Da spricht Joachim Betz, Geschäftsführer der Verbraucherzentrale Sachsen, so gern davon, dass es den "mündigen Verbraucher" nicht gibt. Und dann bastelt die Verbraucherzentrale Sachsen selbst in einer mühsamen Puzzle-Arbeit eine Art "Wahlprüfsteine" zur Sachsenwahl zusammen, die in ihrem Anspruch so etwas wie einen "mündigen Wähler" voraussetzen.

“Die Plakatierung landauf landab kündigt es seit Wochen an: Ein neuer Landtag wird gewählt in Sachsen. Mit Wahlkampfauftritten der Kandidatinnen und Kandidaten auf Marktplätzen, bei Firmen und Vereinen, an Badeseen und teilweise sogar den Ostseestränden wird um die Wählerstimmen geworben. Allgemeine Politikverdrossenheit, Frustration über so manche politische Entscheidung sowie die scheinbar unüberschaubare Anzahl an Einzelthemen macht es vielen Wählerinnen und Wählern schwer, sich beherzt für zwei Kreuzchen auf dem Stimmzettel zu entscheiden”, stellt die Verbraucherzentrale etwas sehr Sinnfälliges fest.

Und glaubt dann, es brauche da nur noch eine Art Leitfaden für die ver(w)irrten Wähler.

“Eine Orientierungsmöglichkeit zumindest zu verbraucherrelevanten Fragen sollen die nun vorgestellten Wahlprüfsteine der Verbraucherzentrale Sachsen bieten. Vom Breitbandausbau auf dem Land, über Elementarschadenversicherungen und Klimaschutz bis hin zur effektiven Lebensmittelkontrolle wurden Handlungsbedarf und aus unserer Sicht verbraucherfreundliche Lösungen dargestellt”, kündigt sie an, was sie akribisch aus den Wahlprogrammen von fünf Parteien, die zur Landtagswahl antreten, zusammengetragen hat. Zu Mobilität, Telekommunikation, Lebensmitteln usw.

“Jeder einzelne Kandidat und jede einzelne Kandidatin der im Landtag vertretenen demokratischen Parteien sowie die Piratenpartei und die Partei Alternative für Deutschland wurden um eine Stellungnahme zu 28 Fragen gebeten, die natürlich nur einen exemplarischen Ausschnitt der täglichen Arbeit der Verbraucherschützer widerspiegeln”, erläutert Joachim Betz, Geschäftsführer der Verbraucherzentrale Sachsen.

Das Ergebnis ist ein gewaltiges Werk, mit dem der Nutzer am Computer sich über Stunden beschäftigen kann. Denn immerhin gibt es ja 60 Wahlkreise in Sachsen und in jedem starten mindestens fünf Direktkandidaten, die dann zu jedem Themenfeld und jedem Unterpunkt Zustimmung oder Ablehnung angegeben haben.Beim Thema “Energie und Klimaschutz” etwa sieht das bei CDU-Kandidat Ronald Pohle aus dem Wahlkeis 27 (Leipzig 1, PLZ: 04288, 04299, 04316, 04318, 04319, 04328, 04329, 04347) zum Beispiel so aus:

“In Sachsen soll ein verbindlicher Ausstiegsplan aus der Braunkohle erarbeitet und ein Klimaschutzgesetz (ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg) verabschiedet werden.”

Antwort: “Wir stimmen nicht zu.”

“Der Freistaat Sachsen setzt sich für eine Verknappung der Zertifikate im Emissionshandel ein.”

Antwort: “Wir stimmen nicht zu.”

“Die Lasten der Energiewende sind auf alle Stromabnehmer gleichmäßig zu verteilen, indem die vielen Ausnahmen bei der EEG-Umlagen-Befreiung entweder drastisch reduziert oder aus Steuermitteln bezahlt werden.”

Antwort: “Wir stimmen nicht zu.”

Sophie Dieckmann (Die Linke), Sebastian Walther (SPD) und Silvia Kunz (Bündnis 90 / Die Grünen), die im selben Wahlkreis wie Pohle antreten, stimmen den Thesen der Verbraucherzentrale hingegen zu. Das Phänomen findet man in allen abgefragten Themenfeldern. Die Mitglieder der beiden Regierungsparteien äußern sich strikt nach der aktuellen Position ihrer Regierung. Auch René Hobusch, der in diesem Wahlkreis für die FDP antritt, stimmt wie Ronald Pohle den drei abgefragten Punkten nicht zu.

