Schon die erste Auflage dieser Streitschrift des Wiener Politikwissenschaftlers und Sprachphilosophen Paul Sailer-Wlasits war 2016 eine dringliche Mahnung nicht nur an Politiker und Parteien, sondern auch an die Bürger, die sich noch immer oder schon wieder von Demagogen und Lügnern bezirzen und verführen lassen. Wahrheit ist ein rares Gut geworden in der Politik, Populisten lärmen sich in die Parlamente. Und nun kommt auch noch die für Lug und Trug bestens geeignete KI.

Die mit Intelligenz nichts zu tun hat. Auch da geht es munter weiter mit Lügen für Leichtgläubige, die nur zu bereitwillig alles glauben, was ihnen clevere Verkäufer über neue Produkte erzählen. Aber vielleicht ist es ja wirklich so: Die meisten Menschen sind nicht intelligent und sehen auch keinen Anlass, sich ihres eigenen Denkens zu befleißigen. Sie sind verführbar, laufen jedem Großmaul hinterher, glauben den größten Blödsinn, wenn nur genug Geraune drin steckt, und wählen bei der nächsten Wahl nicht nach ihren eigenen Interessen, sondern den gerade beliebtesten Clown.

So drückt es Sailer-Wlasits natürlich nicht aus. Er bleibt schön philosophisch, zurückhaltend und abwägend. Und er nimmt seine Leser und Leserinnen mit in die Geschichte der Politik und der Demokratie, die ja bekanntlich nicht erst 1789 begann, sondern vor 2.500 Jahren im antiken Griechenland. Zwar erst einmal tatsächlich nur für eine Elite, aber das genügte den griechischen Philosophen vollkommen, um auf der Agora von Athen selbst mitzuerleben und zu erfassen, wie eigentlich Mehrheitsmeinungen gemacht werden, wie Reden funktionieren und wie es begabten Rhetoren gelang, die anwesenden Herren Athener an der Nase herumzuführen und die Entscheidungen zu bekommen, die sie wollten.

Mit dem kleinen Unterschied, dass sie dergleichen Künste noch bewunderten und die Kunst der politischen Lüge für ein gerechtfertigtes Mittel hielten – nicht nur innerhalb der kleinen, überschaubaren Demokratie, sondern auch im Umgang der Staaten und Mächte miteinander.

Die Liebe zur Lüge

Und das keineswegs Erstaunliche ist, dass sich diese Haltung bis heute gehalten hat. In vielerlei Spielarten, denn wenn ein Staatsinteresse höher steht als das Interesse der Bürge oder der anderen Staaten an ehrlicher und transparenter Information, dann ist jede Geheimniskrämerei berechtigt, wird in öffentlichen Reden verschleiert, beschönigt, verschwiegen. Werden auch „Freunde“ beschwindelt und im Gegenzug ausspioniert.

Politik, so scheint es, ist nach wie vor das manifestierte Misstrauen. Und wer die Wahrheit ausspricht, dem ergeht es wie Julian Assange, der seit Jahren im britischen Gefängnis schmort, weil ihn die USA gern ausgeliefert haben möchten, um ihn öffentlichkeitswirksam zu verurteilen und dann bis zum Lebensende wegzusperren. Das Thema greift Sailer-Wlasits zwar nicht auf, aber den Zynismus staatlicher Geheimniskrämerei berührt er genauso. Wichtiger aber sind ihm die sieben „Todsünden“ innerhalb des für die Bürger erlebbaren politischen Verlautbarens. Und damit die zunehmende Radikalisierung des Lügens, Täuschens, des Sprachmissbrauchs in der Politik.

Denn am Ende geht es immer um Sprache – um ehrliches und respektvolles Sprechen – oder eben das Sprechen der Respektlosigkeit, der Abwertung, des Hasses, der bewussten Lüge und Verschleierung. Und ganz offensichtlich sind viele Bürger nicht in der Lage, diesen Unterschied wahrzunehmen. Was nun einmal auch mit Bildern zu tun hat. Sprache schafft Bilder – und damit Vorstellungen von dem, was ist oder sein soll.

