Die Zukunft der Zivilisation heißt Stadt. Deswegen ist der bundesweite Trend vom Land in die Großstädte keine Ausnahme. Das hat nichts mit irgendwelchen nebeligen Worten wie Heimat oder Bodenständigkeit zu tun. Es hat simple wirtschaftliche Gründe. Wie schon vor 150 Jahren, als die Industrialisierung Deutschlands die Großstädte zu ersten Mal wachsen ließ. Zu Millionen wanderten die Landbewohner in die Großstädte. Heute sind die Gründe nur scheinbar andere.

Der eine ist natürlich ein negativer Grund: Die hochindustrialisierte Landwirtschaft kommt mit immer weniger Arbeitskräften aus. Deswegen stellt sie auch immer weniger Arbeitsplätze im ländlichen Raum zur Verfügung. Aber selbst kleinteilige Wirtschaftsbetriebe siedeln sich lieber in großen Konglomeraten an, wo die Geschäftspartner gleich nebenan und die großen Infrastrukturen auf kürzestem Weg erreichbar sind: Autobahnen, Flughäfen, Umschlagterminals. Und der wichtigste Arbeitgeber – die Dienstleistungsbranche – findet ihre Kundschaft am schnellsten und besten direkt in den Agglomerationen.

Tatsächlich war die 45-jährige Zeit aus SBZ und DDR nur eine Zwischenphase, die die alten Trends überlagerte. Mit Milliardenaufwand wurden in den abgelegensten Gegenden der DDR ganze Industrien aus dem Boden gestampft, um so eine Art Gleichverteilung der Industrie im Land zu erzeugen. Was Städten wie Neubrandenburg, Genthin, Wolfen, Hoyerswerda oder gar dem aus dem Boden gestampften Eisenhüttenstadt einen erstaunlichen Aufstieg verschaffte – und zumeist auch einen tiefen Absturz nach 1990.

Was sich seit ungefähr 15 Jahren wieder zu etablieren beginnt, ist der alte, nur unterbrochene Agglomerationsprozess. Einige Metropolzentren entwickeln sich zu neuen Knotenpunkten, an denen sich alles andockt – allem voran die Dienstleistungsbranche, in Teilen auch die Industrie, wenn denn die jeweils zuständigen Landesregierungen unterstützend dabei sind. Was sie ja in Mitteldeutschland bekanntlich nicht sind. Sie haben die Themen der Zeit alle nicht erkannt, nicht in Magdeburg, nicht in Erfurt und nicht in Dresden. Umso schwerer fällt es den “Knotenpunkten”, die nun nötigen Strukturen zu bilden. Für eine Stadt wie Leipzig heißt das natürlich auch: Schulen bauen, Forschungszentren, Kindertagesstätten, Häuser. Möglichst schnell, möglichst sinnvoll, möglichst strukturiert. Denn die neuen Bewohner der Stadt kommen. Aus allen Himmelsrichtungen. Instinktiv folgen junge Menschen diesen Magnetlinien.

Und oft ist es nur ihre Studien- und Berufswahl, in welcher großen Stadt sie dann landen.

Das Institut für Länderkunde hat für den neuen Quartalsbericht der Stadt Leipzig einmal eine Karte gemalt, auf der mit dicken blauen Punkten zu sehen ist, woher die 2013 in Leipzig lebenden Menschen alle kommen. Sortiert nach Geburtsort. Das lässt sich das recht einfach zeigen. Und siehe da: Nicht nur die 55.025 Leipziger mit einem Geburtsort im Ausland kamen von ganz weit her, von den restlichen 474.713 wurden auch nur 262.387 in Leipzig geboren. Heißt: Gerade einmal jeder zweite Leipziger ist auch ein gebürtiger.
Die Zusammensetzung des ganzen “Rests” zeigt dann, was für eine Dynamik in einer Stadt wie Leipzig besteht. Zwar kamen weitere 91.802 aus anderen Teilen Sachsens, aber weitere 120.524 kamen aus anderen Bundesländern. Je näher diese liegen, umso mehr Leipziger stammen von dort, weswegen die Reihenfolge natürlich Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern heißt. Aber dann folgt schon Nordrhein-Westfalen vor Bayern und Berlin. Die wenigsten innerdeutschen Zuzügler kommen aus Hamburg, Bremen und dem Saarland. Die Karte zeigt natürlich deutlich, wie groß der Einzugsbereich einer solchen Stadt ist und wie gut Leipzig tut, nicht gar zu sächsisch zu denken, sondern in übergreifenden Strukturen – der Wirtschaftsraum Mitteldeutschland wäre so eine, ist so eine. City-Tunnel und Mitteldeutsche S-Bahn-Netz sind schon die richtigen Schritte, die natürlich auch die falschen sein können, wenn die Verhaftung in den alten, hemmenden Länderstrukturen nicht überwunden wird.

