Leipziger Verlage bringen manchmal kleine Schätze hervor, mit denen man nicht gerechnet hat. Bücher, die daran erinnern, dass die so schwer errungene Demokratie zutiefst gefährdet ist durch Korruption, Opportunismus, Populismus, Klientelpolitik. Das betrifft auch ein kleines Land, das selten mal im Rampenlicht steht: die Slowakei, in der seit Jahren populistische Politiker regieren, die den Staat wie eine Pfründe betrachten und Menschen wie Helga und Martin ins Abseits drängen. Beide sind Wissenschaftler und haben ihren Instituten europäische Geltung verschafft. Doch dann wurde sie ausgebootet.
Nicht von Forschern, die besser waren, sondern von Funktionären, die Lehrstühle und EU-Förderungen wie Pfründen verwalten und vor allem ihre eigenen Leute unterbringen wollen, egal, ob dabei das Institut sein Profil verliert und die Hochschule den Anschluss an die Spitzenforschung. Das Buch „Dauern“ ist ein einziges Grübeln darüber, wie das passieren konnte.
Auch wenn Helga und Martin wissen, welche Leute da die Strippen gezogen haben, wie sich Karrieristen auf die entscheidenden Schaltstellen hieven ließen und nicht nur dort für Frustration und Stillstand sorgten.
Die Liebe bewahren
Denn das Phänomen ist im ganzen kleinen Land zu beobachten, das in den letzten Jahren einen ähnlichen Weg gegangen ist wie Ungarn. Medien wurden gleichgeschaltet, Spitzenämter wurden mit Parteisoldaten besetzt, die Politik richtet sich eher nach Moskau aus, obwohl die Fördergelder aus Brüssel kommen. Und sowohl Helga als auch Martin erleben, wie ihre Institute sich verändern, wie Forschungsprojekte blockiert werden, EU-Gelder umgelenkt werden und die Forschung wieder auf Provinzniveau sinkt.
So wie das überall passiert, wenn Opportunisten in die entscheidenden Ämter kommen und alle Leute hinausekeln, die ihnen widersprechen, einen eigenen Kopf haben und wirkliche Projektideen, mit denen man auch international für Aufmerksamkeit sorgen kann.
Und dabei geht es in „Dauern“ eigentlich nur um eine Liebesgeschichte. Denn beide staunen eigentlich nur, dass sie über all die Jahre noch beisammen sind, dass ihnen auch die Jahre, in denen mal der eine, mal die andere für längere Zeit im Ausland war, nicht die Grundlage für das gemeinsame Leben entzogen haben. Seitensprünge gab es auch. Es gibt keine Ehen ohne Krisen.
Aber schon mit den Szenen ihrer ersten Bekanntschaft merkt man, dass die beiden sich gar nicht so zufällig getroffen haben. Beide geprägt durch eigensinnige, gar dissidentische Elternhäuser. Helgas Vater gar ein alter Kämpfer aus der Zeit im Untergrund, der nach dem Krieg und der Entstehung der CSSR eine Rente als Widerstandskämpfer ablehnte. Denn kaufen lassen wollte er sich nicht, schon gar nicht bezahlen lassen für so etwas Selbstverständliches wie Aufrichtigkeit und Widerstandsgeist.
Das Ergebnis war auch für ihn schon früh: Ausgrenzung. Denn seine einstigen Genossen, die nun die Macht hatten, vertrugen Widerspruch und Kritik ebenso wenig. Und auf einmal scheint einem Vieles in dieser Geschichte aus der gar nicht so fernen Slowakei sehr vertraut. Denn wenn Menschen jahrzehntelang erzogen werden zum Ducken und Ja-sagen, dann wird das weitergegeben an die Kinder.
Dann sind auch die Menschen, die nach der Samtenen Revolution den neuen Staat formten, vorbelastet. Erst recht, wenn sich unterm Mäntelchen der Revolution die alten Netzwerke wieder neu etablieren und mit den altbekannten Methoden die staatlichen Ämter besetzen.
Der Kern des Populismus
Eine Zeit lang geht das gut, atmet das zu neuer Selbstständigkeit gekommene Land die Freiheit der neuen Zeit, können wissbegierige Menschen wie Helga und Martin die neuen Möglichkeiten nutzen, Forschung auf europäischem Niveau betreiben und die Forschung des kleinen Ländchens aus ihrer provinziellen Nische holen.
