Für die einen ist woke zu einem Kampfbegriff geworden, die anderen benutzen das Wort verächtlich. Den Begriff gibt es seit den 1930er Jahren und im Grunde meint er vor allem eine – wache – Aufmerksamkeit für die Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Anfangs vor allem in Hinsicht auf die Diskriminierung schwarzer Amerikaner. Aber dabei geht etwas verloren, stellt Susan Neiman in ihrem durchaus kämpferisch gemeinten Essay fest.

Einem Essay, mit dem sie auch etwas in Erinnerung ruft, was den meisten Linken heutzutage gar nicht mehr bewusst ist. Erst recht, wenn sie sich für Linkssein inzwischen schämen, weil jahrzehntelange Verächtlichmachung jeden solidarischen und humanistischen Handelns durch reaktionäre Wortverdreher Worte wie Links, Sozialismus, Humanismus, Solidarität geradezu zu Schimpfworten gemacht hat. Und die linken Bewegungen in den westlichen Nationen haben, wie es aussieht, kein Gegenmittel dagegen, lassen also Reaktionäre aller Art bestimmen, wie auf menschliche Haltungen zur Humanität tatsächlich reagiert wird.

Dass Linkssein aber nicht in Formatierungen wie Kommunismus oder gar Marxismus-Leninismus wurzelt, macht die amerikanische Philosophin, die in Berlin lebt, quellenreich und pointiert deutlich.

Die Hebel der Macht …

Denn neben der Verächtlichmachung linken, progressiven Denkens gibt es auch noch eine weitere Verächtlichmachung, die an die Wurzeln geht: die Behauptung, ausgerechnet die Aufklärung sei schuld an Dingen wie Kolonialismus und Rassismus. Das teilweise von Philosophen vorgetragen, die in der Attitüde der Demaskierung gesellschaftlicher Verhältnisse ausgerechnet jene geistige Bewegung verleumden, die das Nachdenken über Freiheit, Demokratie, Menschenwürde überhaupt erst in den gesellschaftlichen Diskurs getragen hat.

Und das Bittere daran ist, dass sich auch heutige Linke dabei auf Philosophen berufen, die tatsächlich eher aus der reaktionären Ecke kommen – wie der wirkmächtigste Jurist des deutschen Faschismus Carl Schmitt oder der französische Philosoph Michel Foucault, der letztlich alles auf die Machtfrage reduziert und ein zutiefst pessimistisches Bild der menschlichen Entwicklung liefert.

Wobei Neiman Foucault in einem Punkt durchaus recht gibt: „Die Hebel der Macht sind unsichtbar, und wir wissen nicht, wie wir sie bewegen sollen.“ Was mit der Ideologie zu tun hat, mit der den Bürgern der westlichen Nationen die Vorherrschaft der Ökonomie über die Politik verkauft wird: dem Neoliberalismus. Manche halten das ja für eine rationale ökonomische Lehre. Aber das ist sie nicht. Es ist die Moral des entfesselten (deregulierten)  Marktes, die sich hier als „Wissenschaft“ deklariert. Aber das Schlimme ist: Sie steckt längst in den Köpfen. Politiker plappern die „Lehrsätze“ dieser Ideologie gedankenlos nach, Finanzminister setzen die Prämissen ohne jede Überlegung um.

Neiman: „Dem Neoliberalismus zufolge ist unser Glück am besten mit deregulierten Märkten gedient, die ein Immer-mehr an Waren herstellen, die zu unserer Zerstreuung und auf den Verfall ausgerichtet sind. Widerspricht man dieser Auffassung und weist darauf hin, dass Menschen wahrscheinlich eher gedeihen, wenn sie produktiv in einer Gemeinschaft arbeiten, wird man als alter Hippie oder verkappter Kommunist belächelt – dabei bestätigen alle seriösen empirischen Studien genau das.“

Alternativlos?

Und dieses Denken, das in den Köpfen selbst linker Politiker steckt, formt unsere Welt. Formt die Vorstellungen der Menschen davon, was die einzig mögliche Wirtschaftsform ist. Und schürt natürlich und folgerichtig Ängste. Denn dann gibt es – wie Margaret Thatcher einst sagte – eben keine Alternative. Dann gibt es nur den katastrophalen Weg, auf dem sich unsere Welt gerade befindet – und keinen Ausweg.

