Da muss ein kluger Verleger einem Leipziger Anglisten nur bei der kurzen Begegnung im Flur zurufen: „Warum schreiben Sie nicht ein Buch mit wahren Geschichten über Nietzsche?“ Und siehe da: Das Buch erscheint. Denn Elmar Schenkel, Leipziger Anglistik-Professor, Museums- und Grabwärter in Röcken und Herausgeber einer neuen Nietzsche-Ausgabe im Kröner Verlag, kennt sich aus mit Nietzsche. Soweit man sich mit dem Werk des Röckener Pfarrerssohns auskennen kann.

Denn natürlich ist das, was Friedrich Nietzsche zeitlebens veröffentlichte und was später seine Schwester Elisabeth herausgab, nicht wirklich eindeutig. Ist das noch Philosophie? Ist das schon wildgewordene Poesie? Ist das biblischer Verheißungston? Jedenfalls sprengt es bis heute den üblichen Rahmen, wirkt widersprüchlich, uneinheitlich und irritierend.

Sodass Kurt Tucholskys Spruch, man fände für alles bei Nietzsche auch ein Zitat, bis heute gilt. Und so war er missbrauchbar und missdeutbar. Gerade da, wo er den Philistergeist seiner Zeit, die Gedankenwelt des deutschen Kleinbürgertums kritisierte, persiflierte, kontrastierte. Wobei Schenkel sich bei einem sicher ist: Man sollte nicht mit „Also sprach Zarathustra“ anfangen, wenn man irgendwie Zugang zu Nietzsches Gedankenwelt finden will.

Ersatzvater Wagner

Da ist es eher gut, wenn man ein bisschen etwas über diesen Musterknaben weiß, der schon im Internat in Schulpforta Klassenprimus war und augenscheinlich ein braver Musterschüler. Nicht anders als später bei seinem Studium in Leipzig, wo er den Altphilologen Friedrich Ritschl beeindruckte und Richard Wagner kennenlernte, der für ihn eine Zeit lang so etwas wie ein Ersatzvater war.

Vielleicht erklärt das einen Teil der Geschichte. Auch Nietzsches Lust daran, Autoritäten zu stürzen und die Welt – als Übermensch – aus den Angeln heben zu wollen. Vielleicht auch nicht.

Denn Nietzsches Höhenflug, der ihn als jungen Professor nach Basel führte, währte kurz, endete mit seinen beginnenden Augenproblemen und seiner Frühpensionierung. Und wann begann das eigentlich, dass er in sich diesen prophetischen Drang verspürte? Diese Überzeugung, er sei auserwählt? Oder fühlte er so gar nicht, sondern hatte nur den freieren Blick auf unsere Rolle als Staubkorn in der großen Sternenwelt?

Da ist nicht nur ein Prof. Schenkel hin- und her gerissen beim Lesen. Ohne die Mehrdeutigkeiten ist dieser Nietzsche nicht zu fassen, auch wenn ihn scheinbar coole Sprüche festnageln – von „Gott ist tot“ bis „Wenn du zum Weibe gehst …“ Was Schenkel natürlich auch aufgreift.

Ãœber-Mensch ist kein Superman

Man kann Nietzsches Lebensgeschichte nicht erzählen, ohne diese Widersprüchlichkeiten zu benennen. Auch und gerade dann, wenn es das berühmte Foto gibt, das ihn und Paul Rée vor den Karren gestellt zeigt, auf dem Rées Frau Lou von Salomé die Peitsche schwingt. Kurz zuvor gab es die berühmte Begegnung in Rom. Und mit Lou Salomé begegnete Nietzsche ganz offensichtlich eine Frau, die ihn geistig tatsächlich herausforderte und mit der er später beim Erholungsaufenthalt in Taubenberg intensivste Stunden des geistigen Miteinanders erlebte.

Heiraten wollte sie ihn trotzdem nicht. Und da war sie nicht die einzige, die eine Ehe mit dem schnauzbärtigen Eigenbrötler ablehnte, der in den nächsten Jahren zunehmend pflegebedürftig wurde.

Und seine Heimat eher im Süden suchte, sensibel, wie er gegenüber Sonne, Wetter, Luftelektrizität. Oder war das nur Einbildung?

