Es stimmt ja: Seit geraumer Zeit wird darüber spekuliert, dass der Kapitalismus abgewirtschaftet hat und nicht hilft, die Probleme unserer Zeit zu lösen – schon gar nicht die Klima- und die Artenkrise, die beide Resultat völlig enthemmten Wirtschaftens sind. Nur wird man zugleich meist stutzig, wenn es keinen Alternativvorschlag gibt, wie dann eigentlich Wirtschaft organisiert sein soll. Darüber machte sich auch Marcel Fratzscher im März so seine Gedanken.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeichnet sich dadurch aus, dass er sich – anders als die meisten anderen Ökonomen in der Republik – nicht in den engen Denkschablonen bewegt, mit denen die Konjunktur in Deutschlands meistens beschrieben und erklärt wird. Als gäbe es im rational gedachten Markt keine Menschen, die mit durchaus menschlichen Interessen agieren und ihre Interessen auch rücksichtslos durchsetzen, wenn sie genug Geld im Tank haben.

Am 15. März veröffentlichte Fratzscher seine Kolumne auf „Zeit Online“, in der er sich Gedanken darüber machte, warum die meisten Leute Kapitalismus und Demokratie geradezu verwechseln und nicht sehen wollen, dass es eigentlich um kluges Regieren geht. Und um den Mut, Gier und Eigennutz klare Grenzen zu setzen.

„Es ist vielmehr der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie durch einige wenige, der dringend benötigte Veränderungen verhindert. Eine Stärkung von Kapitalismus und Demokratie ist unabdingbar, um die Polykrisen unserer Zeit zu lösen“, stellt er dabei fest.

Wachstum ist kein Gesetz

Aber da wird gern von einer anderen Art Wirtschaften geträumt, deren Grundlagen nie erklärt werden. Auch Schlagwort wie Degrowth erklären die Lösung nicht. Doch wie soll man dann auf den Kapitalismus schauen, der uns in den letzten 30 Jahren als Entfesselung und Kontrollverlust im Sinne des Neoliberalismus begegnet ist?

Aber Kapitalismus ist eben keine Naturerscheinung, sondern von Menschen gemacht – mit all ihren auch schlechten und rücksichtslosen Eigenschaften.

„Kapitalismus bedeutet, dass nicht primär der Staat, sondern Menschen und Unternehmen die Entscheidungen über die Verteilung knapper Ressourcen wie Kapital und Beschäftigte treffen, und dass der Preis für Güter und Dienstleistungen ein wichtiger Mechanismus dafür ist. Ein funktionierender Kapitalismus bedeutet Freiheit für jeden Einzelnen, selbst über das eigene Leben zu entscheiden und nicht nur die Erfolge des eigenen Handelns zu realisieren, sondern auch für die eigenen Risiken und Fehler einzustehen“, formuliert Fratzscher seine Sicht auf das eigentlich Positive am kapitalgetriebenen Wirtschaften.

Aber er sieht auch, wie einzelne große Player die Spielbedingungen auf dem Markt radikal zu ihren Gunsten verbiegen.

„Kapitalismus bedeutet nicht, dass die dezentralen Entscheidungen Einzelner im Markt immer und überall besser sind als staatliche Allokationen und Entscheidungen. Denn allzu häufig scheitert der Markt, wenn Menschen und Unternehmen zulasten anderer den Markt dominieren oder große Risiken nur durch die Gesellschaft als Ganzes getragen werden können. Ein Marktversagen rechtfertigt nicht die Abschaffung des Marktes, sondern erfordert ein Eingreifen des Staates, um ein solches Versagen zu verhindern.“

Ohne den Staat geht’s nicht

Da hat er aber etwas gesagt. Denn genau dieses so dringend notwendige Eingreifen des Staates verdammen ja die neoliberalen Vorstellungen vom Markt, die auch in den meisten deutschen Parteien vertreten werden – von CDU bis FDP. Nur ja keine regulativen Eingriffe, um die Exzesse am Markt einzuhegen oder gar so etwas wie die Bankenkrise von 2008 zu verhindern.

Und genau deshalb singen sie fortwährend das Mantra vom „schlanken Staat“, das heißt von einem Staat, der den großen Raubtieren keine Fesseln anlegen kann, weil er schwach ist.

