Das in Halle ansässige Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) lädt regelmäßig Gastredner zu den Halle Lectures ein. 2021 war es der Schweizer Philosoph Michael Hampe, der der Einladung folgte. Für die nun folgende kleine Schrift des IZEA hat er seine Gedanken zum aktuellen Zustand der Aufklärung noch einmal gebündelt. Wobei es ja mindestens zwei Aufklärungen gibt, wenn nicht gar mehr.

Er räumt in seiner Schrift mit einigen falschen Vorstellungen darüber auf, was Aufklärung eigentlich war oder ist oder sein soll. Auch auf das immer öfter zu hörende Argument, die Aufklärung sei gar mitschuldig an den bedrohlichen Zerstörungen weltweit, gar Triebkraft des Kolonialismus gewesen und eigentlich nur eine falsche Flagge, unter der die Euopäer ihre Wirtschaftsinteressen weltweit durchsetzen.

Die Kritik kommt dabei durchaus aus den von Kolonialismus und globaler Ausbeutung betroffenen Ländern. Dort nimmt man das politische und wirtschaftliche Agieren der reichen Nationen des Nordens durchaus als zwiespältig und verlogen wahr, wenn den Ländern des Südens unter dem Label von Freiheit und Menschenrechten Handelsverträge und politische Konditionen aufgezwungen werden, in denen bis heute noch das alte koloniale Überlegenheitsdenken der vom Kolonialismus profitierenden Nationen steckt.

So weit, so richtig.

Und eigentlich auch wieder nicht.

Wenn sich Machtinteressen als Aufklärung tarnen

Denn das schizophrene Agieren der einstigen Kolonialnationen hat letztlich wenig mit „der Aufklärung“ zu tun. Gestartet wurde der Kolonialismus und damit die Ausbeutung der Welt nämlich nicht unter der Flagge der Aufklärung, sondern unter der (falschen) Flagge der Christianisierung. Als Länder wie Spanien, Portugal, England und Frankreich begannen, die Welt unter sich aufzuteilen, war von Aufklärung noch gar nicht die Rede. Es ging um pure Machtinteressen. Und um rücksichtslose Ausbeutung.

Und nicht vergessen darf man, dass die europäische Aufklärung im 18. Jahrhundert zuallererst eine Bewegung war, welche die Herrschaftsformen des alten Europa selbst infrage stellte und das Bild einer wirklich gerechten und freien Gesellschaft entwarf. Natürlich ein zutiefst von Vernunft und Rationalität getriebenes Projekt – so, wie es auch die Demokratie selbst ist. Sie funktioniert nicht ohne aufgeklärte und vernunftgeleitete Politik. Sie spricht zuallererst die Vernunft an, nicht die Emotionen.

Und damit wird sie immer im Hintertreffen sein gegenüber despotischen Regimen und Diktaturen, die mit Emotionen herrschen: Gewalt, Angstmache, Einschüchterung, „großen Worten“. Noch viel größeren und viel hohleren Worten, als sie in der Gesellschaftsdebatte der Aufklärung Verwendung fanden. Und finden.

Denn eins ist auch nach Hampes Exkurs klar: Dass Aufklärung weder eine historische Etappe noch eine abgeschlossene Schule der Philosophie ist. Sondern eine Haltung. Was Hampe unter anderem in einem so deutlichen Satz fasst wie diesem: „Wenn die große Metaerzählung der Aufklärung wegfällt, dann fällt vermeintlicher Weise auch die Legitimation des Strebens nach Wissen, Recht und Emanzipation weg. Was bleibt, sei das Streben nach Stabilisierung von Machtstrukturen“, bezieht er sich auf Jean-François Lyotard.

Und damit kommt man dem, was Aufklärung für die zentralen Denker der klassischen Aufklärung immer bedeutete, erst nah: Die „Erzählung der Aufklärung“ berichtet davon, „dass Menschen in der Wissenschaft nach Wahrheit streben und ein ethisch politisches Ziel verfolgen: den universellen Frieden und die Emanzipation aus Unfreiheiten.“

Falsches Denken über Wahrheit

Was natürlich die Frage aufwirft, was denn dann Wahrheit ist. Und ob sie überhaupt erkennbar wäre. Eine Frage, über die sich Philosophen seit der Antike (vergeblich) den Kopf zerbrochen haben. Aber auch die Wissenschaftler der Aufklärungszeit waren sich – anders als Goethes Faust – sehr wohl bewusst, dass es dem Menschen nicht möglich ist, „die Wahrheit“ zu erkennen. Dass Wissenschaft lediglich eine Methode ist, die wirklichen Zustände unserer Welt mit immer besseren Methoden immer besser zu erkennen. Womit die Suche nach Wahrheit zum einen immer nur ein Annäherungsprozess ist, der nicht aufhört.

Und zum anderen eine selbst gestellte Aufgabe, die sich in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht nur in der Wissenschaft institutionalisiert, sondern z. B. auch in der Justiz oder im Journalismus.

