Städte verändern sich. Und zehn – mittlerweile elf – Jahre reichen völlig, um selbst in die Stadtführer aus dem Lehmstedt Verlag Bewegung zu bringen und bei Herausgeber Mark Lehmstedt den Druck zu erhöhen: Den Band müssen wir jetzt aber neu machen. Denn es gibt Städte in Deutschland, da ist richtig Leben in der Bude. Zum Beispiel, weil man gerade ein richtig fettes Jubiläum vor der Nase hat. Oder zwei. So wie Weimar.

Denn das ahnten die so unverhofft mit einer Staatsgründung konfrontierten Politiker von 1919 ganz bestimmt nicht, dass sie das kleine Städtchen in Thüringen mit der Verlegung der Nationalversammlung nach Weimar dauerhaft zu einem Brennpunkt deutscher Geschichte machen würden. Jedenfalls nicht so, wie es dann geschah.

Denn Friedrich Ebert, der MSPD-Vorsitzende, der so unverhofft zum Krisenmanager geworden war, dachte vor allem daran, die Gründung der Republik mit Abstand vom preußischen Berlin zu vollziehen. Und die nach dem Krieg sehr misstrauisch gewordene Welt würde es wohl als angenehm empfinden, „wenn man den Geist von Weimar mit dem Aufbau des neuen Deutschen Reiches verbindet“, so wird er zitiert.

Also tagte man in Weimar, beschloss dort die Verfassung und tat das auch noch im Geist des berühmtesten deutschen Dichters. Das nennt man wohl Ruhm. Und wenn man solche Worte im Ohr hat, weiß man, warum Hitler dann nach Machtantritt den „Geist von Potsdam“ beschwor – den alten Preußengeist, den Junkergeist, den Untertanengeist und den Schnedderädäng-wir-ziehen-in-den-Krieg-Geist.

Und es muss einem auch erst einmal wieder gesagt werden, dass es die Nazis waren, die zehn Jahre nach Weimar anfingen, von der „Weimarer Republik“ zu reden. Das war abwertend gemeint. Im doppelten Sinn. Denn sie verachteten auch Goethe, Literatur und friedliche Gesinnung. Das passt schon alles zusammen, diese großmäulige Verachtung für die Republik und die Dichter, deren Bücher man dann gleich mal reichsweit verbrannte. Und dass ein Hochschulstudium vor geschmierter Blödheit nicht schützt, bewiesen die Initiatoren all dieser Bücherverbrennungen: Es waren nationalsozialistische Studenten.

Punkt.

Verschnaufpause. Zurück nach Weimar, das sich mit vielen Sanierungen, Umbauten und Neubauten jetzt auf zwei große Jubiläen im Jahr 2019 vorbereitet – das eine ist die Gründung der Weimarer Republik, die selbst Historiker heute so bezeichnen, weil der Versuch der Nazis, die neue Republik durch den Vorsatz des „kleinen“ Weimar lächerlich zu machen, historisch gescheitert ist. Der „Geist von Weimar“ hat den „Geist von Potsdam“ überwunden, auch wenn er heute eher wie der „Geist von Bonn“ aussieht. Aber das alte Nazi-Preußentum ist desavouiert, egal, mit wie viel Finesse die Neuen Rechten versuchen, dieses menschenverachtende Denken wieder in Mode zu bringen.

2019 werden also eine Menge Leute wegen der Weimarer Republiksgründung nach Weimar reisen. Wobei schon dieser Satz zum Nachdenken bringt. Denn nicht nur Steffi Böttger stolpert ja darüber, dass man das KZ auf dem Ettersberg von Weimar aus sehen kann. Als hätten es die Nazis mit Absicht so dicht vor die Dichterstadt gepflanzt. Sie wollten, dass alle sehen, wie sie Menschen schikanierten. Und sie wollten den Triumph der Unmenschlichkeit über die Menschlichkeit der unten verehrten Goethe, Schiller und Herder zeigen. Dieses KZ ist nicht zufällig genau vor der Stadt. Vor dieser Stadt.

Genauso wenig, wie in Weimar das erste Gauforum entstand, auch wenn das auf den ersten Blick damit zu tun hat, dass die Nazis in Thüringen viel früher an die Macht kamen als in anderen Ländern der Republik. Sie wollten ihren Aufmarschgeist mitten ins Herz dieser geistvollen Stadt pflanzen. Und mitten ins Herz des geistvollen, weltoffenen Deutschlands. Denn dafür stand Weimar seit den Zeiten Anna Amalias und Carl Augusts, die ja erst dafür sorgten, dass sie alle nach Weimar kamen: der (oft vergessene) Wieland, Schiller, Herder, Jean Paul. Man begegnet ihnen allen auf dieser Tour. Und natürlich Goethe, zu dem Steffi Böttger inzwischen ein sehr inniges Verhältnis entwickelt hat.