Und man muss nicht bis zu Cicero zurückgehen, um studieren zu können, wie ein begnadeter Rhetor es mit – falschen – Bildern vermag, Stimmungen zu beeinflussen, Mengen zu beeindrucken und Entscheidungen zu kippen. Denn so ist unser menschliches Gehirn eben gebaut: Es reagiert auf Bilder – je plastischer, kräftiger und beängstigender, umso schneller.

Die Wucht der Bilder

So funktioniert Werbung. So mischen sich Unternehmen mit Lobbyismus und Public Relations (und viel Geld) in den öffentlichen Diskurs ein. Und natürlich in die Politik. Selbst wenn das Abschalten von deutschen Atomkraftwerken keine negativen Folgen hat, wird selbst nach dem Abschalten noch Angst verbreitet vor gigantischen Stromausfällen, dem großen Blackout.

Angst ist ein schlechter Ratgeber – aber nur für die Menschen selbst, wenn sie vernünftige Entscheidungen treffen wollen. Deswegen machen alle, die Menschen zu dummen Entscheidungen bringen wollen, Angst, nutzen alle Instrumente, diese Ängste zu schüren. Diese Kunst haben selbst die Nazis beherrscht. Weshalb natürlich Viktor Klemperers „LTI“ heute genauso aktuell ist wie vor 70 Jahren.

Sailer-Wlasits geht sehr dezidiert auf die „Politische Sprache als Rhetorik“ ein. „Das Ziel politischer Wahlkämpfe besteht im Ausspielen maximaler wirkungspolitischer Effekte zum Zwecke des Habhaft-Werdens des gesunden Menschenverstandes einer gesellschaftlichen Mehrheit“, schreibt er.

Und setzt „gesunden Menschenverstand“ gar nicht erst in Gänsefüßchen, weil er davon ausgeht, dass die Leser wissen, was kluge Köpfe zu diesem Topos der Einfältigkeit schon alles gesagt und geschrieben haben. Hier sei nur Albert Einstein zitiert: „Der gesunde Menschenverstand ist die Summe aller Vorurteile, die sich bis zum 18. Lebensjahr im Bewusstsein festgesetzt haben.“

Instrumente der Radikalisierung

In Wahlen wird also nicht die Vernunft angesprochen, schon gar nicht das kritische Denken, sondern so ziemlich alles, was sich in den Köpfen der Wahlbürger an Vorurteilen angesammelt hat. Und was zwischendurch in den Phasen der politischen Volksbespaßung auch eifrigst gedüngt und gepampert wird – vom Rassismus über den Sexismus bis hin zum Schaffen wirksamer Bilder der Abwertung, der Ausgrenzung, der Grenzüberschreitung.

In Kapitel 4 geht Sailer-Wlasits natürlich noch besonders auf die Rolle der a-sozialen Medien ein, wo „Verbalradikalismus und Hasssprache“ ihren fruchtbaren Boden gefunden haben und ohne Begreenzung ihr Unwesen trieben. Und natürlich die Nutzer selbst radikalisieren – erst im Sprachgebrauch, irgendwann dann auch im tatsächlichen Handeln. Denn wenn radikalisiertes Sprechen und verbale Grenzüberschreitung sich derart als normal darstellen und (digital) allgegenwärtig zu sein scheinen, dann formt das die Sicht der Menschen auf das, was in einer Gesellschaft als normal und akzeptabel gilt.

Weshalb – das sei hier zumindest angemerkt – dort auch der Hass auf die „Mainstream Medien“ geschürt wird. Denn diese Radikalisierung verträgt keine Kontrolle und keine kritische Hinterfragung. Und sie verachtet den respektvollen Ton im Umgang mit anderen Menschen. Tatsächlich ist sie permanent dabei, das andere immer neu zu erschaffen, zu markieren und zum Feindbild zu machen. Es wird gemobbt, gehatet und gecancelt. Und die in den jeweiligen Eskalationsspiralen befindlichen Menschen merken gar nicht mehr, wie sehr sie manipuliert werden und wie sie den Boden einer auf Respekt gebauten Gesellschaft längst verlassen haben.

