Den Astrophysiker Harald Lesch kennen die meisten aus dem Fernsehen. Dort erklärt er anschaulich und kurzweilig die Phänomene der Naturwissenschaften. Aber der Wissenschaftler ist auch eine Ausnahme unter seinen Zunftkollegen: Er verbindet Wissenschaft mit Philosophie. Und klärt damit immer wieder auch neu die Frage: Was macht das Wissen über die Welt eigentlich mit uns Menschen? Und mit unserem Denken? Darum geht es in gewisser Weise auch in dieser Co-Produktion mit dem Theologen und Philosophen Thomas Schwartz.

Als die beiden sich im März in Weimar trafen, um den Leitfaden für ihr gemeinsames Buch zu entwickeln, war Corona gerade im Anmarsch, beherrschte schon die Medien, aber noch nicht den Alltag der Menschen. Aber die beiden ahnten schon, dass sich das bald ändern würde – und dass das eine Menge mit der Grundidee ihres Buches zu tun haben würde.

Denn darin geht es um unsere angelernte Technikgläubigkeit, die Scheinsicherheit einer Gesellschaft, in der selbst die Entscheider so tun, als sei alles machbar und lösbar, gäbe es für jedes Problem eine technische Lösung. Und wenn nicht, dann erfindet das bestimmt demnächst einer.

Und flankiert wird das mit einer geradezu verblüffenden Zahlenbesessenheit, die meist identisch mit absoluter Zahlengläubigkeit ist. Egal, ob es sich um Versicherungen oder Krankenkassen handelt, um Banken, Gesundheitswesen oder Digitalkonzerne. Mit der aktuellen Digitalisierungswelle drängt dieses Denken immer weiter in den Alltag der Menschen vor und verbreitet das Gefühl einer Sicherheit, die mehr als trügerisch ist.

Die Corona-Pandemie hat es sehr schnell ziemlich deutlich gemacht. Und sie hat die eigentlich viel drängendere Krise zeitweilig völlig überblendet: die Klima-Krise, die sich immer sichtbarer in eine Krise unserer Lebensgrundlagen verwandelt.

Man ahnt, wie sich die beiden Autoren da beim Spaziergang an der Ilm gegenseitig anfeuerten mit der Frage: Wie bekommen wir das in die Köpfe der Menschen? Wir müssen sie doch aufrütteln aus dieser Scheinsicherheit!

Ergebnis ist logischerweise ein sehr philosophisches Buch geworden. Eines, in dem gerade der Astrophysiker sein Wissen um die Grenzen des Wissens einbringt und die Kritik am falschen Glauben an Zahlen, lineare Verläufe und einfache Gleichungen. Wir leben nicht nur in einer Vollkasko-Gesellschaft, in der Millionen Menschen glauben, sie würden alle Ungewissheiten in ihrem Leben tilgen, wenn sie nur genug Versicherungen abschließen.

Gleichzeitig verlassen sie sich auf die Vorsorge des Staates – eines Staates, der in den letzten Jahren überall die Sicherungssysteme zurückgebaut hat. Corona hat es allen vor Augen geführt – auf einmal fehlten Schutzausrüstungen und Masken und die Pflegekräfte sind seit März am Limit, weil das fatale Effizienz-Denken auch hier zugeschlagen hat.

Den Wählern wird es meist als Reform und Optimierung verkauft, wenn Krankenhäuser geschlossen werden, „weil sie sich nicht rechnen“, Pflegekräfte immer mehr Patienten betreuen müssen, Ärzte immer mehr Operationen durchführen, damit die Kosten gesenkt und die Einnahmen erhöht werden.

Am Ende bekommt man ein verschlanktes, hochgradig effizientes System – ohne Reserven. Es darf nichts Unvorhergesehenes mehr passieren, sonst bricht das ganze System zusammen.

Und das ist überall so passiert. Eine von Wachstum und Rendite besessene Wirtschaft hat an allen Ecken die Reserven beseitigt. Typisches Beispiel: unser heutiges Just-in-Time-System, mit dem Lieferanten genauso arbeiten wie Industriekonzerne. Die Lieferketten sind so haarscharf auf Kante genäht, dass man überall die Lagerhäuser eingespart hat.