Aber dabei übersehen sie, wie sich die alten und neuen Strippenzieher nach und nach wieder auf die entscheidenden Posten bringen und wieder ihre alte Art des Denkens und Regierens installieren. Denn für sie bedeutet Freiheit immer Anarchie, Widerspruch, Gefahr. Sie haben den Wunsch nach absoluter Kontrolle zutiefst verinnerlicht. Denn das ist der eigentliche Kern des Populismus, egal, was diese Herren an Rednerpulten sonst noch von sich geben. Sie verachten die Freiheit. Sie wollen deshalb die absolute Kontrolle. Über alles.
Oder um Mária Bátorová selbst zu zitieren: „Kurz gesagt, diese heimliche – und doch sichtbare – Kontrolle hat die Struktur, die Art und Weise und die Methodik der Praktiken des totalitären Regimes und der Kommunistischen Partei übernommen. Aber es ist noch raffinierter, versteckter und schlimmer, denn es gibt keine Toleranz. Überschreitungen und Freiheit, intellektueller, reflektierender Ansatz werden gnadenlos mit Verbannung aus dem Netz bestraft – für immer! (…) Sie haben auch Zeitungen aufgekauft, diejenigen Institutionen besetzt, die über staatliche Gelder verfügen, sie haben sich über viele Jahre die Macht gesichert …“
Das lässt beide nicht schlafen. Obwohl sie eines gelernt haben: niemals aufzugeben, gerade deshalb, weil es so ist. Unbedingt die eigene Forschung weiterzutreiben, eigene Beiträge an renommierte internationale Zeitschriften einzureichen, in der Spitzenforschung im Gespräch zu bleiben und auch weiter zu wissenschaftlichen Kongressen eingeladen zu werden.
Wenn Freiheit (wieder) verloren geht
Auch wenn es beide schmerzt, wie die Institute, an denen so vorher tätig waren oder die sie gar – wie Martin, der Geologe – erst aufgebaut hatten, sich wieder in Provinzeinrichtungen verwandeln, mit lauter Ja-Sagern, die dem Leiter nicht widersprechen. Doch etwas Wesentliches ist dabei – wieder einmal – verloren gegangen. Genau das nämlich, wofür auch schon die Eltern der beiden gekämpft hatten. Das, wofür 1989 die Samtene Revolution geschah.
Wieder werden die eigensinnigen und selbstbewussten Menschen aussortiert. „Und jeder, dem es in diesem Land um etwas Besseres ging, wurde wieder zum Außenseiter, zu einem seltsamen Individuum. E /sie hat sich sozusagen selbst aussortiert und scheint verschwunden zu sein, er/sie wird unsichtbar, wird weder vom staatlichen noch vom privaten Fernsehen gefördert, auch nicht von den staatlichen Zeitschriften, die im Eigentum der Wertezerstörer sind und die mit Steuergeldern gefördert werden.“
Sie sind nicht allein. Ums ich herum haben beide einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten, die sich freilich ganz ähnlich ohnmächtig fühlen. Denn wo sie keinen Zugriff mehr auf irgendeine Art Öffentlichkeit haben, sind sie unerhört und unsichtbar. Auch deshalb greifen Populisten zuallererst die Medien an. Das hat alles System.
Obwohl sie davon profitieren, dass die Eigensinnigen ihr Leben lang für die Freiheit gekämpft haben. Sie profitieren davon, dass sich die Mutigen nicht angepasst haben, immer berufliche und persönliche Nachteile in Kauf genommen haben, weil sie für etwas gekämpft haben, das überhaupt nicht abstrakt ist, wie Helga feststellt: „Die Freiheit, deren Verlust sich ganz konkret manifestiert hat.“
Denn den Verlust der Freiheit spürt nur der, der sie gelebt hat. Und so ist das Buch eigentlich ein großes Nachdenken darüber, warum so viele Menschen bereit sind, auf ihre Freiheit zu verzichten, sich verbiegen und krümmen, nur um das neu eingerichtete System zu passen.