Und hier genau steckt das Dilemma des linken Denkens, das auch schon Slavoj Žižek in seinem Buch „Ein Linker wagt sich aus der Deckung“ ansprach: Statt sich wirklich um die großen, brennenden Themen zu kümmern, um die sich linke Bewegungen jetzt kümmern müssten, verstricken sich die linken Parteien in Identitätspolitik – und gehen damit den Reaktionären erst richtig auf den Leim. Was dann der Aufhänger für Neimans sehr kämpferischen Essay war. Denn das woke Engagement für Minderheitenrechte kann auch zum Problem werden, wenn dabei Identitäten auf einmal zu Ausschlusskriterien werden, es also auf einmal gute und schlechte Identitäten gibt.

„Allein die bloße Unterteilung von Mitgliedern einer Bewegung in Verbündete und andere erschüttert die Fundamente einer tiefgehenden Solidarität und zerstört die wahre Bedeutung des Linksseins“, schreibt Neiman. Und die besteht nun einmal seit der Aufklärung aus dem Universalismus, den man bei den wirklich kritischen Köpfen der – europäischen – Aufklärung nun einmal geballt findet. (Und bei klugen Köpfen außerhalb Europas übrigens genauso.) Sie waren es, die Menschenwürde und Menschenrechte überhaupt erst einmal ins Zentrum von Philosophie und politischer Bewusstwerdung setzten. Man findet die universellen Menschenrechte nicht erst in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die neu gegründete UNO, deren Genese 1946 begann.

Der Universalismus ist zentraler Baustein aufklärerischen Denkens.

Ein neues Bild vom Menschen

Und an der Stelle wird Neiman richtig deutlich, weil gerade aus konservativen Kreisen die dummdreisten Vorwürfe immer häufiger kommen, ausgerechnet die führenden Köpfe der Aufklärung wären Rassisten gewesen und vom kolonialen Denken infiziert. Verdrehung historischer Tatsachen gehört natürlich zum Repertoire rechter Ideologen. Doch wer mit Neiman die Originale liest – von Voltaire bis Rousseau –, der merkt, dass diese Männer natürlich Kinder ihrer Zeit waren. Aber auch, dass sie schreibend dazulernten. Aufklärung für sich selbst ernst nahmen.

Ideen kommen nicht aus der Luft, sie werden geboren, sie entwickeln sich. Und man kann gerade den französischen Aufklärern und auch dem Deutschen Kant regelrecht dabei zuschauen, wie sie das moderne Bild des freien, seiner selbst bewussten Menschen entwickeln in ihren Essays und Geschichten. Ein Menschenbild, das wir heute so verinnerlicht haben, dass kaum noch einer weiß, dass es die Aufklärer waren, die es skizzierten.

Wir schauen auf die Geschichte mit den verinnerlichten Werten unserer Vorgänger. Und kommen uns dann oft wer weiß wie besser vor, ohne zu registrieren, dass es Leute wie Voltaire, Diderot oder Kant waren, die überhaupt erst die Grundlagen für das humanistische Denken der Gegenwart gelegt haben. Dass sie dabei selbst noch „befleckt“ waren von den anerzogenen falschen Vorstellungen ihrer Zeit, sollte eigentlich nicht überraschen, gerade bei der Sicht auf Geschlechtergerechtigkeit wird das deutlich.

Aber es ist infam, diese Denker für das verantwortlich zu machen, was wirkliche Rassisten und Kolonialisten angerichtet haben – gern mit dem Mäntelchen, ja die Menschenrechte in alle Welt exportieren zu wollen. Und dann doch nur Völker zu unterjochen, Sklaverei zu betreiben und ihre Bereicherungssucht mit humanem Versprechen zu behängen. Und das ausgerechnet von einer Denkschule aus, die in Wirklichkeit immer wieder die Moral der Macht gepredigt hat, die Unveränderbarkeit der Zustände und die Unmöglichkeit jeglichen menschlichen Fortschritts.

Die Stärke der Konservativen

Denn das war immer die Stärke der Konservativen: menschlichen Fortschritt zu leugnen, den Menschen zu einem sündhaften und von Natur aus bösen Wesen zu erklären, das gezähmt werden muss, und stattdessen die Prinzipien der Macht zu predigen. Und damit den Menschen auch die Hoffnung auszureden, es könnte jemals gerechter und menschlicher zugehen.