Die Waren und Bauteile sind praktisch immerzu schon auf Achse, unterwegs auf Lkw, Schiffen, in Flugzeugen, von elektronischen Systemen überwacht, die genau sagen können, wo jedes Teil gerade ist und wann es an der Produktionsstätte ankommt. Da darf nichts dazwischenkommen oder die Kette reißt.

Es ist eine Wirtschaft ohne Rückfallebene. Und da sie längst auch staatliche Grundversorgungen erfasst hat, leben wir in einer Gesellschaft ohne Notreserven. Ohne Vorratskammer, wie es die beiden bezeichnen in Erinnerung daran, dass vergangene Generationen schon aus simpler Vorsorge für alle lebenswichtigen Güter immer einen Vorrat angelegt haben. Ihnen war noch gegenwärtig, dass die Welt weder berechenbar noch linear ist.

Das Unvorhersehbare war ihnen immer bewusst. Genauso wie die Tatsache, dass Menschen in ihrer Hybris nie alles wissen können. Weshalb frühere Generationen auch weniger Panik verbreiteten, dafür mehr Resilienz gegenüber all den Unglücken hatten, die in einem menschlichen Leben immer passieren, egal, wie gut einer vorgesorgt hat, wie viele smarte Hausgeräte er besitzt oder wie emsig er mit seiner Gesundheits-App trainiert.

Denn auch die Wissenschaft hat ihren alten Glauben an verlässliche Zahlen längst beerdigt. Es gibt nicht die Weltformel, die alles erklärt. Und Lesch erklärt es ja auch in seinen Fernsehbeiträgen immer wieder: auch gefundene Naturgesetze beschreiben nur das, was wir sehen, messen und nachvollziehen können. Sie erzählen von der letztlich eben doch begrenzten Fähigkeit des Menschen, die Welt in all ihrer Komplexität zu verstehen.

Unser Dasein auf Erden wird viel mehr von Unschärferelationen und Chaos-Erscheinungen bestimmt, als es sich die Zahlengläubigen gern einreden. Der Grund dafür liegt genauso in der Grundstruktur der Materie und des Lebens begründet wie in der Dynamik großer, komplexer Systeme, wie die Erdatmosphäre eines ist.

Wissenschaft erkennt also nach und nach immer mehr Gesetzmäßigkeiten, findet oft auch bestechende Formeln dafür, die in einem geschlossenen System ohne äußere Einflüsse auch perfekt funktionieren. Und Erfinder machen daraus geniale neue technische Geräte, die die Kräfte der Natur dem Menschen dienstbar machen.

Seit über 200 Jahren macht immer bessere Technik das Leben der Menschen immer unabhängiger und hat auch für eine enorme Zunahme des Wohlstands gesorgt. Aber gleichzeitig hat der „Erfolg der Technik“ auch die Illusion erweckt, dass das immer so weitergeht, dass man nur neue Technologien braucht, um die chaotischen Bedingungen der natürlichen Welt auszuschalten.

Doch dieser Glaube trügt. Denn längst entfaltet auch Technik ihre chaotischen Wirkungen, kommt es zu Katastrophen, die die Rechnungen der Ingenieure eigentlich ausgeschlossen hatten, selbst ignorierend, dass Material ermüdet, Konstruktionen „arbeiten“ und Systeme ohne Reserven zwangsläufig irgendwann kollabieren. Das ist wirklich nur eine Frage der Zeit.

Und das betrifft längst auch unsere heutige Lebensart, in der sich immer mehr Menschen selbst optimieren, um im Rennen um bessere Jobs und Geld mitzuhalten. Und auch nach Feierabend nie zur Ruhe kommen, weil sie sich dann auch noch dem Bombardement der Informationsüberflutung aussetzen. Sie kommen im wahrsten Sinn des Worte nicht mehr zur Besinnung, besinnen sich also auch nicht mehr auf sich, ihre wirklichen Bedürfnisse und das, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist.

Sommergespräch mit Harald Lesch

Im Grunde sind es drei wichtige (Reiz-)Worte, an denen die beiden Philosophen festmachen, was in unserer „Karussellgesellschaft“, in der immer mehr Menschen immer öfter kurz vor dem Infarkt sind, falschläuft. Die Stichworte heißen Vorratskammer, Grenze und Geschwindigkeit. Es geht um Reserven – und zwar nicht nur materielle. Denn wer keine inneren Reserven hat, kann auch nicht mehr auf Unvorhergesehenes reagieren, bricht in seelischen Notsituationen schneller zusammen.

