Wenn man die tägliche Berichterstattung großer deutscher Medien über die Arbeit von Bundesregierung und Bundestag verfolgt, ergibt sich das Bild eines absoluten Chaos. Nur zu gern wird das Bild einer Regierung gemalt, die in Streit und Unfähigkeit versinkt. Als hätten die wie wild kommentierenden Journalisten überhaupt keine Hemmungen mehr, die Demokratie in Bildern der Zerrüttung zu beschreiben. Doch die Wirklichkeit sieht anders auch. Auch wenn sich die Perspektiven der gewählten Abgeordneten stark unterscheiden.

Und zur Wahrheit gehört auch: Das war schon immer so. Und es wurde sich auch immer gestritten, zwischen Regierungskoalition und Opposition, in den Ausschüssen, in den Bundestagsdebatten, aber auch innerhalb von Koalitionen.

Das gehört zum Kern der Demokratie. Nur so kommt der deutsche Bundestag zu Entscheidungen, die auch die Breite der Gesellschaft abbilden. Kompromisse in der Regel, die niemandem komplett gefallen. Aber die dennoch unterschiedlichste Interessen berücksichtigen.

Daraus dann aber eine in Kommentare gebannte Verdammnis einer Regierung zu machen, die sich überhaupt erstmals in der bundesdeutschen Geschichte aus drei so unterschiedlichen Parteien zusammengerauft hat, das grenzt schon an Demokratie-Verachtung in vielen Redaktionen. Das hat nichts mehr mit Diskussion und Meinungsbildung zu tun. Und es erzählt von einer gewachsenen Verachtung für die Menschen, die sich alle vier Jahre um ein Bundestagsmandat bewerben, um etwas für ihr Land zu tun.

Das wichtige Pathos der Demokratie

Die Formel klingt ein bisschen pathetisch. Aber genau hier sitzt das nötige Pathos, ohne das eine Demokratie nicht leben kann: Stolz auf das eigene Land, seine funktionierende Demokratie und die Chance, dass jede und jeder, die sich aufraffen, mitgestalten kann. Ob im Kleinen in einem Kommunalparlament, oder im Großen – im stressigsten aller deutschen Parlamente, dem Bundestag.

Schon vor vier Jahren nutzte der Journalist und Kommunikationsberater Aljoscha Kertesz die Möglichkeit, junge, erstmals in den Bundestag gewählte Parlamentarier dazu zu bitten, über ihre ersten Erfahrungen im Bundestag zu berichten. Wie haben sie sich in die Abläufe des wichtigen gesetzgebenden Organs hineingefunden, das eben anders, als es diverse Youtube-Clips vermitteln, ein Arbeitsparlament ist? Bei dem die Opposition auch nicht nur reden darf, wenn es in der Bundestagssitzung dann um Abstimmungen geht. Sie redet auch schon in den Ausschüssen mit. Mal von der sonderbaren Rolle de Bundesrates abgesehen.

In den Ausschüssen werden alle Vorhaben und Gesetze der Bundesregierung debattiert, werden Kompromisse gesucht, Verbesserungsvorschläge gemacht. Und auch die jungen Parlamentarier, die 2021 erstmals den Sprung ins Parlament schafften, sind von Anfang an eingebunden, werden von ihren Fraktionen in die diversen Ausschüsse geschickt, meist ihren eigenen Präferenzen folgend und meist auch nicht nur in einen. Und das allein sorgt schon dafür, dass sie in den Sitzungswochen des Bundestages ein volles Programm haben. Was in der Regel 60- bis 80-Stunden-Wochen ergibt, Sitzungen, die oft bis spät in die Nacht dauern. Davon erzählen auch die 14 jungen Bundestagsabgeordneten, die Aljoscha Kertesz für diesen Band zur Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition bat, ihre Erfahrungen aufzuschreiben.

Warum tut sich jemand das an?

Das wird dann manchmal ein bisschen technisch, weil die Befragten vor allem erzählen wollen, wie sie sich in den ersten Wochen im Bundestag eingefuchst haben, wie ihnen ältere Abgeordnete geholfen haben, wie sie zu Berichterstattern ihrer Fraktion in den Ausschüssen wurden und nun mit einem Arbeitspensum konfrontiert waren, das in der deutschen Arbeitswelt durchaus außergewöhnlich ist.

Und zwar nicht nur für die Mitglieder der gerade regierenden Parteien, sondern auch für die anderen. Die zwar manchmal gern beklagen, dass die Regierung ihre schönen Gesetzentwürfe nicht übernommen hat – aber die Berichte der 14 zeigen eben auch, wie ernsthaft es in den Ausschüssen zugeht und wie viel Einfluss auch die Opposition auf neue Gesetze nehmen kann.

Und um das Spektrum aufzutun, hat Kertesz sowohl Bundestagsneulinge aus der Regierungskoalition (SPD, Grüne und FDP) zu Wort kommen lassen, sondern auch einige aus der Oppositionsfraktion von CDU und CSU. So werden auch die durchaus ähnlichen Ambitionen sichtbar, mit denen die Neulinge sich für die Bundestagswahl 2021 habe aufstellen lassen, warum sie aber auch oft schon in den Jugendverbänden ihrer Parteien aktiv waren und sich auch in der Kommunalpolitik engagiert haben.

