Wir leben in einer Gesellschaft des schönen Scheins. Untätigkeit wird verkauft, als würde jemand im Schweiße seines Angesichts Berge versetzen. Superreiche bestimmen die Lamento-Diskussion über zu hohe Steuern. Und noch eben wurde die "Agenda 2010" selbst von den verantwortlichen Genossen gefeiert wie eine Wohltat am Volke. Und die Folgen der "Reform" werden klein geredet. Selbst dann, wenn die sanktionierten Betroffenen nur noch in Gewalt eine Lösung sehen. Wie gerade in Leipzig geschehen.

Einer ist schon seit einer geraumen Weile recht sauer. Aus ganz anderem Grund. Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) beschäftigt sich wie kein anderer intensiv mit den Zahlen, die die Bundesagentur für Arbeit regelmäßig veröffentlicht. Veröffentlichen muss. Nicht mit den Zahlen, die die Arbeitsagenturen und Jobcenter jeden Monat veröffentlichen, als wären ihre Zahlen zum Auf und Ab in der Erwerbslosenbetreuung auch nur ansatzweise aussagekräftig.

Nein. Er nimmt sich die Veröffentlichungen zu so genannten “Integrationen”, “Aufstockern”, tatsächlich Betreuten und wirklich Sanktionierten vor. Mit der Möglichkeit, auf den simplen Grundbedarf der Menschen zuzugreifen und ihn einfach zu kürzen oder ganz einzubehalten, hat die Bundesregierung nicht nur ein Instrument geschaffen, das direkt gegen die Verfassung verstößt, sie hat auch seinem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Die Ämter und Jobcenter müssen nicht mehr nachweisen, dass sie echte, wirklich marktfähige Arbeitsplätze akquiriert und ihre Schützlinge dafür qualifiziert und vermittelt haben. Sie können den Leuten, die durch die Not getrieben in ihrer Obhut landen, jedes Beschäftigungsinstrument anbieten, das ihnen angemessen erscheint. Qualitätskriterien dafür gibt es nicht – weder die komplette Finanzierung durch das Unternehmen als Maßstab noch die angemessene Bezahlung, weder die dauerhafte Beschäftigung oder gar die angemessene Qualifikation. Auch in Leipzig drehen hunderte Jobcenter-Kunden eine Sinnlos-Runde nach der anderen durch falsche oder überflüssige “Weiterbildungslehrgänge”, Eingliederungskurse ohne Effekt, Scheinbeschäftigungsmaßnahmen oder Dumping-Angebote auf Zeit. Und wer nach Runde 3, 4, oder 5 nicht mehr will, weil sich auch die Psyche gegen diese inszenierte Hölle wehrt, der kann nicht damit rechnen, nun wirklich ernst genommen zu werden. Er muss damit rechnen, dass er sanktioniert wird.

Und die Sanktionen funktionieren allesamt übers Geld. Das Geld, das für den notwendigsten Unterhalt sowieso schon auf Kante genäht ist. Ein Drittel, zwei Drittel, alles weg – da steht der Betroffene von heute auf morgen vor dem blanken Nichts.

Und es sind nicht nur ein paar “Hartleibige”, die derart behandelt werden. Tatsächlich wird jeder zehnte erwerbsfähige ALG-II-Empfänger derart bestraft. Oder genötigt.Paul M. Schröder zu den Zahlen: “529.371 erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Arbeitslosengeld II) waren im Jahr 2012 mindestens einmal von einer Hartz IV-Sanktion betroffen. Diese von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit ermittelte ‘Anwesenheitsgesamtheit: sanktionierte, erwerbsfähige Leistungsberechtigte’ bleibt in der Regel ungenannt, wenn über Hartz IV-Sanktionen berichtet wird. Stattdessen wird immer wieder der Eindruck erweckt, von 1,025 Millionen im Jahr 2012 neu festgestellten Sanktionen (und den Sanktionen aus 2011, die in 2012 hineinwirken) seien nur ‘wenige Menschen’ betroffen.”