Oder wird so panisch und irrational wie unsere heutigen Verschwörungsmystiker, die auch die Fähigkeit verloren haben, die Nachrichten aus der Welt rational zu filtern: Was ist wirklich wichtig? Was geht mich tatsächlich an? Was passiert tatsächlich? Und wie kann ich darauf klug reagieren?

Sie sind „außer sich“ – im ganzen Sinn des Wortes. Und gleichzeitig bleiben sie auf der Strecke, wie es Lesch und Schwartz so schön bildhaft formulieren. Und merken auch nicht mehr, was alles auf der Strecke geblieben ist, weil es im heutigen Verschlankungs- und Optimierungswahn als überflüssig, unrentabel, „zu teuer“ angesehen wurde.

Angefangen von „nutzlos“ verbrachter Zeit oder – ganz im Schillerschen Sinn – der Freude am Spiel. Ohne die Fähigkeit des Menschen zum Spiel hätte es nie eine Wissenschaft gegeben, keine Technik, keine Kunst, keine Kultur. Erst im Spiel ist der Mensch ganz Mensch, kann seine Lust am Ausprobieren herauslassen, seine Neugier, seine Freude am Schaffen von Neuem.

Und zu Recht nehmen die beiden Wissenschaftler an, dass dieses fatale Denken, das den Menschen zum linearen Lernmodell macht, auch Bildung und Forschung zerstören wird. Denn mit diesem Schubladenlernen wird das freie, unabhängige Denken und Suchen, die Fähigkeit zum produktiven Fehlermachen, geradezu ausgetrieben. Wer sich aber nicht mehr traut, Fehler machen zu dürfen, traut sich gar nichts mehr. Wir bekommen eine geradezu erstarrte, von der Angst vor Fehlern besessene Gesellschaft.

Und wir bekommen immer weniger Menschen, die noch fähig sind, mit Grenzen wirklich umzugehen. Wozu das Erkennen und Austesten der eigenen Grenzen genauso gehört wie das Akzeptieren natürlicher Grenzen. Nur wer seine eigenen Grenzen kennengelernt hat, kennt auch sich selbst. Und dasselbe gilt für unseren Umgang mit der Welt. Denn wir kennen die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Wir könnten uns also daran anpassen und unser Leben so gestalten, dass es diese Grenzen wieder berücksichtigt.

Aber das würde eben auch bedeuten: auf den technikbesessenen Allmachtswahn zu verzichten. Und wieder zu lernen, sich zu sorgen – um sich selbst und um die kleine, verletzliche Welt, die uns da geschenkt ist. Wir müssen also bremsen. Denn wir sind rasend – was die beiden im Kapitel zur Geschwindigkeit sehr schön erläutern. Denn wenn wir immer länger immer schneller Dinge tun (derzeit zusätzlich durch lauter digitale Geräte befeuert, die uns auch noch dazu bringen, die letzte Minute des Tages „produktiv“ zu verbringen), bleibt von unserem Leben nichts mehr übrig.

Denn in diesem Rasen leben wir nicht. Wir sind regelrecht betrunken von Schnelligkeit, von einem Just-in-time-Leben, in dem nur noch zählt, dass wir immerfort etwas tun, was uns noch fitter, noch schneller, noch erfolgreicher macht.

Nur für das Wichtigste haben wir keine Zeit mehr – für die geliebten Menschen, für uns selbst, für die Ruhe, die viele im ersten Corona-Shutdown zum ersten Mal richtig erlebt haben. Was sie meist als belastend empfunden haben, weil einmal nichts passierte. Und gleichzeitig zu viel – denn die Stille brachte uns dazu, endlich wieder das Chaos in uns selbst und unseren Gedanken zu hören. Und zu merken, dass wir der Intensität und der Fülle des Lebens immer nur ausgewichen sind.

Regelrecht geflohen davor, um nur ja nicht diese erschütternde Komplexität aushalten zu müssen, die mit ihren Eindrücken und Gefühlen über uns herfällt, wenn wir einmal innehalten. Da aber erfahren wir die unerhörte Vielfalt der Welt und des Lebens erst wieder. Logisch, dass die beiden Autoren auch die Langsamkeit loben, die selbst Soziologen inzwischen wieder als „Quality time“ entdeckt haben. Jene Zeit, für die sich eigentlich Leben erst lohnt.