Die hat schon mehrfach geschadet. Im Milliardenbereich, muss man sagen – mal beim wilden Poker um die Landesbanken, mal beim Gefeilsche um die Flughäfen, bei der Hochschulpolitik geht’s munter weiter, bei der Energiepolitik auch. Der Horizont ist begrenzt. Und über den nächsten Wahltermin traut sich gar kein Kandidat hinauszudenken.

Die Struktur der Leipziger Bevölkerung, wie sie sich entwickelt, wird natürlich auch in den Studierendenzahlen sichtbar. Viele dieser klugen Köpfe bleiben da, finden die Stadt ganz toll und lebenswert, bezahlbar auch noch und irgendwie entstehen auch immer wieder neue Arbeitsplätze, die eine Familiengründung ermöglichen. Aber auch das hängt mit dem Magneteffekt so einer Stadt zusammen. Das rechnen die wenigsten Volkswirtschaftler aus in ihrem Studium – wenn sie überhaupt dürfen: Wie ein Bevölkerungswachstum (im Wechselspiel mit Einkommen und Steuereinnahmen) selbst das Wachsen von wirtschaftlichen Strukturen und Kaufkraft generiert. Die meisten Professoren der gereinigten Wirtschaftslehre glauben felsenfest daran, dass erst die Investoren kommen müssen, die Arbeitsplätze schaffen, dann erst kommt eine Gesellschaft zu Arbeit und Geld. Sie trinken zu oft mit diesen selbsternannten Gnadenbringern Sekt.

Das Beispiel Leipzig zeigt sehr deutlich, dass die Prozesse anders laufen und sehr viel mit Infrastrukturen zu tun haben, die für gewöhnlich die öffentliche Hand bezahlt – guten Bildungseinrichtungen zum Beispiel.

Von den 37.337 jungen Leuten, die 2013/2014 in Leipzig studierten, kamen nur 5.422 direkt aus Leipzig (764 davon waren Studienanfänger), nur 7.640 kamen aus den restlichen Teilen Sachsens (1.027 Studienanfänger darunter). Die meisten kamen aus den westlichen Bundesländern und Berlin – 10.636 (1.738 davon Studienanfänger). Das hat ein bisschen mit den doppelten Abiturjahrgängen in einigen Bundesländern zu tun. Aber nicht nur. Eine Hochschulstadt muss ja auch das gewünschte Studium bieten, sonst lohnt sich ja die Reise nicht. Was aber passiert, wenn eine Hochschule ganze Studienfächer streichen muss, weil die zuständige Kultusministerin das alles nicht interessiert, Archäologie nicht, Pharmazie nicht, Wirtschaftspädagogik nicht, Theaterwissenschaften nicht. Den Finanzminister auch nicht. Der würde ja protestierende Studenten barsch vom Campus weisen, wenn er Rektor wäre.

Vor einigen Zahlen in der Leipziger Hochschulstatistik steht ein Minus: Es haben sich weniger Studierwillige eingeschrieben, auch aus den neuen Bundesländern. Grund – so stellt Heidrun Schellbach in ihrem Beitrag im Quartalsbericht fest, ist die Ankunft der geburtenschwachen Jahrgänge in den Hochschulen. Aber das tun sie jetzt schon seit zwei Jahren. Und die Studierendenzahlen sinken nicht wirklich. Denn das Absinken von 37.458 (2012/2013) auf 37.337 (2013/2014) ist marginal. Denn das sich weniger eingeschrieben haben, bedeutet ja nicht, dass weniger Bewerbungen da waren. Auch in Leipzig sind etliche Fächer heillos überlaufen.

Das mit der Fächerwahl der ausländischen Studierenden hatten wir schon in einem vorhergehenden Beitrag erwähnt. Sie bevorzugen – sonderbarerweise – auch jene “Orchideenfächer”, die nun gestrichen werden sollen. Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, beides Bereiche, in denen die Uni Leipzig traditionell stark war. Gewesen sein wird. Aber jetzt sind wir irgendwie bei der Logik angekommen. Bei Mathematik und Naturwissenschaften (wo jeder sechste Studierende aus dem Ausland kommt) oder bei Ingenieurwissenschaften (wo es auch jeder sechste ist).

Dass Studierende auch noch Siedlungspioniere in diversen Leipziger Stadtteilen sind, haben wir auch schon geschrieben. Aber manche Infrastrukturen sind auf die moderne Art zu Leben nicht eingerichtet. Dazu kommen wir morgen an dieser Stelle.

Der Statistische Quartalsbericht I 2014 ist im Internet unter http://statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” einzusehen.

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