Als „Jammer-Ossis“ werden die Ostdeutschen gern mal bezeichnet: Menschen, die sich beklagen, die unzufrieden sind und von der Wende „hintergangen“. Soweit das Klischee. Wie viel davon aber ist wahr und wie viel dieser vermeintlichen „Ost-Identität“ wird vielleicht vorbei an der Realität von außen gefördert? Fühlen sich die Menschen in Ostdeutschland wirklich so benachteiligt, wie gern behauptet wird? Darüber haben wir mit dem Soziologen Alexander Yendell gesprochen, der 2020 gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo eine Kurzstudie zum Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ beigesteuert hat. In ihrem Gutachten stellen die beiden Wissenschaftler fest: Auf individueller Ebene sind die Menschen, die im Osten Deutschlands leben, eigentlich ganz zufrieden – erst das Kollektivdenken fördert den Unmut.

Herr Yendell, darf ich anfangen mit einer eher persönlichen Frage? Darf ich wissen, wie alt Sie sind? Es geht mir vor allem um die Einordnung und die Frage, wie viele Jahre Sie ein geteiltes Deutschland erlebt haben.

Ja, jetzt muss ich überlegen (lacht). 48. Wobei es in meiner Forschung nicht um mein eigenes Erleben geht und wie ich die DDR und die Nachwendezeit selbst erlebt habe. Als empirischer Sozialforscher verlasse ich mich auf die Daten von Befragten aus repräsentativen Bevölkerungsumfragen und nicht allein darauf, wie ich die Welt sehe.

Ich beziehe mich in unserem Gespräch unter anderem auf die Kurzstudie, die Sie 2020 herausgegeben haben als Teil des Abschlussberichts der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und deutsche Einheit“. Darin schreiben Sie und Ihr Kollege, der Politikwissenschaftler Oliver Hidalgo, dass die Unterscheidung zwischen Ost und West oder die Erzählung über die Benachteiligung des Ostens auch teilweise ein Konstrukt ist und gar nicht so unbedingt der Realität entspricht.

Genau, das haben wir geschrieben in dem Gutachten, welches wir zu dem Bericht beigesteuert haben. Man muss unterscheiden: Solche Umfragen beruhen oft auf der Auswertung von Bevölkerungsumfragen. Als Frage wird das aber suggestiv formuliert, zum Beispiel: „Viele Menschen in Ostdeutschland fühlen sich 30 Jahre nach dem Mauerfall als Bürger zweiter Klasse. Halten Sie diese Ansicht für richtig oder falsch?“. Anschließend wird geschlussfolgert, dass Ostdeutsche sich selbst als Bürger zweiter Klasse empfinden. Dabei sagen sie das ja gar nicht über sich selbst, sondern über das Kollektiv der Ostdeutschen. Es ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied.

In der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 – da ergab sich das Ergebnis, dass zwar tatsächlich ein etwas größerer Anteil der Ostdeutschen zustimmt, sich benachteiligt zu fühlen. Dieser Anteil war im Ergebnis aber nicht viel höher als in Westdeutschland. In Westdeutschland gibt es also ebenso Menschen, die sich als Bürger zweiter Klasse fühlen, die Mehrheit der Bevölkerung aber tut es nicht. Die Frage ist ja immer: Was kommt dann bei den Individuen an? Fühlen die sich wirklich so abgehängt, zumindest ökonomisch?

Als Ergebnis der ALLBUS beispielsweise, einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, die alle zwei Jahre durchgeführt wird, kam auch heraus, dass die Mehrheit der Ostdeutschen in den 30 Jahren nach dem Mauerfall immer zufriedener mit der individuellen ökonomischen Situation wurde. Das heißt natürlich nicht, dass wir kein Problem hätten mit Armut in Deutschland, aber die Ostdeutschen jammern nicht mehr über ihre individuelle ökonomische Situation als die Westdeutschen. Das ist ein Mythos.

Warum wird diese Aussage von den benachteiligten Menschen in Ostdeutschland weiterhin hochgehalten?

