Der Stoff, aus dem die meisten Bücher sind, ist das Leben der Autoren. Man lernt manchmal auch was dabei. Oder fiebert mit, weil einem die Erlebnisse nur zu vertraut vorkommen. Das Leben ist ein Roman. Das wissen zumindest begeisterte Leser. Aber es hat auch seine Tücken. Und die meisten davon stecken in unserem Kopf – ohne dass wir es wissen. Oder wissen wollen. Aber zum Glück gibt es ja Evelyn, die den Schwerenöter einfach mal für ihn unverhofft für zehn Tage in einen Schweige-Retreat schickt.

Das klingt erst mal komisch. Soll er einfach mal zehn Tage die Klappe halten? Aber es geht um mehr. Denn in einen Vipassana-Schweige-Retreat geht man freiwillig, um sich den eigenen Dämonen im Kopf zu stellen. Oder was immer einen da plagt.

Man weiß es ja nicht. Und oft genug schickt einen das Leben auf Holperstrecken, auf denen man die ganze Zeit das blöde Gefühl hat, fremdgesteuert zu sein, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht wollte. Oder einfach nicht wirklich da zu sein, wie dieser Adam, den Adam Fletcher die wirklich harten Tage im Retreat durchleiden lässt.

Denn die ersten Tage sind pures Leid. Und Fletcher lässt auch die Leser mitleiden. Die ersten Kapitel sind hart, angefüllt mit Meditationen, den verzweifelten Versuchen Adams, die Übungen irgendwie nachzuvollziehen und vor allem, seine Gedanken und Vorgedanken irgendwie in den Griff zu bekommen. Oder besser: sie zuzulassen.

Denn dazu ist das Schweigen da: Sich dem Gewühle im Kopf zu stellen. Und Distanz dazu zu gewinnen.

Außer sich

Nur: Wie soll das funktionieren, wenn sich ständig neue Gedanken der Ablenkung einfinden und um Aufmerksamkeit buhlen? Wenn der Kopf also gar nicht zur Besinnung kommt. So, wie es den meisten Bewohnern unserer von Ablenkung geradezu besessenen Gesellschaft ständig geht.

So ist ja nicht nur unsere Unterhaltungsmaschine. So ist längst auch unsere Arbeitswelt, unsere Politik, unsere Kultur – laut, marktschreierisch. Immerfort darauf bedacht, uns vom Gewahrwerden unserer eigenen Existenz abzubringen. Wir sind außer uns. Und auch Adam ist außer sich. Und je mehr sich die zehn Tage ihrem Höhepunkt zuneigen, umso wilder rebelliert er gegen die strengen Schweige-Regeln, flüchtet vor der Meditation, ist kurz davor, über den Zaun zu springen und einfach wegzulaufen. Woran er dann doch noch gehindert wird. Zu seinem Glück.

Denn hinter dem Wüten und Weglaufen steckt all das, was in den Köpfen vieler Männer permanent passiert. Frauen wissen das wohl. Frauen wissen über ihre Männer meist viel mehr, als diese sich je selbst eingestehen würden. Es ist eine wahre Geschichte. Selbst dann, wenn Adam Fletcher sie sich ausgedacht haben sollte.

Sein Adam im Buch jedenfalls steckt in einer tiefen Krise. Auch wenn er sich das nicht eingestehen will. Seit zwei Jahren versuchen nun er und Evelyn ein Kind zu bekommen. Zuletzt haben sie sich – wie so viele andere Paare auch – an eine Klinik gewandt, um es mit einer künstlichen Befruchtung zu probieren. Doch der Teststreifen zeigt kein positives Ergebnis.

Und Adam flüchtet lieber in sein Büro, um den ganzen für ihn quälenden Gesprächen mit Evelyn auszuweichen, die natürlich selbst erst recht am Rad dreht. Mit Mitte 30 läuft die Uhr langsam ab und Evelyn ist kaum noch sie selbst. Und will natürlich reden und die Last loswerden, die sie immer stärker drückt. Nur: Adam ist nicht da.

Der flüchtige Adam

Auch nicht, wenn er da ist. Und selbst die gepackte Tasche, die ihm Evelyn vor die Füße stellt, löst bei ihm widersprüchlichste Gefühle aus. Ist das jetzt ein Rausschmiss oder eine Chance?

