Im Juni wird nicht nur der neue Leipziger Stadtrat gewählt. Es ist auch der Tag der Europawahl. Und auf dem Wahlzettel steht auch mit der AfD eine Partei, die die EU mit all ihren Errungenschaften massiv beschneiden will. Wie rückwärtsgewandt die AfD tatsächlich ist, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer aktuellen Studie ausgewertet. Denn die Gefahr, dass schwer errungene Freiheiten wieder verloren gehen, ist groß.

Selten waren die Positionen der politischen Parteien zu Europa so polarisiert wie bei der Europawahl 2024. Nie zuvor waren rechtsextreme Parteien so stark in den Umfragen und könnten so großen Einfluss auf die künftige Politik in Europa ausüben. Vor allem die Alternative für Deutschland (AfD) könnte – trotz ihrer jüngsten Skandale – ein Rekordergebnis erzielen, so das DIW.

In seiner Kurzstudie analysiert das Institut auf Grundlage des Wahl-O-Mats der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) die Positionen, für die die AfD steht, wie sich diese über die Zeit verändert haben und wie sie sich mit denen anderer Parteien vergleichen. Die Analyse zeigt, dass das AfD-Paradox auch in der Europäischen Union (EU) gilt: AfD-Wähler/-innen wären die Hauptleidtragenden einer rechtspopulistischen Politik auf EU-Ebene, und zwar in fast jedem Politikbereich – von der Wirtschaftspolitik, über die Klima- und Umweltpolitik, bis zur Außenpolitik und Gesellschaftspolitik.

Vor der Europawahl wächst die Sorge vor einem weiteren Rechtsruck. Die Fraktion Identität und Demokratie könnte laut Prognosen 20 bis 30 Sitze im EU-Parlament dazugewinnen, die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) etwa zehn Sitze.

In Deutschland erreicht die AfD, die 2014 erstmals mit 7,1 Prozent ins EU-Parlament einzog und 2019 ihr Ergebnis auf 11,0 Prozent verbesserte, in Umfragen aktuell zwischen 15 und 22 Prozent. Sie hat damit die Chance, zweitstärkste Kraft bei der Europawahl in Deutschland zu werden. Dies könnte auch Signalwirkung für die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg entwickeln.

Angetreten war die AfD bei der Europawahl bereits vor zehn Jahren mit EU-skeptischen Positionen. Seitdem entwickelte sie sich jedoch immer weiter nach rechts und wird heute vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Die Landesverbände in Sachsen, Sachsen-Anhalten und Thüringen gelten als gesichert rechtsextrem.

Hier kommt man zur Kurzstudie des DIW.

Für welche Positionen steht die AfD in Europa?

Ein unübersehbarer Fakt ist, dass sich die AfD seit ihrer ersten Teilnahme an den Europawahlen 2014 radikalisiert und sich zu einer Partei mit fast durchgehend europafeindlichen Positionen entwickelt hat. Und gleichzeitig vertritt sie eine Finanzpolitik, sie allein den Reichen nutzt.

Denn in der Wirtschafts- und Finanzpolitik steht die AfD für eine Politik des Neoliberalismus, bei dem der Staat als ein Grundübel und die Lösung der Probleme in einer Stärkung des Marktes und einem Abbau des Sozialstaats gesehen wird. Die AfD möchte außerdem, dass Deutschland aus dem Euro austritt und die D-Mark wieder eingeführt wird. Die EU soll keine eigenen Steuern erheben dürfen, die Einwanderung von Fachkräften von außerhalb der EU soll nicht vereinfacht werden.

In der Klima- und Umweltpolitik will die AfD große Teile der Maßnahmen zum Schutz von Klima und Umwelt abschwächen oder aufheben. Sie will, dass Verbrennungsmotoren auch nach 2035 zugelassen werden, Klimaschutzziele sollen abgeschwächt werden. Dagegen will sie Subventionen auf fossile Energieträger, wie Kerosin, beibehalten und die ökologische Landwirtschaft nicht vorrangig fördern. Sie will auch die Flächen für Naturschutzgebiete nicht ausweiten.

In der Gesellschaftspolitik steht die AfD für weniger Vielfalt und weniger Toleranz.