Was die Liebe trägt
Daraus könne für Helga und Martin nächtelange Gespräche werden. Während die Autorin immer wieder zurückblendet in die Zeit ihres Kennenlernens, der Krisen in ihrer Ehe und in die geradezu sachlich unaufgeregten Momente, in denen sie wieder zueinander gefunden haben, weil sie miteinander etwas hatten, was auch wilde Liebschaften nicht ersetzen können: ein großes Vertrauen darauf, dass sie sich aufeinander verlassen können.
Sich nicht im Stich lassen, wenn es hart wird, und bestärken, wenn es darum geht, doch wieder etwas für die eigene Forschung zu unternehmen. Sich einfach nicht entmutigen zu lassen von den Leuten, die die Fördertöpfe an sich gerissen haben und nur noch Speichellecker befördern, während ihre eigenen Projekte mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt werden.
Und sie sind nicht allein mit den Erfahrungen. Auch ihre Bekannten können davon erzählen. Und es geht nicht nur um Stolz und Charakter. Es geht auch um das, was so gern Exzellenz genannt wird, obwohl der Begriff so gern falsch verwendet wird. Es geht um Forscherehrgeiz, echte Neugier, den Willen, wirklich Außergewöhnliches zu leisten und sich ganz der Forschung zu widmen.
Alles Tugenden, die in einem opportunistischen System keinen Platz mehr haben. Weshalb autoritäre Staaten aller Bauarten stets auch unter fehlendem Knowhow, fehlender Spitzenleistung leiden. Denn genau das verhindern sie, sortieren sie aus. Denn diese Tugenden wachsen nur in Freiheit.
Und auf einmal merkt man: Das betrifft auch den Westen. Nicht nur, weil Leute wie Trump die Macht dazu missbrauchen, Universitäten und Wissenschaft zu gängeln und zu beschneiden. Auch weil selbst scheinbar harmlose Politiker und Amtswalter geradezu besessen davon sind, alles kontrollieren zu wollen. Und sie merken es nicht einmal, wenn sie dann über die wachsende Bürokratie lamentieren. Denn die Bürokratie schwillt an, weil sie alles immer feiner und genauer und bis zum letzten Cent kontrollieren wollen. Und damit Menschen gängeln, die eigentlich nur die Freiheit zum Forschen brauchen.
Wie erzieht man zur Freiheit?
So betrachtet, ist Mária Bátorovás Roman ein Buch über wissenschaftliche Freiheit und ihre Gefährdung durch opportunistische oder gar korrupte Hierarchen. Und die Frage, die sich Helga und Martin immer wieder neu stellen, lautet eben nicht nur: Wie konnte es dazu kommen? Denn das wissen sie eigentlich.
Bratislava ist klein und überschaubar. Sie kennen die Typen, die ihnen ihre Arbeit erschwert haben. Aber ihnen geht es auch um ihre kleinen Kinder, die sie im selben selbstbewussten Geist erzogen haben, wie das schon ihre Eltern getan haben: Was bleiben ihnen für Möglichkeiten, wenn das durchkontrollierte System keinen Platz mehr für Selbstbewusstsein und Freiheit lässt?
Ein Problem, das zumindest anklingt. Denn diese Kinder verlassen das Land, gehen in den Westen. Und Länder wie die Slowakei bluten langsam aus. Aber genau das ist letztlich der einzige Weg: Die Kinder zu Freiheit und Neugier zu erziehen. Das klingt an, wenn scheinbar kleine Szenen mit Kindern und Enkeln erzählt werden. Szenen, die letztlich immer auf Fragen hinauslaufen, die Kinder dazu bringen, über das scheinbar Selbstverständliche in der Welt nachzudenken. „Kinder, wisst ihr, dass sich jeden Morgen in diesem Garten ein Wunder abspielt?“
So gesehen hat das Dauern im Titel weniger mit der Beharrlichkeit alter Felsen oder Bäume zu tun, sondern mit dem Sich-treu-bleiben beim Fragenstellen, beim Verteidigen von Freiheit und menschlichem Anstand. Und die Liebe gehört natürlich auch noch dazu, die – wie man hier in immer neuen Rückblenden miterleben kann – sehr viel mit Vertrauen zu tun hat. Dem Vertrauen, das zwei einander – komme, was da wolle – nicht im Stich lassen.
Mária Bátorová „Dauern“ übersetzt von Christel Spanik, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2025, 18 Euro.
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