Er braucht tatsächlich die ersten fünf Tage im Retreat, um seine Dämonen überhaupt zulassen zu können. Denn sie stecken hinter all den Ablenkungen, die sein Kopf für ihn schon lange eifrigst produziert. Immer neue tolle Ideen, aus denen man vielleicht sogar Bücher machen kann.

Es ist so verlockend: Lauter Bücher schreiben über das wilde Leben, um sich nur ja nicht mit den Dämonen der eigenen Vergangenheit stellen zu müssen. Lange braucht Adam, um diesen Abstand zu finden, wie er im Retreat das Ziel ist: Vom Ufer aus gelassen den Dingen zuzuschauen, die da auftauchen. Und sie nicht gleich wieder wegzudrücken, zu überblenden, als wäre da nichts.

Ganz am Ende erzählt Fletcher eine recht ausgebaute Szene von einem Flug nach Adamistan, wo diese „Weisheiten“, die man sich im Lauf eines Lebens zugelegt hat, alle fein säuberlich in einem Aktenschrank stecken. Sätze, die man sich irgendwann angeeignet hat, um möglichst nie wieder mit all den bedrückenden Gefühlen von Scham, Erniedrigung, Verletzung zu tun zu haben, die da in der Erinnerung schlummern.

In Sicherheit …

Und man schaut diesem Adam ja richtig zu, wie er sich diesen Auslösern seines tiefsten Unbehagens widmet. Und so langsam auch zulässt, dass diese Erinnerungen passieren dürfen, ohne dass er sich wieder verkapselt und alles verharmlost, wie er sonst immer tat. Denn das, was uns in jungen Jahren an Scham und Verletzung beigebracht wurde, prägt unser Verhalten bis ins hohe Alter.

Erst recht, wenn wir uns dem nicht stellen. Dem verletzten Kind in uns, das uns beigebracht hat, solche Erlebnisse, die wieder in tiefster Beschämung enden könnten, zu vermeiden. Vermeidungsstrategien im ganzen Sinn des Wortes. Denn Männer müsen ja stark sein, dürfen keine Schwäche zeigen.

Wären da nicht die Evelyns, die ehrliche Zuneigung und ehrliche Antworten wollen.

Und den Satz werden viele Männer kennen – Frauen wahrscheinlich auch – für Adam wird er zentral: „Wenn ich die Kontrolle habe, bin ich in Sicherheit.“

Oder den: „Du kannst dich nur auf dich selbst verlassen.“

Adams Glück bei diesem Abtauchen in seine Erinnerung: Er hat eine fiktive Evelyn als Begleiterin, die ihn genauso streng beim Wort nimmt wie die richtige. Vielleicht ein Kunstgriff.

Aber das ist egal. Sie ist genau die richtige Person, die Adams Antworten und Ausreden bewerten kann. Ist er jetzt ehrlich mit sich? Oder weicht er wieder aus? Versucht er, den coolen Adam zu spielen, der alles im Griff hat?

„Echte Kerle”

Es lohnt sich wirklich, sich mit Adam durch die ersten Tage zu kämpfen. Auch wenn man sich immer wieder sagt: Was gehen mich eigentlich die Kopfabenteuer von Adam Fletcher an? Aber dieser Adam ist eben ganz und gar nicht die Ausnahme. Sondern hat mit Dämonen zu kämpfen, die viele männliche Bewohner dieser Ecke der Welt teilen – nur dass die meisten sie tief in sich verbergen und die Wut lieber gegen andere richten. Oder einfach bei jedem Mob mitmachen, der sich bildet.

Weil man da nur brüllen und prügeln muss und zeigen kann, was ein echter Kerl ist. Was eben die „echten Kerle“ so für ein Echtes-Kerl-Sein halten. Dumm nur, wenn man selbst das gejagte Opfer ist, das für alle Zeit verinnerlicht, dass man lieber davonrennt, wenn es ernst wird. Auch aus den Gesprächen mit der Geliebten.

So ist dieser Adam. Der sich dann auch eingesteht, dass er eigentlich wirklich wieder ans Weglaufen gedacht hat. Weg aus einer Situation, die er nicht unter Kontrolle hatte. Und wer auch nur ein bisschen nachdenkt über unsere aktuell immer bekloppter werdende Welt, weiß, dass darin immer mehr wilde Männer herumtoben, die zwanghaft immer mehr Kontrolle haben wollen über alles.