Am Ende singen die beiden, die auch beide in kleinen Dörfern aufgewachsen sind, das große Lied vom Dorf. Sie wissen um die Widersprüchlichkeit des Dorfes, in dem Nähe auch immer mit Enge einhergeht, Hilfsbereitschaft mit gegenseitiger Kontrolle. Aber sie erklären auch sehr schön, was am Dorf, in dem jeder jeden kennt, wirklich wichtig und bewahrenswert ist. Und warum es das Gegenteil dessen ist, was uns die Internet-Junkies als „Global Village“ versuchen anzudrehen, das Lesch und Schwartz keineswegs als etwas Gutes und Erstrebenswertes betrachten, sondern als eine riesige Simplifizierung der Welt.

Alles wird denselben Vermarktungsregeln unterworfen, „skaliert“, wie es die Optimierer und Verschlanker nennen. Überall gibt es dieselben Produkte, dieselben Schönheitsideale, dieselben Belohnungssysteme und dieselben Marken. Die ganze Vieldeutigkeit der Welt wird nivelliert.

„Wenn man es einmal salopp, aber durchaus passend ausdrücken will, führt Vereinheitlichung in der Theorie der komplexen Systeme dazu, dass die Systeme immer starrer und damit härter und unflexibler reagieren, bis sie irgendwann brechen und kollabieren, und zwar komplett. Ein resilientes System, also ein widerstandsfähiges System, ist hingegen biegsam und beweglich, es hat lockere und vielfältige Möglichkeiten, Antworten auf äußere Störungen zu geben.“

Und dabei geht es nicht nur um Puffer, Reserven und Toleranzen, sondern auch um die Fähigkeit (die jedes lebendige System besitzt) sich zu verändern: „Dabei verändert sich solch ein System ständig, weil es auf Einflüsse reagiert.“

Was nicht nur auf lebendige Organismen und Biotope zutrifft (was unter anderem auch Viren so erstaunlich anpassungsfähig macht), sondern auch auf menschliche Gesellschaften und Staaten. Wenn Staaten ihre Fähigkeit zur Veränderung verlieren (weil z. B. ein paar Blitzmerker den Zustand von vorgestern in Beton gießen möchten), dann sterben sie, gehen einfach kaputt wie jedes starre und überlastete System.

Das Buch, das sehr deutlich spüren lässt, wie es aus dem Zwiegespräch der beiden Autoren im März in Weimar erwachsen ist, ist eine auch aus (natur-)wissenschaftlicher Sicht formulierte Botschaft an den gejagten, ruhelosen, von falschen Eindeutigkeiten getriebenen Bewohner einer Gesellschaft, die deshalb in Panik geraten ist, weil sie seit Jahrzehnten immer wieder die „Alternativlosigkeit“ behauptet hat – egal, von was, ob Wirtschaft, Technik oder „Schwarzer Null“.

Wir haben ganze Kabinette mit Leuten besetzt, die völlig unfähig sind, die Welt und ihr eigenes Handeln in Alternativen zu denken. Honoriert werden Schmalspurpolitiker, die mit dem Schädel unbedingt durch die Wand wollen. Auch und gerade vom Wähler, der die Angst vor der Komplexität der Welt geradezu verinnerlicht hat.

„Es scheint, als würden die Unberechenbarkeit und die Uneindeutigkeit des Lebens nicht nur wesentlich zum Leben dazugehören, sondern als Bedingung der Möglichkeit von Kreativität und Improvisation, als Voraussetzung von Entfaltung und Einzigartigkeit essenziell für das sein, was man vereinfacht mit dem Begriff Lebensfreude umreißt“, schreiben die beiden. Ihr Buch ist ein kluges und sehr bildhaftes Plädoyer für den „Abschied von einer Sucht nach Eindeutigkeit und Linearität“.

Und damit für die Lust am Sich-Zeit-Nehmen, zur Langsamkeit, zum Spiel. Zu einem gelasseneren Leben, in dem man die vielen propagierten „You must“ einfach ignoriert und sich das Recht nimmt, die Dinge aufmerksam, behutsam und im eigenen Tempo anzugehen. Der eigenen (und damit natürlichen und nicht technischen) Geschwindigkeit.