Es ist wie eine Selbsterfüllende Prophezeiung. Natürlich muss man sagen, dass nicht alles richtig gelaufen ist im Wiedervereinigungsprozess und selbstverständlich gibt es Unterschiede und Ungleichheiten zwischen den beiden Regionen. Denken wir zum Beispiel mal an Vermögen: In Westdeutschland wird viel mehr vererbt. Die Immobilien sind teurer. Die Mieteinnahmen sind höher. Alle DAX-Unternehmen sind in Westdeutschland angesiedelt und keins in Ostdeutschland.

Dennoch gab es in Bezug auf die ökonomische und soziale Entwicklung auch vieles, was deutlich besser geworden ist. Das wird gern übersehen. Gerade in der heutigen Situation, mit dem weltweiten Anwachsen des Rechtspopulismus‘ ist zu beobachten, dass sich viele Menschen, sogar ganze soziale Gruppen, in einer Opferrolle wiederfinden und nur noch den Blick für die Benachteiligung haben, die sie erfahren haben.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 118, VÖ 27.10.2023. Foto: LZ

In unserem Bericht argumentieren wir auch, dass diese Entwicklung etwas zu tun hat mit dem ständigen Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland. Durch diesen Vergleich wird die „Gruppen-Ostidentität“ der Ostdeutschen erst getriggert. Wenige Menschen gehen durch den Alltag und betonen ständig ihre Herkunft, viele wollen auch nicht explizit als Ostdeutsche betitelt werden.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Den Ostdeutschen wird oft vorgeworfen, sie seien besonders rechtsextrem und rechtspopulistisch oder sie wählten besonders häufig die AfD. Ja, das stimmt, das ist oft so. Aber dass das etwas mit einer speziellen Ost-Identität zu tun hat, bleibt fragwürdig.

Gerade, was die AfD betrifft, sehen wir momentan, dass der Anteil der Wähler dieser Partei auch in Westdeutschland stark angestiegen ist – vor allem unter jungen Menschen. Ich halte es für problematisch, es als rein ostdeutsches Problem zu bezeichnen.

Trotzdem verdient man im Osten auch heute noch wesentlich weniger als im Westen. Oder ist das zu vernachlässigen aufgrund ebenso geringerer Lebenshaltungskosten?

Natürlich spielt auch die Höhe der Lebenshaltungskosten eine Rolle. Aber diesbezüglich gibt es auch innerhalb anderer Regionen Deutschlands Unterschiede – nicht nur zwischen Ost und West. In Duisburg beispielsweise, einer der ärmsten Städte Deutschlands, zahlen sie deutlich weniger für die Miete als im nur wenige Kilometer entfernten reichen Düsseldorf. Klar ist aber, dass es diese Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt – zum Beispiel die Gehälter betreffend. Das ist nicht gerecht.

Gerade Gruppen und Parteien wie die AfD machen sich diese Thematik der Abgrenzung ja auch zunutze.

Absolut. Damit spielt die AfD natürlich. Sie bedient Ängste und bestärkt die Opferrolle, die einige Menschen oder soziale Gruppen einnehmen. Aus dieser Opferperspektive heraus ist man eigentlich immer moralischer Sieger und kann alles Mögliche legitimieren, bis hin zu Rechtsextremismus und Rassismus. Das ist sehr gefährlich.

Wenn aber gerade junge Menschen sich auch vermehrt der AfD und rechtspopulistischem Gedankengut zuwenden, wie sehr wird (Ost-)Identität auch vererbt? Ist es überhaupt möglich, diese Spaltung zu überwinden?

Ja, das hoffen wir, dass das möglich ist. Dafür haben wir in unserem Bericht auch ein paar Vorschläge gemacht. Zum Beispiel sollten überregionale Projekte verstärkt gefördert werden. Es sollte in offiziellen Stellungnahmen und Dokumenten für die Öffentlichkeit auf diese geografische Einteilung möglichst verzichtet werden. Natürlich ist diese Einteilung wissenschaftlich interessant, dennoch sollte eher öfter darauf verzichtet werden, um diese Art von Gruppenidentität nicht zu fördern.