Da wird schon sehr deutlich, dass die Motivation, sich mitten aus Berufs- und Familienleben für ein Mandat im Bundestag zu bewerben, aus ganz ähnlichen Wünschen des Mitgestaltens kommt. Auch wenn die politischen Ziele auch der hier porträtierten jungen Leute sehr verschiedenen sind. Auch die Weltsichten, was dann auch zu völlig unterschiedlichen Bewertungen der Halbzeitbilanz der Ampel führt. Denn wer in der Regierungskoalition mitgestalten konnte, sieht natürlich die Schritte, die schon bewältigt wurden. Und nicht ganz zufällig taucht hier immer wieder das Motiv der 16 vertrödelten Jahre auf. Ein Motiv, das vor allem die Klimapolitik der vorhergehenden Regierungen meint. Und damit auch den Punkt anspricht, an dem die aktuelle Regierung versucht, endlich die Kurve zu bekommen – und dafür massiv von der Opposition und etlichen Medien angegriffen wird.

Regieren in Krisenzeiten

Es geht dabei eben nicht nur um schlechte Kommunikation (die natürlich auch Erwähnung findet) und schlampige Gesetze (für die eben nicht nur die Regierung allein verantwortlich ist). Es geht auch um ein Land, das sich 2021 sehr wohl bewusst war, dass Deutschland gerade beim Klimaschutz endlich die Kurve kriegen muss. Aber das funktioniert nun einmal nicht, wenn alle ihre alten Besitzstände verteidigen und so tun, als könnte Deutschland einfach immer so bleiben und dabei auch noch wettbewerbsfähig sein. Das funktioniert nicht.

Dass dann mit dem entfesselten Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht einmal ein Viertel Jahr nach Konstituierung der neuen Regierung Herausforderungen auf den Tisch kamen, die keine Bundesregierung davor zu meistern hatte, hat natürlich auch die Handlungsspielräume der Ampel massiv beschnitten. Auf einmal mussten Milliarden Euro nicht nur zur Unterstützung der Ukraine und der Sicherung von Waffenlieferungen aufgewendet werden, sondern auch schleunigst Ersatz für das russische Erdgas gefunden werden. Beides Dinge, die eigentlich völlig gegen den Kern grüner Politik verstoßen, so dass insbesondere die Grünen seither im Kreuzfeuer der Kritik stehen.

Auch das wird in mehreren Beiträgen in diesem Band thematisiert. Den berührendsten Text hat übrigens der bayerische FDP-Abgeordnete Muhanad Al-Halak geschrieben, der 1989 im Irak geboren wurde und der als Elfjähriger mit seiner Familie vor dem Saddam-Regime floh und in Deutschland – nach einer sehr plastisch beschriebenen Flucht tatsächlich erlebte, dass eine stocknüchterne Demokratie wie die deutsche für Migranten auch eine echte Chance ist, nicht nur anzukommen und für ein besseres Leben zu arbeiten, sondern auch aktiv an Politik teilzuhaben.

Ein Motiv, das auch mehrere andere Porträtierte ansprechen. Denn Fakt ist auch, dass der 2021 gewählte Bundestag wesentlich diverser ist als alle vorhergehenden – trotz der Alte-Männer-Partei AfD, aus er aus gutem Grund kein Abgeordneter in dieses Buch gefunden hat.

Kein Ruhekissen-Job

Aber Aufmerksamkeit erregt auch der Beitrag der Leipziger Ärztin Paula Piechotta, die für die Grünen in den Bundestag einzog und unter anderem im Gesundheitsausschuss des Bundestages mitarbeitet. Mit dem Ergebnis, dass sie gleich in ihren ersten Tagen als Abgeordnete erlebte, wie penetrant sie von Lobbyisten aus der Gesundheitswirtschaft angegangen wurde. Doch als Ärztin kannte sie schon all die üblen Folgen, die dieser massive Druck von Konzernen der Medizinbranche für die Kliniken, Ärzte und Patienten hat. Unser Gesundheitswesen ist auch deshalb so kaputt, weil es seit Jahrzehnten dem dauerhaften Störfeuer privater Unternehmen ausgesetzt ist, die ihre Interessen massiv und teils mit sehr unlauteren Methoden auch im Bundestag und insbesondere bei den Mitgliedern des Gesundheitsausschusses durchzusetzen versuchen.

Da versteht man sehr schnell die Wut der erfahrenen Ärztin, die um die Folgen dieser Beeinflussung und der jahrzehntelang fehlenden Transparenz in Sachen Lobbyismus im Bundestag weiß.

So entsteht ein Buch, das seinen Leserinnen und Lesern eben nicht nur 14 jungte Parlamentarier vorstellt, sondern auch sichtbar macht, wie politische Kärrnerarbeit tatsächlich aussieht und was sie den gewählten Abgeordneten tatsächlich abverlangt. Wer sich traut, für ein Bundestagsmandat zu kandidieren, der geht wirklich das Risiko ein, sein Leben – zumindest für die nächste Legislatur – völlig umkrempeln zu müssen, mehr zu arbeiten als es in der Wirtschaft sonst üblich ist, die Familie seltener zu sehen und auch von Berlin eher wenig zu sehen, weil sich der Alltag fast ausschließlich im Reichstagsgebäude abspielt.

Ein sehr lebendiger Einblick in ein zentrales Stück unserer Demokratie. Informativ auf jeden Fall für alle, die aus dem hektischen Berichterstatten der Medien kein wirklich realistisches Bild davon bekommen, wie die Arbeit im Herzen unserer Demokratie tatsächlich aussieht.

Aljoscha Kertesz (Hrsg.) „Der 20. Deutsche Bundestag – eine Halbzeitbilanz“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2023, 14,80 Euro

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