Als wäre die gesamte Gesellschaft besessen von immer mehr Kontrolle. Und wäre inwendig völlig in Panik vor dem Kontrollverlust.

Es ist nicht nur eine These. Es ist die Wirklichkeit: Das, was im Unterbewusstsein der Menschen tobt, verwandelt sich auch in reale Politik. Und die sieht dann entsprechend – bekloppt aus.

Denn Adam merkt am Ende, dass diese Kontrollbesessenheit ihn eigentlich daran hindert, sich auf sein eigenes Leben einzulassen. Wirklich lebendig werden wir ja erst, wenn wir die Kontrolle ausschalten können.

Denn dann tritt etwas in Kraft, was uns wirklich durchs Leben trägt: Vertrauen. Der ganze Kontrollzwang ist eine Botschaft, dass wir eigentlich kein Vertrauen haben. Nicht in uns selbst, nicht in die Geliebte, nicht in die Welt, in der wir uns aufhalten.

Wenn man das zu Ende denkt, merkt man, wie sehr dieser Kontrollzwang mit echter Panik verknüpft ist. Panik, dass alles zusammenbricht. Endzeitstimmung. Weltuntergang.

Alles unter Kontrolle …

Zu weit ausgeholt? Bestimmt nicht. Dazu gibt es zu viele Leute, die sich genau so benehmen und mit ihrer lärmenden Panik alle anderen ebenfalls in Panik zu versetzen versuchen. Menschen in Panik denken nicht mehr nach. Und rennen jedem „Retter“ hinterher.

Aber gerade darum geht es im Retreat nicht, in dem Adam sogar manchmal verzweifelt, weil er von den Kursleitern keine sinnvolle Antwort bekommt, wie er mit seinen Problemen nun umgehen soll. Er braucht sehr lange um zu begreifen, dass die Lösung nur sein eigener Umgang mit sich und seinen „Geistern“ ist. Und den „Glaubenssätzen“, die er sich früh zugelegt hat, um sich zu schützen.

Denn die Übergriffe in seinen früheren Jahren waren ja echt. Er konnte sich wirklich nicht wehren. Aber wenn man daraus Maximen fürs ganze Leben ableitet, bekommt man Probleme. Flüchtet sich in Arbeit (oder das Bücherschreiben), in Spiele, Ablenkungen, Politik, Karriere …

Wir sind eine abgelenkte Gesellschaft, in der die Meisten nichts anderes tun, als sich von ihren unartikulierten Dämonen abzuschotten, Kontrollroutinen einzuführen und jede Situation zu vermeiden, in der sie die Kontrolle zu verlieren drohen. Gelassenheit sieht anders aus.

Und wahrscheinlich werden viele Leser sich in diesem Adam sogar wiedererkennen, vor allem in seinen Mustern, unübersehbare Situationen auszuweichen und jede Begegnung zu vermeiden, in der sie schwach erscheinen könnten, verletzlich und nicht Herr der Situation.

Denn wenn einem dieses Selbst-Vertrauen in der Kindheit aus dem Leib geprügelt wurde oder in vielen anderen Situationen abhandenkam, dann ist es nicht ganz leicht, es im Erwachsenenalter doch wieder aufzubauen, den Mut zu finden, seinem eigenen Leben zu vertrauen.

Und sich einzulassen auf die Unberechenbarkeit, die in allen echten Begegnungen steckt. In denen mit der Geliebten sowieso.

Ob Adam nun wirklich ein besserer Liebhaber wird, weiß man natürlich nicht. Am Ende ist er werdender Vater und malt schon mal das Kinderzimmer. Und hat ganz offensichtlich auch schon wieder ein Buch geschrieben, das die Leser zumindest zum Nachdenken bringen dürfte über die „Glaubenssätze“, die man sich in früheren Jahren mal zugelegt hat und die einen irgendwie zu schützen schienen in einer völlig überdrehten Welt. Die aber vielleicht genau das Gegenteil bewirkt haben. Und vor allem verhindert haben, sein Leben mit dem Vertrauen zu leben, dass die Welt nicht gleich zusammenfällt, wenn man mal einen Fehler macht.

Adam Fletcher „In der Ruhe liegt der Wahnsinn“ C. H. Beck, München 2025, 20 Euro.

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