Zeitlich fällt sein beginnender Größenwahn mit der Veröffentlichung seines Buches „Der Fall Wagner“ zusammen. Vatersturz und Selbsterhebung. Das fällt hier zusammen. So wie auch in „Zarathustra“. Logisch, dass sich Elmar Schenkel auch mit diesem Motiv des Über-Menschen beschäftigt, das in der Comic-Figur des Superman munter fortlebt. Nur hat Nietzsches Über-Mensch wohl eher nichts mit dieser Superheldenfigur zu tun, der auch nicht mal allein von ihm erfunden wurde.

Denn klar korrespondiert diese Figur mit der These „Gott ist tot“. Wenn es nämlich keinen Gott (mehr) gibt, muss der Mensch lernen, sich selbst allein in einem riesigen Kosmos zu behaupten, dem das winzige Menschengeschlecht völlig gleichgültig ist. Und dem es ebenso schnuppe ist, ob die Menschheit nach drei Sekunden wieder verglüht.

Wenn der Ruf erst ruiniert …

Schenkel hat senen Nietzsche gelesen und weiß, wo er die Leser auf die kleinen Abzweige und Seitenpfade verweisen kann, die Nietzsche so lustvoll (und manchmal irreführend) eröffnet hat. Wo bitte geht’s also zum Über-Meschen? Jedenfalls nicht über Neu-Germanien, die Siedlung, die Elisabeths Ehemann Bernhard Förster in Paraguay gründete – ein ausgemachter Antisemit, der dort die Antisemiten Deutschlands um sich versammeln wollte. Ein Kolonisierungsversuch, der gründlich scheiterte.

Und natürlich stellt sich die Frage, wie es Nietzsche, der den Antisemitismus verachtete, mit diesem Schwager aushielt. Und mit seiner dominanten Schwester, die später seine Pflege und die Verwaltung seines Ruhmes übernahm, dann, als er sich nicht mehr wehren konnte und seine letzten Jahre als lebendes Denkmal in Weimar verbrachte, wo ihn Elisabeth Förster-Nietzsche später auch noch den Nazis andiente. Die sich diesen Berserker von Philosophen nur zu gern aneigneten – ohne ihn wirklich gelesen zu haben. Anders übrigens als Mussolini in Italien, der Nietzsche tatsächlich las und verehrte.

Aber der Ruf war gründlich hin, als die Nazis mit ihrer eigenen Ãœbermenschen-Propaganda den halben Kontinent in Schutt und Asche gelegt hatten. Was es auch all jenen schwer machte, die Nietzsche tatsächlich lasen, veröffentlichten und für wichtig erachteten. Im Osten sorgte Georg Lukácz dafür, dass Nietzsche für Jahrzehnte zum Wegbereiter der Nazis erklärt und zur Persona non grata gemacht wurde. Nietzsche war also auch nicht im Buchhandel präsent und die Stasi hatte Schwierigkeiten, eine gewisse Sarah Thustra dingfest zu machen.

Während sich in Röcken die Leute trafen, die trotzdem ihren Nietzsche lasen und verehrten und das Subversive in dessen Schriften feierten.

Ein pathetischer Troubadour

Da half auch Wolfgang Harichs Versuch, die Nietzsche-Rezeption in der DDR komplett zu verhindern und gar das Grab in Röcken zu beseitigen, nichts. Nietzsche überlebte die DDR. Und findet weltweit immer noch Anhänger, Liebhaber und Liebhaberinnen. Und es ist – anders als bei Karl Marx in Trier – eine sehr persönliche Verehrung. Augenscheinlich berührt dieser manchmal pathetische, manchmal prophetisch auftretende Philosoph etwas in den Menschen, das tatsächlich mit ihrem Welt-Befinden zu tun hat. Und mit der Irritation einer Gesellschaft, die ja tatsächlich versucht, ihren Mitgliedern einzureden, sie wären alle optimierbare Superman, in Wirklichkeit aber nichts will als emsig konsumierende Gläubige.

Wer braucht schon Gott, wenn der Markt alles wohlfeil bietet?