Bei der Außenpolitik steht die AfD nicht nur für eine Politik, die viele Kompetenzen wieder auf den Nationalstaat überträgt. Sie verfolgt auch noch eine prorussische Politik. Mit dem BSW ist sie die einzige Partei, die gegen weitere Waffenlieferungen für die Ukraine, für den Abbau von Sanktionen gegen Russland und gegen gemeinsame europäische Rüstungsprojekte ist. Und sie will die Handlungsfähigkeit der EU schwächen, indem sie sich gegen das Mehrheitsprinzip und für nationale Vetos ausspricht.

Die Radikalität und die Diskrepanz zu demokratischen Parteien nehmen zu

Die AfD ist heute eine komplett andere Partei, als sie es 2014 war. Sie wurde damals vor allem als eine Anti-Euro-Partei gegründet, die insbesondere die Währungspolitik auf nationale Ebene verlagern wollte, in anderen Bereichen – wie Demokratie oder Gesellschaftspolitik – war sie eine lediglich nationalkonservative und nicht-europäische Partei.

Die große Radikalisierung der AfD fand zwischen 2014 und 2019 statt, aber auch in den letzten fünf Jahren haben sich die europafeindlichen Positionen der AfD nochmals verstärkt. In jedem Politikbereich und in fast jeder der 38 Fragen geht es der AfD darum, Europa zu schwächen und europäische Institutionen auszuhöhlen.

Der Abstand der Positionen zwischen der AfD und den demokratischen Parteien hat auch in Bezug auf Europa in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen. Gab es beispielsweise 2014 noch die größten Überschneidungen der Positionen zwischen CDU und AfD (mehr als die Überschneidungen der CDU mit anderen Parteien, außer der CSU), so bestehen heute relativ wenige Überschneidungen der AfD mit anderen Parteien.

Außer mit einer Neugründung: Der größte Konsens besteht zwischen AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die bei 53 Prozent aller Fragen übereinstimmen.

Die Linke ist zwar nach den Grünen und der SPD mit die am stärksten proeuropäische Partei. Die Ausnahme ist aber die Außenpolitik, bei der es eine sehr große Übereinstimmung zwischen AfD, Die Linke und BSW gibt. Alle drei Parteien sprechen sich für eine prorussische Politik aus, wollen Hilfen für die Ukraine kürzen und generell die Kompetenzen der EU in der Außenpolitik beschneiden.

Alles in allem hat die Diskrepanz zwischen der AfD auf der einen Seite und den demokratischen Parteien im Bundestag auf der anderen Seite in den letzten zehn und den letzten fünf Jahren deutlich zugenommen. Aus wahltaktischer Perspektive könnte dies der AfD einen größeren Stimmanteil einbringen, da sie nun in weniger Politikbereichen Konkurrenz durch die etablierten Parteien hat. Dies ist vermutlich die Lücke, die das BSW zu nutzen versucht, indem es einerseits sehr radikale und AfD-ähnliche Positionen in der Außenpolitik und anderen spezifischen Themen vertritt, bei anderen Themen jedoch moderatere Positionen verfolgt.

Das AfD-Paradox besteht auch in Europa

Ähnlich wie für die Bundestagswahl 2021 und für die Landtagswahlen in Thüringen, Bayern und Hessen zeigt sich ein AfD-Paradox auch für die Europawahlen 2024: Die vermeintliche AfD-Wählerschaft würde einen erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Preis für die AfD-Politik auf EU-Ebene zahlen. Denn das, was die AfD mit ihrer Politik fordert und verfolgt, würde gerade die eigenen Wähler/-innen im erheblichen Maß schädigen.

Wer sind die AfD-Wähler/-innen?

Verschiedene Analysen zeigen: AfD-Wähler/-innen sind überproportional im mittleren Alter, meist männlich und leben häufiger in strukturschwächeren Regionen. Die Zustimmung zur AfD ist in Ostdeutschland höher als im Westen. Zudem haben AfD-Wähler/-innen durchschnittlich einen geringeren Bildungs- und Berufsabschluss und verdienen unterdurchschnittlich.