Denn wenn man mit dem Herrn Geheimrat öfter zu tun hat, dann sieht man auch die Brüche und Veränderungen in diesem Burschen, der in den Diensten Carl Augusts nicht nur zum Staatsmann reifte. Und beim Erwachsenwerden half augenscheinlich jenes nette Gartenhaus im Park an der Ilm, das Herzog Carl August ihm kaufte. „Einerseits lebte er hier mit seinem Diener Philipp Seidel in herrlicher Zurückgezogenheit in der Natur“, schreibt Steffi Böttger, „andererseits vollzog sich hier seine Wandlung vom wilden Dichterrowdy zum Staatsmann.“

Natürlich gibt es eine ausführliche Tour durch den Park an der Ilm in diesem neu zubereiteten Stadtführer zu Weimar. Genauso, wie Goethes Wohnhaus am Frauenplan hübsch vorgestellt wird, wo eine Frau eine besondere Würdigung von Steffi Böttger bekommt: Goethes Frau Christiane, die er erst so spät heiratete und trotzdem liebte. Und die das adlig-elitäre Weimar zum Naserümpfen brachte.

Man versteht den Herrn Geheimrat schon, dass er möglicherweise ein Leben lang auf der Suche nach beidem war – einer geistvollen Frau, mit der er tausende Briefe wechseln konnte (das war Charlotte von Stein, nicht zu verwechseln mit Charlotte Buff, der Heldin aus dem „Werther“, die dann zur Hauptfigur in Thomas Manns herrlicher Altersnovelle „Lotte in Weimar“ wurde, aber die findet man natürlich auch im Buch), und einer Frau, die er wirklich von Herzen und mit Leib und Seele lieben konnte – das war das schüchterne Christianchen, das eines Tages mit einem Bittbrief beim Herrn Minister vorm Gartenhäuschen stand. Und für sie findet Steffi Böttger Worte, die richtig wohltuen, weil sie zeigen, dass Goethe hinter seiner klassischen Fassade ein richtiger Mensch war: „Christiane war dick, fröhlich und tanzte für ihr Leben gern.“

Mehr muss man eigentlich nicht wissen über Goethes Weimar. Aber natürlich erfährt man viel mehr auf dieser Tour, die schon aufgrund der vielen Klassiker-Gedenkstätten einfach nicht an einem Tag zu schaffen ist. Deswegen ist es jetzt ein trotzdem immer noch kompakter Stadtführer, in dem man sie alle kennenlernt: Wieland und Nietzsche, Henry van der Velde, Johann Peter Eckermann, Schiller und Schillers Charlotte, den Fotografen Louis Held (dessen Weimar-Foto-Bände auch bei Lehmstedt erschienen), den Verleger Bertuch und den Bauhaus-Gründer Walter Gropius.

Womit sich der Bogen fast schon schließt, obwohl das Bauhaus in diesem Fall mal vor dem Stadtschloss kommt, bevor man mit der Fürstengruft tatsächlich zum Fast-Finale kommt und bevor einen der traurige Wieland daran erinnert, dass es ohne ihn die Shakespeare-Euphorie der Goethe-Zeit nie gegeben hätte (das Shakespeare-Denkmal steht im Park an der Ilm). Und dann?

Dann weist der Stadtführer darauf hin, dass etliche wichtige Orte, die man besucht haben sollte, außerhalb der Stadt liegen – angefangen mit Buchenwald, wo man über die finstere Symbolkraft des Nazitums nachdenken kann bis zum Schloss Belvedere und zum Schloss Tiefurt.

Womit die Zahl der bei Lehmstedt produzierten Stadtführer mittlerweile auf über 70 angestiegen ist. Man ahnt so langsam, was für eine Fülle eindrucksvoller Städte aller Größen es in Deutschland gibt und wie selten uns das bewusst ist, weil dieser unvergleichliche Reichtum nicht die Nachrichten dominiert. Da regiert eher so eine Art Einheitsbürger mit Einheitsbittermiene. Da lohnt es sich wirklich, lieber nach Weimar zu fahren – zur dicken Christiane oder in die herrliche Bibliothek der Anna Amalia, die mit soviel Gemeinschaftssinn gerettet wurde nach dem Brand von 2004.

Steffi Böttger Weimar. Ein Stadtführer, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2018, 5 Euro.

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