeptanz als noch 2012.”

Gewissermaßen ist die AfD also eine Partei, die das Unbehagen an den Veränderungen der Moderne noch einmal bündelt – und damit auch die Verweigerung eines Diskurses über die Entwicklung der modernen Gesellschaft. Nur: Wird das tatsächlich zu einem weiteren Anwachsen der AfD-Erfolge führen, wie Jakob Augstein befürchtet? Oder sorgt gerade ihre Existenz dafür, dass die politische Konkurrenz gezwungen wird, sich mit den Fehlstellen der Diskussion wieder zu beschäftigen? Aussitzen, wie es die Bundeskanzlerin gern praktiziert, kann nicht die Lösung sein. Und das betrifft die Einwanderungspolitik genauso wie die ungelöste Staatsfinanzkrise, diverse unvermittelbare Freihandelsabkommen, Kriseninterventionen in Nahost oder der Ukraine, aber auch den ganzen Komplex NSA, Datenschutz und Freiheitsrechte …

So gesehen ist die AfD eine Botschaft mitten aus der Gesellschaft: Verstehen wir alles nicht, wollen wir alles nicht, muss man doch mal sagen dürfen. Ob das für eine parlamentarische Arbeit reicht, darf bezweifelt werden.

Alternative für Deutschland: Eine Partei aus der Gruft der Geschichte
www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-lucke-und-die-erinnerung-an-die-deutschnationalen-a-998806.html
Die Studie selbst als PDF zum download.

Die Statistischen Daten und Diagramme zur Studie als PDF zum download.

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