Sie alle bauen darauf, dass die Wirklichkeit erkennbar ist und man durch Überprüfen, Nachfragen, die Veränderung des Blickwinkels den wirklichen Vorgängen systematisch näher kommen kann. Und dass das letztlich die Voraussetzung dafür ist, dass wir Menschen nicht nur immer mehr erkennen über die Wirklichkeit, in der wir leben, sondern auch unser Handeln vernunftgeleitet justieren – und korrigieren – können.

Was Hampe natürlich dazu bringt, die Falschinterpretationen einiger heutiger Publizisten zur Postmoderne zu demontieren. „Die historische Fehldiagnose, dass es da, wo es kein absolutes Wissensfundament und kein unerschütterliches Wahrheitskriterium gibt, das für alle Wahrheiten gilt, gleich überhaupt keine Wahrheiten mehr gäbe – eine Fehldiagnose, die seit Nietzsche durch die Köpfe geistert – hat allerdings politische Konsequenzen gehabt“, stellt Hampe fest.

Denn das öffnet Tür und Tor für Populisten, Propagandisten, Werbefachleute und Manipulation. Dann wird auf einmal von „alternativen Fakten“ geredet, sprießen Verschwörungstheorien ins Kraut und es entstehen lauter selbsternannte „Experten“, die ihre eigenen „Wahrheiten“ verkünden. Bis keiner mehr weiß, was wirklich wahr ist und was erstunken und erlogen.

Die moderne Gegen-Aufklärung

Erst recht, wenn genau diese Leute genau jene Instrumente der Wahrheitssuche diskreditieren, die dafür geschaffen wurden, die Wirklichkeit immer genauer und wahrhaftiger beschreiben zu können. Da wird dann das Misstrauen gegen „die Wissenschaft“ geschürt, gegen „die Medien“, und populistische Machthaber fangen meist sofort damit an, die Presse zu kontrollieren oder gar gleichzuschalten, die Justiz zu beschneiden und dem Staat unterzuordnen, und unliebsame Forschung zu unterbinden.

Und natürlich führt auch das in der Welt dazu, dass politisch engagierte Menschen „dem Westen“ misstrauen. Denn wie will der für andere Länder den Lehrmeister spielen, wenn in seinen eigenen Ländern Bewegungen aufkommen, welche die Demokratie genauso verachten wie die Aufklärung? Wenn sogenannte „soziale Medien“ dafür sorgen, dass Unwahrheiten, Lügen, Fakenews und menschenfeindliche Gesinnungen die ganze Gesellschaft in Zwietracht versetzen und mit „Wahrheiten“ überschütten, die mit rationalem Denken und rationaler Forschung so überhaupt nichts zu tun haben?

Das ist nicht nur ein philosophisches Problem, auch wenn sich Philosophen damit schwertun. Denn es ist eine sehr systematische Gegen-Aufklärung, die ganz bewusst die Irrationalität befeuert und die so schwer erkämpften Instrumente der vernunftgeleiteten Suche nach Wahrheit zu zerstören versucht. Denn natürlich lassen sich Menschen in einer Welt, in der es keine vertrauenswürdige gemeinsame Basis des Wissens gibt, leichter manipulieren und instrumentalisieren. Was sich im Namen „endgültiger Wahrheiten“ immer besonders schön inszenieren lässt.

Da sind sich fundamentalistische Prediger mit machtbesessenen Populisten eins. Ihnen geht es nur um Macht. Um nichts anderes.

Der Trug großer Erzählungen

Aber wie ist das dann mit unserer von Krisen derart gebeutelten Gegenwart? Steckt hinter dem Prozess der Globalisierung nicht auch ein rationales Denken, das irgendwie in der Aufklärung (meist wird ja da Adam Smith genannt) seine Wurzeln hat?

Ein Thema, das Hampe sehr ausgiebig diskutiert. Nur um dann eher beiläufig festzustellen, dass wohl all diejenigen, die diese Entwicklung für zwangsläufig und alternativlos erklären, den Kern der Aufklärung nicht verstanden haben: Dass es eben nicht darum geht, irgendwelche von großen Denkern ausgedachten „großen Erzählungen“ (man denke an Hegel oder Marx) einfach umzusetzen und dann so zu tun, als sei das schon (und für alle Zeiten) richtig. Spätestens, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen und alle merken, dass die großen Parolen im Konkreten zu Zerstörung, gar der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen führen, sollten alle anfangen, sich wieder ihrer kritischen Vernunft zu bedienen und herauszufinden versuchen, was falsch gelaufen ist. Und warum. Und wie man es besser machen können.

Denn das ist das Gefährliche an den „großen Erzählungen“ wirkmächtiger Philosophen, dass sie dabei wieder nur Glaubensgebäude aufbauen, endgültige Wahrheiten verkünden und das kritische Hinterfragen der Postulate für ketzerisch erklären. Das trifft auf die „Lehren“ von Karl Marx genauso zu wie auf die von Milton Friedman.

