Vielleicht wäre es gut, wenn der Freistaat Sachsen die Physiklehrbücher im Land um ein ganzes Kapitel Hydraulik erweitert. Oder gleich fächerübergreifend arbeitet, damit auch Geografie und Meteorologie einbezogen werden. Denn wenn Wasser erst einmal fließt, wird es komplex. Und die schlichte Wahrheit ist; Vielen Leuten, die so gern am Wasser bauen, ist das nicht einmal bewusst.

Ihnen ist auch wirklich nicht bewusst, dass sich mit den weltweit gestiegenen Temperaturen etwas geändert hat. Überschwemmungen haben weltweit zugenommen. Dass es in Sachsen und Umgebung gleich fünf große Hochwasser allein in den letzten 16 Jahren gab, darf den Blick nicht darauf verstellen, dass sich die Zahl der Überschwemmungen auch in England, Frankreich, Spanien, Italien, Südosteuropa erhöht hat. Jedes europäische Land muss sich auf zunehmende Extremerereignisse vorbereiten.

Das heißt: Auch Europas Städte sind unter Zugzwang. Denn wenn ein Teil der zunehmenden Extemereignisse Starkregen sind, die nicht nur in Gebirgen herunterkommen (und dann die Flüsse herabströmen), dann müssen auch die innerstädtischen Wasseradern funktionieren.

Das war in Leipzigs Vergangenheit nicht so drängend, weil das Auengebiet westlich der Stadt schlichtweg nicht bebaut war. Die Weiße Elster, die Pleiße und alle anderen Gewässer hatten stets genug Platz, sich auszubreiten. Die Auenwiesen und auch die Gärten im Westen der Stadt wurden zwar überschwemmt. Aber die auf einem höher gelegenen Sandsporn errichtete Stadt war nie bedroht. Erst Carl Heine war es, der mit der Trockenlegung des Wiesenlandes westlich des Pleißemühlgrabens begann, mitten in diesem Auengebiet Bauland zu schaffen. 1845 ist das entscheidende Jahr, in dem der Bau des Westviertels begann. 20 Jahre später kam das Waldstraßenviertel.

Heine nutzte den Abraum aus dem Bau seines Kanals, um dieses Bauland erst einmal aufzuschütten. Gleichzeitig wurde die ganz alte “Alte Elster”, die sich 1813 noch bis zur heutigen Thomasiusstraße schlängelte, auf die Westseite des heutigen Waldstraßenviertels verlegt – was dann die Alte Elster war, die jetzt wieder als Flussbett für die Weiße Elster geöffnet werden soll.
All das ist heute im Stadtbild nicht mehr sichtbar. Dafür sind seit den 1990er Jahren wichtige Stücke der beiden alten Mühlgräben von Pleiße und Elster wieder ans Licht gekommen. Noch immer nicht vollständig. Aber zumindest im Leipziger Umweltdezernat ist seit Juni 2013 die Erkenntnis gewachsen, wie wichtig die Öffnung der Mühlgräben für den Hochwasserschutz der Stadt ist. “Verbesserung der hydraulischen Leistungsfähigkeit” ist das Stichwort. Es nutzt nichts, wenn die Röhren, durch die die Mühlwasser sich heute noch an vielen Stellen zwängen, 4 Kubikmeter Wasser in der Sekunde aufnehmen können. Das ist viel zu wenig. Es müssen mindestens 12, 14 Kubikmeter sein, damit die Gräben in der Innenstadt nicht überlaufen.

Also ist die Freilegung der Mühlgräben eben nicht nur eine stadtgestalterische Aufgabe, wie es in den vergangenen 20 Jahren betrachtet wurde, sondern eine wichtige Hochwasserschutzmaßnahme. Die das Leipziger Umweltdezernat auch durchweg in die Handlungspriorität 1 gesetzt hat. Rosenthal: “Der Freistaat ist anzumahnen, dass das, was beschlossen ist, auch schleunigst umgesetzt wird.”

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Auch die Hochwasserschutzkonzepte der Kommunen an diesen Gewässern 2. Ordnung sind mit dem Freistaat abgestimmt. Jetzt geht es darum, dass das Land sich auch bemüht, die nötigen Co-Finanzierungen bereit zu stellen. Mit 50 bis 75 Prozent Förderung rechnet das Umweltdezernat im Schnitt. Was ungefähr 25 Millionen Euro Förderung macht bei 48 Millionen Euro Gesamtinvestition bis 2025, 2027 oder 2030. Einige Projekte gerade an den Mühlgräben sind tatsächlich bis 2030 terminiert. Aber eigentlich möchte Rosenthal die wichtigsten Bausteine in den nächsten zehn Jahren umsetzen.

Wie viel Zeit Leipzig hat, bis das nächste Hochwasser HQ 150 kommt, weiß ja niemand. Man erfährt es ja erst, wenn die ersten Meldungen kommen. Wenn das Ganze, wie 2013, über Thüringen passiert, hat Leipzig ungefähr sechs Tage Zeit. Am 24. Mai 2013 kam die erste Warnung, am 30. Mai wurde Alarm ausgerufen, am 3. Juni verkündete OBM Burkhard Jung den Katastrophenfall für die Stadtteile entlang der Weißen Elster, da war der Hochwasserscheitel da.

“Seit Anfang der 1990er Jahre ist eine Tendenz zu Starkniederschlägen mit zunehmenden Niederschlagsmengen im Raum Leipzig zu verzeichnen, die sich seit dem Jahr 2002 weiter verstärkt haben, so dass die Überflutungshäufigkeit (auch auf Grund des zunehmenden Versiegelungsgrades des Einzugsgebietes) in den vergangenen Jahren zugenommen hat”, heißt es in Rosenthals Vorlage. Womit er freilich auch ein Thema anspricht, um das sich der Freistaat Sachsen immer wieder herumdrückt: den fortschreitenden Flächenverbrauch und die zunehmende Bodenverdichtung. Wenn Böden versiegelt oder stark verdichtet sind, laufen Regenwasser schneller ab und werden im Boden eben nicht mehr zwischengespeichert. Was dann die Flutwelle schneller und wasserreicher macht. Wenn dann im Oberlauf der Flüsse auch noch natürliche Überschwemmungsflächen fehlen, dann wird das für die Städte flussabwärts zum reinen Mengenproblem.

Im nächsten (und letzten) Teil: Welche Mühlgraben-Abschnitte fehlen denn überhaupt noch?

Die Vorlage des Umweltdezernats:
http://notes.leipzig.de/appl/laura/wp5/kais02.nsf/docid/C3255674ADE34340C1257AB40033E0DA/$FILE/V-ds-2654-text.pdf

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