Er verweist auf die von der Bundesarbeitsagentur am 10. April verbreitete Pressemitteilung “Vorsicht bei der Interpretation der Zahlen”, in der es heißt: “BA-Vorstandmitglied Heinrich Alt warnt … vor einer vorschnellen Interpretation der Zahlen: ?Die absolute Zahl mag hoch erscheinen, gemessen an der Gesamtzahl der Leistungsberechtigten haben die Jobcenter nur wenige Menschen sanktioniert.'”

Und um dies zu unterstreichen, wird in der Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass “… im Jahresdurchschnitt 2012 insgesamt 150.300 erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit mindestens einer Sanktion belegt …” und dass dies “… 3,4 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten” waren.

“Nicht nur in bzw. von vielen Medien wird dies offensichtlich so verstanden: von den Hartz-IV-Sanktionen seien in 2012 (direkt) nur etwa 150.000 Menschen bzw. 3,4 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten betroffen gewesen”, so Paul M. Schröder. “Dies ist vielleicht ‘gut gemeint’ (?) aber so nicht richtig. Noch einmal: 529.371 erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Arbeitslosengeld II) waren [im] Jahr 2012 mindestens einmal von einer Hartz IV-Sanktion betroffen. Und da im Jahr 2012 insgesamt 5,617 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte (eLb) mindestens in einem Monat auf Arbeitslosengeld II angewiesen waren (‘Anwesenheitsgesamtheit: erwerbsfähige Leistungsberechtigte’) betrug die ‘Sanktionsquote’ (‘Quote der Anwesenheitsgesamtheiten sanktionierte eLb zu eLb insgesamt’) demnach 9,4 Prozent.”

Fast jeder zehnte der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (eLB) wurde also sanktioniert. Auch in Leipzig. Mehr als 5.000 Menschen, von denen einige “Aufstocker” sind, andere sind Eltern. Denn von den rund 73.000 Leistungsberechtigten in Leipzig sind rund 17.000 unter 15 Jahren. Ab 16 gelten sie als erwerbsfähig, weil sie ja eine Lehre aufnehmen könnten. Von den 54.000 “erwerbsfähigen Leistungsberechtigten” waren über 18.000 so genannte “Aufstocker”, hatten zwar einen Job, konnten damit aber ihren Lebensunterhalt (oder den ihrer Familie) nicht bestreiten. Für den so genannten “Arbeitsmarkt” stehen sie eigentlich nicht zur Verfügung – es sei denn, es eröffnen sich Chancen auf vollwertige Arbeitsplätze wie jüngst bei den beiden großen Leipziger Autobauern.

Aber auch die verbleibenden 36.000 Personen zählen nicht alle als arbeitslos, weil sie teilweise in diversen Alibi-Maßnahmen stecken.

Den Frust über die willkürlichen und völlig sinnlosen Sanktionen bekommen immer wieder die MitarbeiterInnen in den Jobcentern ab. Aber die Schuldigen sitzen zwei Etagen höher – und darüber hinaus. Im Frühjahr hatte das Wirtschaftsdezernat Leipzig die Chuzpe, wieder eine “Zielvereinbarung” mit dem Jobcenter zu formulieren, die das Jobcenter zu neuen “Sparanstrengungen” verpflichtet, ohne dass die Vereinbarung auch nur ansatzweise formuliert, wie das strategisch untersetzt sein soll. Um diese Zahlen zu erreichen, ist das Jobcenter zum Verabreichen von Sanktionen geradezu verdammt.

Und dann? – Die Kette hört ja bei den Sanktionierten nicht auf. Paul M. Schröder: “Indirekt waren noch deutlich mehr Menschen von Hartz IV-Sanktionen betroffen, denn nicht alle sanktionierten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten leben in einer sogenannten ‘Single-Bedarfsgemeinschaft’.”

Die Sanktionsquoten 2012:

www.biaj.de/images/stories/2013-04-15_sanktionen-sgb2-2007-2012.pdf

www.biaj.de/archiv-materialien/37-texte/358-1025-millionen-hartz-iv-sanktionen-jede-siebte-in-berlin-sanktionsoffensive-laendervergleich.html

Die Pressemeldung der Bundesarbeitsagentur vom 10. April: www.arbeitsagentur.de/nn_27042/zentraler-Content/Pressemeldungen/2013/Presse-13-018.html

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