Und die Ideologie des Neoliberalismus gehört genau hierher. „Die Mächte von heute sehen anders aus: Ökonomen verkünden, zum Neoliberalismus gebe es keine Alternative, und ziehen zur Unterstützung der angeblichen Naturgegebenheit ihrer Ideologie die Evolutionstheorie heran“, schreibt Nieman und betont: „Die Denker der Aufklärung hielten die Vernunft nie für unbegrenzt, weigerten sich jedoch, sich von irgendeiner Obrigkeit die Grenzen des Denkbaren ziehen zu lassen.“

Nur so sind überhaupt erst die Ideen für eine gerechtere Gesellschaft entstanden. Ganz zu schweigen von den Gedanken zu den universellen Menschenrechten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten sollten. Alle, ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe, kulturelle Herkunft oder geschlechtliche Identität. Das ist bei ihnen unteilbar. Und für Neiman ist es die wichtigste Grundbedingung linken Denkens: ein unbedingter Universalismus, der sich gründlich unterscheidet vom zelebrierten Stammesdenken der Rechten.

Und das verbunden mit einem steten Ringen um Gerechtigkeit für alle Menschen, das sich radikal unterscheidet von den Denkkategorien der Macht, die in rechten Denkschulen gepflegt wird und auch das neoliberale Denken bestimmt, das immer so tut, als wären Konsumenten freie und selbstentscheidende Marktteilnehmer, die jederzeit rationale Entscheidungen träfen. Wäre das der Fall, gäbe es keine Werbung, denn die operiert genau mit dem Wissen, dass Menschen verführbar sind, keineswegs mündig und schon gar nicht informiert über alle Tricks, Lügen und Verkaufsstrategien anonymer Konzerne, denen nichts ferner liegt, als zum Wohlergehen der Menschheit zu agieren.

Fortschritt ist denkbar

Und dann ist da die Frage des Fortschritts, nicht nur des technologischen Fortschritts, den die Konzerne der neoliberalen Marktwelt natürlich lieben, weil sie damit die Käufer immerfort auf die Jagd nach immer neueren Produkten schicken können.

Es geht um den menschlichen Fortschritt und die Entwicklung unserer Gesellschaften hin zu mehr Humanität, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Das ist selbst in den demokratischen Staaten des Nordens ein elend langer Prozess. Aber mit mehreren Beispielen zeigt Neiman auch, dass wir oft genug blind geworden sind für die tatsächlich schon erreichten Fortschritte.

Wir sehen, dass das Glas erst halb voll ist – für Bewunderer voller Gläser eine Katastrophe. Aber dass sich reaktionäre Akteure weltweit darum bemühen, die so schwer erkämpften Fortschritte seit der Aufklärung wieder abzuwickeln, das blendet Neiman nicht aus. Im Gegenteil: Ihr ist sehr wohl bewusst, dass es bei jedem mühsamen Schritt zur Verbesserung immer wieder enorme Anstrengungen der reaktionären Akteure gibt, die Dinge wieder zurückzudrehen und den Leuten einzureden, früher sei alles besser gewesen.

Gleichzeitig mit der Behauptung, es brauche wieder einen „starken Mann“, der dann alles wieder in rechte Bahnen brächte. Als wären die Menschen gar nicht in der Lage, selbst gute Lösungen zu finden. Die Evolutionsbiologie wird dann herangezogen, um gleich mal den Genen selbst Egoismus zuzuschreiben und den Menschen einzureden, sie seien schon seit dem Verlassen der Wälder vor allem böse, egoistisch und auf Zwist und Krieg bedacht. Der Krieg also als grundlegender Zustand aller menschlichen Beziehungen, nur gezähmt durch einen starken Staat. Das ist das Weltbild der Konservativen.