Die Grenzen des Sprechens

Mit Emotionen kann man Kriege schüren. Das haben die Demagogen aller Couleur längst begriffen. In „Die Welt der Anderen“ geht Sailer-Wlasits genau darauf ein und erzählt, wie wichtig Grenzen und Demarkationslinien in der Welt des Sprechens tatsächlich sind (auch wenn in der enthemmten Sprache in der Regel von ganz anderen Grenzen die Rede ist) und wie das Begrenzen des Egos und seiner Rücksichtslosigkeiten erst den Boden dafür schafft, dass Menschen miteinander reden und eine friedliche Gemeinschaft bilden können.

Erstaunlich, dass das erst noch gesagt werden muss.

Aber genau das wollen ja Radikalisierer aller Art nicht. Sie wollen keinen gesellschaftlichen Frieden, kein gemeinsames Problemlösen, keinen Respekt vor dem anderen.

Und wohin das führt, war auch schon 2016 zu beobachten, als Sailer-Wlasits die erste Auflage seiner Schrift herausbrachte. Da polterte, log und lärmte sich ein Donald Trump gerade ins Amt des US-Präsidenten und sorgte damit für eine Spaltung des Landes, die auch sieben Jahre später noch da ist, wahrscheinlich noch tiefer als zuvor. Damals hatten wir es erst einmal nur mit Bots und Algorithmen zu tun, die das enthemmte Sprechen und Lügen befeuerten. Seit kurzem – darüber schrieb Sailer-Wlasits jetzt ein ausführliches siebentes Kapitel – ist eine „Künstliche Intelligenz“ namens ChatGBT dabei, Lüge, Täuschung und Verwirrung in den digitalen Welten noch um mindestens eine Potenz zu steigern.

Wer manipuliert da eigentlich?

Wobei das auch schon wieder falsch formuliert ist, denn ChatGPT ist erst einmal nur ein Werkzeug, ein anhand von riesigen im Internet verfügbaren Mengen an Bildern und Texten trainiertes Programm, das mit enormer Rechenleistung umsetzt, was seine Benutzer ihm auftragen. Ein Instrument. Nichts anderes. Die Ergebnisse aber sind das, was Menschen gewollt haben. Sie sind nicht einmal Kunst oder irgendwie neu, auch wenn einem das die Verkäufer dieser Technologie gern einreden.

Im Gegenteil: Da die Rechenmaschine nur aus den sowieso schon verfügbaren Informationen aus dem Internet ausrechnet, was der Nutzer als Ergebnis haben möchte, sehen diese Ergebnisse eben auch genau so aus – dasselbe, schon hundertfach publizierte, nun noch einmal neu zusammengeschmissen. Lerneffekt? Null.

Ein echtes Spielzeug für den „gesunden Menschenverstand“. Wobei sich Sailer-Wlasits nur zu sehr der Tatsache bewusst ist, welchen Schaden die Benutzung dieses Tools anrichtet, wenn es die digitalen Kanäle jetzt auch noch mit kaum noch erkennbaren Fälschungen und Lügen flutet.

Und das in einer Welt, in der Einbildung ganz offensichtlich noch die verbreitetste Bildung ist. Denn im selben Zug nimmt der Autor auch unsere falschen (und verlogenen) Vorstellungen von der Globalisierung aufs Korn, einem dieser Schlagworte von verantwortungslosen Konzernen, die mit der Ahnungslosigkeit ihrer Kunden gute Geschäfte machen. Denn schon ein kleiner Ausflug in die Welt da draußen jenseits der deutschen und österreichischen Selbstbespiegelung zeigt, dass wir keine Ahnung haben von den Ländern da draußen, den Menschen und Kulturen.

Wenn man aber nichts weiß darüber, lassen sich herrlich finstere Bilder malen von dem Schrecklichen, das sich da auf uns zuwälzt. Populisten lieben Ahnungslosigkeit, Provinzialismus und Selbstverliebtheit. Leute, die sich einbilden, ganz besonders auserwählt zu sein, lassen sich jeden Blödsinn einreden. Und andrehen.