Ein Aufruf zur Mündigkeit

Was eben auch heißt, dass Aufklärung nie aufhört. Und auch nie aufgehört hat. Nicht in ihrer positiven Variante, mit der sie gesellschaftliche Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit formuliert und definiert hat. Sondern auch in ihrer negativen Variante, in der sie die Fehlentwicklungen in der Gesellschaft immer wieder ausleuchtet und der Kritik unterzieht. Denn nach 300 Jahren Aufklärung wissen wir eben auch, dass die Kräfte, die alle menschlichen Werte mit Stiefeln treten, nicht verschwunden sind. Kräfte, die den gehorsamen, opportunistischen Menschen brauchen, der kritiklos schluckt, was ihm eingetrichtert wird.

Und das ist nun einmal das Gegenteil dessen, was auch die zentralen Denker der Aufklärung als Wesenskern eben dieser gedacht haben. „Nichts lag Aufklärern wie Kant ferner, als alle dazu zu verdonnern, die Wahrheiten einer großen Erzählung einfach unbefragt zu schlucken“, schreibt Hampe. Und: „Die Bewegung der Aufklärung war ein Aufruf zur Mündigkeit, nicht Werbung für das Abonnement auf eine große Erzählung.“

Wobei an dem Satz das Wörtchen „war“ wohl falsch ist. Denn diese Aufgabe stellt sich heute immer noch, wie ja auch Hampe feststellt. Und was sich mit seiner Forderung verbindet, als Philosoph lieber auf die großen Worte (Freiheit, Gleichheit usw.) zu verzichten, und stattdessen die Wahrheitssucher zu stärken. Denn die Menschen leiden nicht nur unter Gewalt, Benachteiligung und Diskriminierung. Sie leiden auch unter Unwahrheit.

Die Wahrheit an sich, wie sie so oft propagiert wird, können wir nicht erkennen. Aber alle Menschen sind in der Lage, die Welt rational zu begreifen und einzuschätzen, ob Aussagen über diese Welt wahrhaftig sind oder nicht. Ist das nicht der Fall, erleben sie eine kognitive Dissonanz, wie es die Psychologen nennen. Das halten sie nicht wirklich aus.

Problemfall Bildungspolitik

Nur wird – wie Hampe feststellt – in unseren Schulen eben nicht die Praxis der Aufklärung gelehrt, sondern die Perfektionierung der künftigen Rolle in einer Meritokratie, in der nur die „Erfolg“ haben, die die Gesetze der Konkurrenz am besten beherschen. Die Kinder werden schon früh an ein Bewertungssystem gewöhnt, das mit ihrer Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten gar nichts zu tun hat. Allein dieses Kapitel ist schon eine Fundamentalkritik an einer Bildungsgesellschaft, die selbst den Begriff Bildung missbraucht für einen Vorgang, der mitnichten Bürger hervorbringt, die sich freudig ihres eigenen Verstandes bedienen, um die Welt besser zu begreifen.

Sondern lediglich künftige Marktteilnehmer, die gelernt haben, sich möglichst teuer zu verkaufen. Die Heilige Kuh heißt heute „der Markt“.

Da bleibt dann kein Platz mehr für Zweifel an Praktiken, welche die ganze Gesellschaft als unveränderbar verinnerlicht hat. Was Hampe da und dort durchaus daran zweifeln lässt, dass es diese Menschheit in den nächsten 50 Jahren schafft, ihre Irrtümer zu korrigieren und ihr falsches Übernutzen des Planeten Erde zu beenden. Aber das liegt dann nicht daran, dass die Aufklärung versagt hat, sondern dass die Mehrheit den eigentlichen Kern dessen, was Aufklärung bedeutet, nicht begriffen hat.

Denn ohne das Grundverständnis dafür, dass jeder Mensch sich irren kann, funktioniert die aufgeklärte Suche nach Wahrheit nicht. Deswegen sind aufgeklärte Menschen eher bescheiden und behaupten ganz bestimmt nicht, dass sie „die Wahrheit“ kennen. Sie kennen den Zweifel und stellen auch ihr eigenes Tun immer wieder infrage. Denn nur so kann man Fehler korrigieren und auch unheilvolle Trampelpfade verlassen, von denen die Leithammel mit breiter Brust immer behaupten, das wäre der einzig gangbare Weg.

Misstraut den Leithammeln, kann man sagen. Und liebt den Zweifel. Aufklärung ist eine fortwährende Aufgabe. Und im Grunde appelliert Hampe an seine Philosophiekollegen eben deshalb, lieber auf all die Thesen zu großen Worten zu verzichten, und die Wahrheitssucher zu stärken auf ihrer unermüdlichen Suche danach, was wirklich wahr ist – und dem, was den Test nicht besteht.

Michael Hampe „Abschied von großen Worten“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, 10 Euro.

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