Und wer braucht so einen störenden Polemiker, der nicht mal eins dieser in Deutschland so beliebten philosophischen Gesamtkunstwerke fertigbrachte, für die Leute wie Kant, Schelling und Hegel berühmt waren? Das ist doch nicht akademisch!

Aber irgendwie scheint dieser pathetische Troubadour eben doch den Nerv getroffen zu haben, da, wo es wehtut, wenn man sich als kleiner, unbedeutender Mensch in einem Kosmos wiederfindet, der von uns etwas völlig anderes fordert als diese kleinbürgerliche Konsumberauschtheit. Manches in Nietzsches wilden Postulaten erinnert schon an das, was Sigmund Freud bald über die Psyche des verirrten Neuzeitbewohners feststellen sollte. Und Lou Salomé wurde ja nicht zufällig eine der ersten praktizierenden Psychotherapeutinnen. Man wäre schon gern dabei gewesen und hätte zugehört, worüber die beiden da auf ihren stundenlangen Spaziergängen in Taubenberg tatsächlich gesprochen haben. Und warum Nietzsches Schwester so eifersüchtig auf Lou war.

Eine Minute des Hochmuts

Der Bursche fordert heraus – auch in den Geschichten, die möglicherweise nur erfunden sind. Und so ist Schenkels Büchlein für manchen bestimmt auch so etwas wie ein Schlüssel zu Nietzsche, zum unbefangenen Versuch, dessen Schriften zu lesen und sich darauf einzulassen, dass man hinterher noch verunsicherter ist als zuvor. Denn das steckt ja auch in Nietzsches Größenwahn: die Erkenntnis einer zutiefst empfundenen Verunsicherung in einer Welt der falschen Heldenbilder.

Und damit eine falsche Moral, gegen die letztlich jedes einzelne von Nietzsches Büchern polemisiert, anredet. Alle irgendwie aus der Position des 15-jährigen Schülers entstanden, der für sich schon begriffen hat, dass wir nur „einen Punct im unermesslichen Weltall“ bewohnen. Und uns nur eine Minute des Hochmuts vergönnt ist, bevor unser Gestirn wieder erstarrt. Oder verglüht. Da ahnt man schon, wie bedrückt sich dieser Nietzsche oft gefühlt haben muss – und wie euphorisiert.

Und damit animiert, eine Welt des falschen Scheins und des elitären Hochmuts mit scharfen Sätzen zu attackieren. Eine Welt, die meist eher nach Kleingeist und bürgerlicher Moral-Verklemmung riecht. Und nicht nach dem, was Nietzsche mit Sätzen wie diesem versuchte zu erfasssen: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“

Was versteckt sich unterm Bart?

Wobei Schenkel bei Nietzsches Italien-Aufenthalt extra darauf hinweist, dass er hier auch eine der modernsten Sternwarten seiner Zeit aufsuchte und hinterher regelrecht aus dem Häuschen war. Man muss den Kosmos immer mitdenken bei diesem Nietzsche. Und damit die Widersprüche im winzigen Menschsein, die schon Nietzsche selbst in widersprüchliche Aphorismen und Gedichte fasste. Und damit auch noch zum Vorbild eines Christian Morgenstern wurde, der mit seinen Versen die Absurdität der Welt herrlichst auf den Punkt gebracht hat.

Man sollte bei Nietzsche wohl eher nicht an Hitler denken, der ihn nicht wirklich gelesen hat. Sondern eher an Morgenstein und seine „Galgenlieder“. Nietzsche wird zwar mit seinem gewaltigen Bismarck-Bart meistens ernst und bärbeißig dargestellt. Aber war er das wirklich? Oder war er nicht eher einer, der seinen Humor lieber in scharfzüngige Widersprüche steckte, wissend, dass er damit die Leute erschreckte?

Eine der vielen offenen Fragen, die man sich stellen kann, wenn man Nietzsches Grab in Röcken besucht, wo selbst Schenkel nicht weiß, ob Nietzsche tatsächlich unter seinem Grabstein liegt, denn auch hier hat Nietzsches Schwester Elisabeth alles durcheinander gebracht.

Elmar Schenkel „Wahre Geschichten um Friedrich Nietzsche“, Tauchaer Verlag, Leipzig 2023, 15 Euro.

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