Es braucht zudem mehr überregionale Kontakte und Vernetzungen. Letzten Endes hat eine funktionierende Demokratie auch etwas mit Perspektivwechsel und Empathie zu tun. Sich in andere hineinversetzen ist wichtig für den freien und öffentlichen Diskurs. Manche Kolleginnen und Kollegen schlagen vor, dass der erste Schritt die Diskussion der „Ostdeutschen untereinander“ sein müsste.

Das sehe ich nicht so. Klar – auch über die Versäumnisse während der Wiedervereinigung müssen wir unbedingt sprechen, aber nicht nur mit einem Teil der Bevölkerung. Um zukunftsgerichtete Politik machen zu können, sollten gesamtdeutsch Versäumnisse angesprochen werden und Lösungen für aktuelle Probleme gefunden werden.

Außerdem sollten Menschen aus dem Westen mehr Kenntnis über die ostdeutsche Geschichte und individuelle Schicksale von DDR-Bürgern haben. Es gibt viele Menschen, die in Westdeutschland leben, die den Osten Deutschlands überhaupt gar nicht kennen. Leider ist es auch so, dass viele Menschen aus Westdeutschland mit Migrationshintergrund aus Angst vor rassistischen Übergriffen den Osten meiden. Das ist schade.

 Spielen Ihrer Meinung nach auch die (sozialen) Medien – Filterblasen, Algorithmen – eine Rolle dabei, dass Perspektiven fernab der eigenen gar nicht erst „ausgespielt“ werden?

Auch, aber zuerst einmal hat auch der Umgang mit Medien damit zu tun, welche Voraussetzungen ein Mensch „mitbringt“. Personen, die sehr autoritäre Denkmuster haben, suchen sich zum Beispiel spezielle Medien aus, die sie in ihren autoritären und fremdenfeindlichen Vorurteilen bestärken. Menschen, die offener sind und auch eher bereit sind, die Perspektive zu ändern, suchen sich oftmals eine Vielzahl von Medien aus. Es spielt sozusagen auch ein Persönlichkeitsfaktor eine Rolle.

Nicht allein die Medien sind immer „die Bösen“, zumal wir eine sehr große Medienvielfalt in Deutschland haben. Trotzdem ist es durchaus ein Problem, dass es diese Filterbubbles gibt. Die gab es aber auch schon früher – bevor es das Internet gab.  Es gab auch ohne Internet schon immer Menschen, die nur ihre eigene Meinung zulassen und sich nicht von anderen überzeugen lassen.

Sie kommen ursprünglich aus NRW und arbeiten inzwischen seit zehn Jahren für die Leipziger Universität. Spielt das Thema Wende – der Unterschied zwischen Ost und West – auch in Ihrer Identität eine Rolle?

Es ist etwas komplizierter, weil ich sowohl Brite als auch seit 2017 Deutscher bin. Ich bin in Deutschland geboren, im Rheinland aufgewachsen. Ich habe aber auch mehrere Jahre in Leipzig gelebt. Dort wollte ich auch explizit hin. Natürlich prägt mich auf gewisse Weise der Ort, an dem ich aufgewachsen bin oder in dem ich lebe. Ich wage aber von mir zu behaupten, dass eine nationale oder regionale Identität zumindest für meinen Selbstwert keine große Rolle spielt.

Es ist aus sozialpsychologischer Sicht leider oftmals problematisch, wenn der Selbstwert eines Menschen von der Identifikation mit einer Nation oder Region abhängt, weil dann andere schnell abgewertet werden – ganz nach dem Motto „Meine Nation, Region oder Kultur ist immer besser als die andere“.

„Interview mit Alexander Yendell: Fühlen sich die Ostdeutschen wirklich so benachteiligt?“ erschien erstmals zum thematischen Schwerpunkt „Identität Ost“ im am 27.10.2023 fertiggestellten ePaper LZ 118 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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