In anderen Worten, sie gehören viel häufiger zu den vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft und sind somit viel stärker von einem starken Sozialstaat, guten staatlichen Institutionen und einer starken Daseinsvorsorge abhängig. Das sind genau die Dinge, die die AfD in fast allen Bereichen schwächen oder komplett abschaffen möchte.

Und dazu kommt: Die Politik der Ausgrenzung gegen Minderheiten, wie Geflüchtete und Bezieher/-innen sozialer Leistungen, würde für viele AfD-Wähler/-innen als Bumerang zurückkommen. Denn durch eine Kürzung sozialer Leistungen würde kein Erwerbstätiger auch nur einen Euro mehr an Arbeitseinkommen erzielen, größere Chancen haben oder eine verbesserte Daseinsvorsorge erhalten. In anderen Worten, das Ausgrenzen anderer Minderheiten könnte in Zukunft sehr schnell viele AfD-Wähler/-innen selbst hart betreffen und ihre soziale und politische Teilhabe reduzieren.

Die wirtschaftlichen Folgen gerade für die Jungen

Auch erhält die AfD immer mehr Unterstützung bei der jungen Generation. Vielen ist offensichtlich nicht bewusst, dass ein geschwächtes Europa ihre eigenen Zukunftschancen verschlechtert und im Wettbewerb mit China und den USA Deutschland und Europa viel Wohlstand kosten wird. Dass die Partei weiterhin die Klimakrise leugnet und alle Maßnahmen zu dessen Bekämpfung ablehnt, würde vor allem die Jüngeren hart treffen.

Auch die AfD-Forderungen, Europa abzuschotten, nationale Grenzen zu stärken, Zuwanderung zu begrenzen und Protektionismus statt Freihandel zu stärken, würden in Deutschland viele Millionen Arbeitsplätze zerstören. Wiederum wären die AfD-Wähler/-innen die Hauptleidtragenden dieser Politik, da Menschen mit geringeren Qualifikationen, weniger Einkommen und einer geringeren Mobilität davon besonders stark betroffen wären.

Auch ein Austritt aus dem Euro wäre für die deutsche Wirtschaft eine Katastrophe, weil er viele der wichtigen Lieferketten und Absatzmärkte für deutsche Unternehmen zerstören würde. Nicht China oder die USA sind Deutschlands wichtigste Handelspartner, sondern die Europäische Union: Mehr als die Hälfte aller deutschen Exporte geht in die EU.

Eine Frage, die im Wahl-O-Mat 2024 nicht gestellt wurde, jedoch von der AfD-Bundessprecherin Alice Weidel gefordert wird, ist eine Abstimmung, ob Deutschland aus der EU austreten soll. Ein Austritt aus der EU, der sogenannte Dexit, würde Deutschland noch stärker schwächen als der Austritt aus dem Euro. Das Beispiel Großbritannien zeigt, wie katastrophal sich ein EU-Austritt nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Sozialsysteme und die Verfügbarkeit von Fachkräften auswirken würde.

Es wäre vor allem die junge Generation in Deutschland, die für eine solche Entscheidung einen hohen Preis zahlen und einen dauerhaften Schaden ertragen müsste.

Die falschen Versprechen der AfD

Der Populismus der AfD hat es geschafft, vielen Menschen fälschlicherweise zu suggerieren, eine stärkere Unterstützung von Geflüchteten, Kindern, Arbeitslosen oder kranken Menschen und mehr Toleranz und eine offene Gesellschaft bedeuteten eine Kürzung der Leistungen und eine schlechtere Ausgangssituation für sie selbst. Ein solches Nullsummen-Denken, bei dem der Gewinn für andere zwingend als Verlust für sich selbst wahrgenommen wird, beruht auf einem Irrglauben und führt zu einem Verteilungskampf, der letztlich nur Verlierer/-innen kennt.

Daher ist es so wichtig, dass die falschen Versprechen der AfD und die Konsequenzen der AfD-Politik offengelegt werden, betonen die Studienautoren. Die Perversität der anstehenden Europawahl besteht darin, dass sie eine rechtsextreme Partei deutlich stärken könnte, die Europa und Deutschland spaltet und letztlich gerade den eigenen Wähler/-innen besonders stark schaden würde.

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