Da sieht man die beiden dann wieder emsig gestikulierend im Park an der Ilm spazieren. Vielleicht noch aushandelnd, ob sie danach zu Goethe oder zu Schiller gehen. Was beides bereichert. Erst recht, wenn man sich Zeit dafür nimmt und das dämliche Gefühl im Hinterkopf ausschaltet, dass es vertane Zeit ist, nutzlos verbrachte Zeit.

Aber wer, bitteschön, entscheidet das eigentlich? Irgendein griesgrämiger Controller? So ein durchgeknallter Internet-Freak im Silicon Valley? Ein smarter Geizhals im Wirtschaftsministerium, der sich ein Menschenleben nur noch unter ökonomischen Leistungsparametern vorstellen kann?

Es ist ein gelinder und sehr schöner Akt der Rebellion, diese linear gepolten Knalltüten einfach Stück um Stück aus dem eigenen Leben und Denken zu verbannen und die ganze herrliche Nutzlosigkeit des selbst erlebten Lebens wieder zu genießen und als eigentlichen Reichtum wahrzunehmen. Gerade im Wissen darum, dass es in jedem Leben eine Grenze gibt, an der niemand vorbeikommt.

Erst diese Grenze gibt allem, was wir vorher tun, einen Wert. Und das ist auch die einzige Stelle, an der die beiden von Wert sprechen. Und auch sehr deutlich machen, was wir alles preisgeben, wenn wir uns dem Optimierungsdruck der alles verschlingenden Konzerne unterwerfen. „Und auch hier, beim Phänomen Leben, gibt es ein Geheimnis, nämlich das der Sicherung durch Reserven und Speicher. Wäre das Leben ein Streckengeschäft, bliebe es auf der Strecke.“

Legt euch Vorratskammern an, innere und äußere, lautet die freundliche Botschaft, Vorratskammern der Träume, Erlebnisse, Begegnungen und Gefühle, der Wissensschätze und Nachbarschaften. Und nehmt euch Zeit. Es ist eure Zeit, egal, was die Möchtegernökonomen sagen. Zeit ist nicht Geld, sondern Leben. Im besten Fall: gelebtes Leben. Eins mit starken Erinnerungen und jeder Menge Pläne und Möglichkeiten für die Zukunft, die zu denken unsere heutigen Wirtschaftsbosse und Politiker/-innen nicht mehr fähig sind, weil sie das „Just in time“ im Kopf haben: Alles ist jetzt.

Und nichts darf passieren. „Diese totale Konzentration auf das Unmittelbare ist ja letztlich nichts anders als der Zwang zur totalen Kontrolle. Wer nichts mehr offen lässt und keine überraschenden Neuigkeiten mehr erwartet, der will nur das ewig Selbe. Der perfekte Determinismus einer perfekten Maschine, die vollständige Berechenbarkeit, so sieht das Ideal solcher Leute aus.“

Ein Satz, bei dem man an Goethes Faust (Zweiter Teil) denkt, an Gottfried Wilhelm Leibniz mit der „besten aller möglichen Welten“ (der natürlich auch zitiert wird), aber auch an Voltaires „Candide“ und Orwells „1984“. Ein lineares System ohne Alternativen. Da stehen einem die Haare zu Berge, wenn man nur dran denkt. Denn das schreibt nicht nur „nutzlose“ Produkte und Vorratskammern ab, sondern auch „nutzlose Zeit“ und „nutzlose“ Menschen.

„Ressourcenknappheit ist eben nicht nur der Anfang effizienten und effektiven Wirtschaftens, sondern auch die Mutter aller Kriege“, bringen die beiden die Logik unserer Wirtschaft ohne Reserven auf den Punkt. „Deswegen hat unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem etwas Gewalttätiges an sich. Wer keine Vorräte anlegt und nicht auf Reserve schalten kann, der wird aggressiv.“

Harald Lesch; Thomas Schwartz Unberechenbar, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2020, 18 Euro.

Das System ist am Ende: Meinhard Miegels Kolumnen über ein ausgebranntes System und die Angst vor einer ehrlichen Politik

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