Werden sich aber auch die “mündigen Wähler” so durchklicken durch das Angebot?

Wahrscheinlich nicht. Warum sollte sich der von Etiketten, Kleingedrucktem und Werbung irritierte Verbraucher beim Gang zur Wahlurne auf einmal anders verhalten, mündig gar? Erst recht, wenn heutige Parteien ihre Werbung genauso emotionalisieren, wie es die Unternehmen mit ihren Produkten tun?

Die meisten Wähler werden genau das sein, was die Verbraucherzentrale in ihrem Arbeitsfeld den “vertrauenden Verbraucher” nennt: vertrauende Wähler. Sie lesen weder das Kleingedruckte noch Wahlprogramme. Sie verlassen sich einfach darauf, dass das, was ihnen Parteien versprechen, auch das ist, was sie dann bekommen. Ein kritisches Sensorium einzuschätzen, ob die Zutaten stimmen, der Packungsinhalt der Gewünschte ist und der Preis gerechtfertigt ist, haben sie nicht. Sie vertrauen einfach.

Warum sollte sich Politik auch derart vom alltäglichen Konsum unterscheiden? Gerade in Zeiten, in denen Lobbygruppen massiv Einfluss nehmen auf Politik und selbst klassische Politikfelder immer weiter ökonomisiert werden. Erkennbar an Floskeln, die immer mehr um sich greifen, wie Effizienz, Umwegrendite, Synergieeffekte, (Fall-)Management usw.

Das Ergebnis ist natürlich auch eine Art Politik, in der der Bürger immer weniger Informationen über die politischen Hintergründe bekommt. Selbst gewählte Abgeordnete erleben zunehmend, wie ganze Entscheidungspakete unter Verschluss gehalten werden und “unter Ausschluss der Öffentlichkeit” verhandelt werden, weil “Interessen Dritter” berührt sind. Nicht mehr benannt werden dafür die “Interessen Erster”, der Wähler. Die werden zuweilen bewusst desinformiert, obwohl es ihr Gemeingut ist, das verhandelt wird.

Ergebnis: Auch hier gibt es – adäquat zum “verletzlichen Verbraucher” – auch die wachsende Gruppe der “verletzlichen Bürger”, deren Renten, Einkommen, Mieten, Konten zur politischen Verhandlungsmasse werden.

Übrig bleibt dann – entsprechend der Gruppe der “verantwortungsvollen Verbraucher” – die kleinste Wählergruppe: die der verantwortungsvollen Wähler, die auch Wahlprogramme lesen, Kandidatenrunden besuchen und Fragen stellen. Und die sich auch in aktuelle Politik einmischen – mit Petitionen, Anfragen, in öffentlichen Foren.

Und da sich auch in der Bundesrepublik der Charakter der Wahlen immer mehr dem amerikanischen Muster annähert, bei dem vor allem die Spitzenkandidaten und ihre Ausstrahlung den Ausschlag geben, wirkt diese Riesenarbeit um die “Wahlprüfsteine” der Verbraucherzentrale umso unzeitgemäßer. Sie appelliert an einen mündigen Wähler, den es so nicht gibt.

Aber natürlich kann sich der, der wissen will, wie die Grundmuster der sächsischen Parteien aus dem demokratischen Spektrum aussehen, hier durchklicken: Unter www.verbraucherzentrale-sachsen.de/landtagswahl erfährt man nun unkommentiert anhand der ausgewählten Problemfelder jeweils für den eigenen Wahlkreis und nach Parteien sortiert, wie relevant das Thema Verbraucherschutz für die einzelnen Kandidaten ist und welche Positionen der bzw. die Einzelne einnehmen will, wenn die Wahl in den Landtag erfolgt.

“Wie sich der neue Landtag für Verbraucherschutz im Freistaat einsetzen wird, werden wir beobachten und natürlich nicht unkommentiert lassen”, sagt Betz noch.

Und die Verbraucherzentrale betont – wie sich das für einen ordentlichen Beipackzettel gehört: “Die Wahlprüfsteine stellen keine Wahlempfehlung dar.”

www.verbraucherzentrale-sachsen.de

www.verbraucherzentrale-sachsen.de/landtagswahl

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