Und auch das Mantra vom Wachstum stellt Fratzscher infrage.

„Auch der zweite Teil des Arguments, Kapitalismus brauche immer und überall Wachstum und sei daher unvereinbar mit einem nachhaltigen Wirtschaften und Degrowth, ist falsch. Es gibt genug Länder, beispielsweise Japan, die auch trotz zweier Jahrzehnte ohne Wachstum am Kapitalismus festhalten“, schreibt Fratzscher.

Und wird dann noch deutlicher, weil einige Kommentatoren immer wieder behaupten, Wohlstand sei ohne Wachstum nicht zu haben: „Wachstum bedeutet nicht zwingend mehr Wohlstand, denn Wohlstand ist so viel mehr als die Produktion materieller Güter und Dienstleistungen: Er beinhaltet auch Dinge wie Gesundheit, sozialen Frieden, Solidarität und eine intakte Familie, die finanziell unmöglich gut gemessen werden können.“

Dazu braucht es keine wachsenden Berge von Konsumgütern, die immer schneller verschleißen und die Berge von Wohlstandsmüll vergrößern, während die natürlichen Ressourcen sinnlos verbrannt werden.

Aber wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Ganz gewiss erst dann, wenn wir endlich aufhören, die falschen neoliberalen Mantras nachzubeten. Denn das nutzt nur den rücksichtslosesten Playern auf dem Spielfeld, den Superreichen und den Aktionären, die ihre Gier zum Maßstab des Wirtschaftens machen.

Der Missbrauch verhindert Transformationen

„Es ist der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie, der dem im Wege steht. In einer vom Neoliberalismus geprägten Wirtschaftspolitik der letzten 30 Jahre ist es einigen wenigen gelungen, den marktwirtschaftlichen Wettbewerb in ihrem Sinne zu verzerren und demokratische Institutionen zu manipulieren“, kommentiert Fratzscher. Und geht dann auf die ganz konkrete Politik der letzten Jahre ein, die allesamt Jahre einer radikalen Umverteilung von unten nach oben waren.

„Auch in den Demokratien werden Gesetze, Steuern und Finanzpolitik so umgestaltet, dass sie zu einer massiven Umverteilung von unten nach oben geführt haben, mit immer extremeren Ungleichheiten bei Vermögen und auch Freiheiten. Die mächtigen Wirtschaftsinteressen missbrauchen den Staat in einer Art Vollkasko-Mentalität – Gewinne werden privatisiert, Verluste und Risiken sozialisiert“, stellt Fratzscher fest.

„Dieser Missbrauch hat entscheidend zur Handlungsunfähigkeit vieler Regierungen in Demokratien beigetragen und damit auch zur Unterstützung für antidemokratische Politik und Einschränkungen der Freiheit.“

All das war Wasser auf die Mühlen der Populisten. Oder mal so formuliert: Der grassierende Populismus ist ein Findelkind des Neoliberalismus. Und das Schlimme daran ist: Er singt auch noch dessen Lieder. Die gute Nachricht aus Fratzschers Sicht ist: Menschen fast überall auf der Welt unterstützen demokratische Werte wie Meinungsfreiheit, Schutz von Eigentumsrechten und freie Wahlen heute genauso stark wie vor 30 Jahren (PDF).

Seine Hoffnung: „Kapitalismus und Demokratie sind daher die besten Voraussetzungen für die Lösung unserer Polykrisen. Ziel muss es sein, beide wieder zum Funktionieren zu bringen, sodass sie ihre Versprechen erfüllen können.“

Und wie er das formuliert, macht erst deutlich, was für eine Herkulesaufgabe er da den aktuellen Politikern stellt, die jetzt irgendwie reparieren müssen, was opportunistische Regierungen seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher an Zerstörungen angerichtet haben. Und das unter enormem Druck, denn Klima- und Artenkrise hören ja nicht einfach auf.

Gleichzeitig sorgt der Lärm der Populisten dafür, dass an ein kluges Regieren mit einer Perspektive über den Tag überhaupt nicht zu denken ist. Doch genau diese Perspektive braucht man, wenn man endlich so etwas etablieren will wie eine Politik für Generationen.

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