Der Markt kennt keine Moral

Und der Autor merkt auch an, warum von „der Wirtschaft“ keine Hilfe zu erwarten ist. Denn wenn es um Profite geht, endet menschliche Moral. Dann wird getrickst, vernebelt, gekauft und verführt – mit allen Mitteln. „Moralisch untadeliges Verhalten in der Wirtschaft ist und bleibt kostspielig, schmälert die Gewinne und wird daher oftmals nur vorgetäuscht“, schreibt Sailer-Wlasits.

Was erst einmal nur eine Feststellung ist. In einem von gnadenlosem Wettbewerb geprägten Kapitalismus gibt es für Unternehmen kaum Spielräume für Rücksicht auf Ökologie, Artenschutz, gesellschaftlichen Zusammenhalt. Da geht es nur ums gnadenlose Verkaufen. Aber – und auch das deutet Sailer-Wlasits an – gerade deshalb hat das „Primat der Wirtschaft“ in der Politik nichts zu suchen. Auch wenn es einem diverse Parteien permanent einzureden versuchen. Nur die Politik kann all die Werte, die zum Überleben unserer Spezies wichtig sind, als Rahmen setzen und die enthemmte Wirtschaft damit bändigen.

Nur ein Nebengedanke, scheinbar. Aber er berührt den Kern dessen, was wir als Demokratie verstehen. Und warum unsere Demokratie derart deformiert ist und sich immer mehr Menschen demotiviert fühlen, enttäuscht und hoffnungslos. Denn das – falsche – Primat der Wirtschaft scheint jegliches Bemühen um eine bessere Welt ad absurdum zu führen.

Die Zerstörung des Dialogs

Ergebnis, so Sailer-Wlasits: „Anstatt in Zeiten der größten Krisen des Kontinents politisch zu werden, tendieren viele Menschen zur apolitischen Bequemlichkeit und verlieren sich in den sogenannten sozialen Medien, die bei genauerer Betrachtung das analoge Schweigen verstärkende und somit asoziale Medien sind.“

Sie sind „brandbeschleunigende Mittäter, und das trotz ihrer ausdrücklich auf das Dialogische gerichteten Strukturen.“ Wobei Letzteres eingeschränkt werden muss, denn zum Dialog gehören Regeln des Respekts, des Zuhörens, Verstehenwollens und des akzeptierenden Sprechens. Regeln, die es aber in all diesen asozialen Medien nicht gibt. Diese befördern tatsächlich das Ausgrenzen, Abwerten, die durch Algorithmen beschleunigte Exklusion. Also die systematische Zerstörung nicht nur des Miteinander-Sprechens, sondern auch der Gesellschaft.

Und damit die gesellschaftliche Sprachlosigkeit, wie Sailer-Wlasits letztendlich konstatiert: „Und nicht jeder Dialog bedarf der Worte, doch ein allmähliches Zerbrechen des Diskurses führt zum Schweigen und von diesem schließlich zum Verstummen.“

Erst Sprache konstituiert eine Gesellschaft, stellt er das Selbstverständlichste von allem fest. Wer sich aber an der Sprache vergreift und die Ebene des Sprechens mit Hassrede, Verleumdung, Lüge oder Grenzüberschreitungen demoliert, der zerstört ganz absichtlich die Basis unseres Zusammenlebens. Wenn dann gar wachsende Teile des Diskurses „etwa mittels Künstlicher Intelligenz – simuliert und substituiert werden, könnte, falls sich gesellschaftliche Mehrheiten damit begnügen sollten, ein wichtiger Teil des Gesellschaftsvertrages zerbrechen.“

Das abschließend als wichtigste Mahnung. Aber wer hört schon auf Philosophen, wenn die großen Lautsprecher den Demagogen gehören?

Paul Sailer-Wlasits „Minimale Moral“, 2., überarbeitete Auflage, Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, 16 Euro.

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