Eine Herleitung, die das Machtdenken moderner Ideologen in die Vorzeit projiziert, ohne dass es dafür auch nur die geringsten Belege gibt. Im Gegenteil: Die menschliche Geschichte erzählt vor allem von menschlicher Kooperation. Nicht Kriege haben den menschlichen Fortschritt hervorgebracht (wie schon Heraklit behauptete), sondern Kooperation, menschlicher Gemeinsinn. Erstaunlich, dass Sudan Neiman das noch betonen muss. Aber sie hat ja erlebt, wie in den letzten 20 Jahren die systematische Verunglimpfung der Aufklärung inszeniert wurde und die Linken sich das gefallen ließen. Und sich stattdessen auf „woke“ Themen zurückgezogen haben. Mit denen man sich immer gut fühlt, weil man sich damit ja wirklich für diskriminierte Gesellschaftsgruppen einsetzt.

Hobbes war kein Aufklärer

Aber dabei ist das Große und Ganze aus dem Blick geraten. Von einer fundierten Wirtschaftskritik ist aus linken Kreisen kaum noch etwas zu hören. Womit sie auch in gefährlichem Maße blind geworden sind, denn wer verinnerlicht hat, dass das neoliberale Marktdenken alternativlos ist, der untersagt sich ja selbst, über Alternativen überhaupt nachzudenken. Obwohl alle sehen, dass die entfesselten Märkte und unkontrollierten Megakonzerne gerade unseren Planeten zerstören.

Ist ein anderes Wirtschaften denkbar? Natürlich. Das zeichnet ja linke Denker schon immer aus, dass sie sich der Möglichkeiten menschlichen Handelns immer bewusst waren. Nur schämen sie sich mittlerweile, den Begriff links noch zu benutzen (obwohl das nichts anderes als die Beschreibung der Sitzverteilung in der französischen Nationalversammlung war, wo die Demokraten und Republikaner links saßen und die Royalisten rechts). Da nennen sie sich lieber Progressive, was natürlich auch zutrifft, aber eher auch verkleistert, dass es generell immer um die Frage geht: Wie können wir das menschliche Miteinander verbessern? Wie ist echter menschlicher Fortschritt machbar? Wie bekommen Menschenwürde und Gerechtigkeit ihre Geltung?

Und da darf man auch aufpassen, welche Philosophen und Staatstheoretiker jeweils ins Spiel gebracht werden, ob die zutiefst humanistischen Franzosen oder ein vom Machtdenken besessener Thomas Hobbes, der dann meist genannt wird, wenn man das Böse und Unbeherrschte im Menschen als Problem für eine besser regierte Gesellschaft benennt. Neiman zitiert dazu Philip Kitcher, der in „Vaulting Ambition“ schreibt: „Wenn wir uns ansehen, wie die populäre Soziologie den menschlichen Altruismus behandelt, stellen wir fest, dass sie auf unbegründete Hobbes’sche Spekulationen zurückfällt, die weder in der Biologie noch in einer anderen Wissenschaft ein Fundament haben.“

Und weil auch das Wort Altruismus mittlerweile so selten gebraucht wird, auch dazu noch die Verlinkung auf Wikipedia.

Ein realistischeres Bild vom Menschen

Es geht immer um das Bild, das wir vom Menschen haben. Ob wir im Menschen ein Raubtier sehen oder den zur Doktrin erhobenen homo oeconomicus, mit dem jeder Mensch einfach zum permanenten Nutzenmaximierer erklärt wird. Oder ob wir den Menschen als geselliges, zu Kooperation und Solidarität fähiges Wesen sehen, das im gemeinsamen Bemühen auch Probleme löst und die Dinge zum Besseren und Gerechteren verändert.

Neiman hat recht, wenn sie hier ein riesiges Manko heutiger Linker sieht, die sich in Identitätskämpfen aufreiben, aber die eigentlichen universellen Themen des Menschseins aus dem Blick verloren haben. Kleinlaut wird irgendwie die Marktwirtschaft in ihrer völlig entfesselten Form akzeptiert. Obwohl unübersehbar viel mehr Menschen unter den Folgen des verwilderten „Wachstums“ leiden als nur die meist benannten diskriminierten Gruppen.

Oder um mit Susan Neiman abzuschließen: „Links sein heißt: hinter der Idee zu stehen, dass Menschen gemeinsam für sich und für andere beträchtliche Verbesserungen ihrer realen Lebensumstände erwirken können.“

Susan Neiman „Links ist nicht woke“, Hanser Berlin, Berlin 2023, 22 Euro.

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