Dass die Ultras der BSG Chemie keine Mauerblümchen sind, ist weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Das Auswärtsspiel der Leutzscher beim VfB Zwenkau am letzten Samstag werden die Fußball-Fanatiker in dunkler Erinnerung behalten. Nicht wegen sportlicher Tiefpunkte. Das Spitzenspiel der 7. Liga endete torlos. Für Aufregung sorgt ein umstrittener Polizeieinsatz nach Abpfiff. Mindestens sechs Zuschauer und Polizisten wurden bei der Auseinandersetzung teils erheblich verletzt.

Rund 500 Chemiker waren in den Leipziger Vorort gereist. Etwa 20 bis 25 Fans bedienten sich vor der Partie in einem nahen Supermarkt – ohne zu bezahlen. Schadenssumme: 500 Euro. Die Täter waren männlich, schwarz gekleidet und trugen keine Fußballsymbole zur Schau. Die Beschreibung, die die Verkäufer den Polizisten mit auf den Weg gaben, passte auf eine Gruppierung, die Polizisten kurz darauf auf dem Zwenkauer Marktplatz feststellten. Offenbar handelte es sich um Chemie-Ultras.

Die Konsequenzen bekamen alle Gästefans nach Abpfiff zu spüren. Die Polizei fuhr schwere Geschütze auf, um der Diebe habhaft zu werden. Eine hinzugezogene Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit baute sich vor den grün-weißen Fans auf, um die Identität aller festzustellen, auf die die vage Täterbeschreibung passte. “Stattgefunden hat ein Landfriedensbruch in Verbindung mit mehreren Ladendiebstählen”, verargumentiert Polizeisprecher Uwe Voigt das repressive Vorgehen gegenüber L-IZ.de.

Ohne vorausgegangene Kommunikationsversuche griffen die Polizisten zu rabiaten Methoden: Schlagstock, Faustschläge, Pfefferspray. Fans wurden nach Darstellung der BSG Chemie mit “immenser Intensität” am Boden fixiert. “Dabei wurden die Knie teilweise mit äußerster Wucht in die Nackenbereiche der bereits am Boden liegenden Fans gepresst – selbst wenn eindeutig keinerlei Gegenwehr erkennbar war”, heißt es in einer Pressemitteilung des Vereins.
Als Funktionäre, Spieler und Fans vermitteln wollten, warfen ihnen die Einsatzkräfte vor, die Maßnahmen zu behindern – oder machten die “Schlichter” gleich zu Gegenstand derselbigen. “Nachdem die ersten Forderungen der Bekanntgabe, warum die Personalien erhoben werden sollten im Raum standen, gab es einen Solidarisierungseffekt von Teilen der Chemie-Fans”, berichtet Polizeisprecher Voigt. “Es wurde gegenüber den Polizeibeamten Gewalt angedroht und man widersetzte sich den Maßnahmen der Identitätsfeststellungen.”

“Die BSG Chemie Leipzig kritisiert den Polizeieinsatz insbesondere deshalb, weil er in Gänze dem widersprach, was in der gemeinsamen Gesprächsrunde unter dem Thema “strukturierte Saisonvorbereitung 2013/2014″ mit Vertretern von Verein und Polizei vereinbart und protokollarisch festgehalten worden ist”, schreibt der Verein in einer “Offiziellen Mitteilung” auf seiner Homepage. Seinerzeit sicherten die Vertreter der Polizei demnach zu, vor der Durchführung von polizeilichen Maßnahmen das Gespräch mit Vertretern von Verein und Fanprojekt zu suchen. “Die Vertreter des Fanprojektes wurden von den szenekundigen Beamten der Polizeidirektion informiert, dass nach dem Spiel die besagten Maßnahmen durchgeführt werden”, sagt Voigt. Vereinsvertreter berichteten L-IZ.de allerdings das Gegenteil.

Nicht nur der Verein übt Kritik. Das Fanprojekt war vor Ort mit zwei MitarbeiterInnen vertreten, darunter Leiterin Sarah Köhler. Sie wurde, so stellt es der Träger, die renommierte Outlaw gGmbH in einer Pressemitteilung dar, trotz konkreter Nachfrage nicht über die bevorstehende Maßnahme informiert, noch wurde die von ihr angebotene Vermittlungsfunktion des Fanprojekts genutzt. “Ich bin überzeugt, dass wir die Situation – wie schon in der Vergangenheit – gemeinsam mit dem Verein und den Fans hätten lösen können”, erklärte Köhler am Dienstag. “Wir haben bereits am Spieltag unser Unverständnis über die Art und Weise der polizeilichen Maßnahmen kommuniziert.”

Das Fanprojekt fordert die Verantwortlichen der Polizei daher dringend auf, die Vorgänge des Einsatzes vom Samstag aufzuklären. Die Sozialarbeiter monieren insbesondere die Verhältnismäßigkeit, die mangelhafte Kommunikation und die fehlende Kooperationsbereitschaft. “Diese Aufklärung muss nach unserer Ansicht transparent und gemeinsam mit dem Verein und dem Fanprojekt erfolgen”, meint Köhler. Dabei müsse es das Ziel sein, Strategien zu finden, die ein konstruktives Zusammenwirken zwischen Polizei auf der einen Seite und Fans, Verein und Fanprojekt ermöglichen.
“Unsere Erfahrungen bestehen nicht daraus, dass das Zusammenwirken so gut wäre, dass uns durch das Fanprojekt die Namen der Tatverdächtigten auf den Präsentierteller genannt werden würden”, kontert Polizeisprecher Voigt. Insgesamt fertigten seine Kollegen eine Anzeige wegen Landfriedensbruch und eine wegen Körperverletzung. Hinzu kamen zwei wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, weil sie bei Durchsuchungen verbotene Zahnschützer fanden.

Drei gefährliche Gegenstände wurden beschlagnahmt und 35 Platzverweise ausgesprochen. 75 Beamte waren im Einsatz. Sechs Personen, darunter zwei Beamte, wurden nach Polizeiangaben verletzt. “Insgesamt drei Notarztwagen mussten zum Spielort gerufen werden, um verletzte Chemie-Fans zu behandeln”, schreibt die BSG Chemie. “Unter anderem wurde ein Fan wegen einer herausgesprungenen Kniescheibe notärztlich behandelt, andere Fans trugen Gesichtsverletzungen davon.”

Die Leipziger Polizei stellte sich mittlerweile der Kritik. “Es fand gestern Nachmittag in der Polizeidirektion Leipzig eine Aussprache zwischen der Polizei und Teilen des Vorstandes der BSG Chemie statt. Es wurden die Positionen ausgetauscht, Erwartungshaltungen formuliert und die zukünftigen Aspekte einer Zusammenarbeit erörtert und ausgelotet”, berichtet Voigt. “Wie tragfähig diese Überlegungen in der Praxis sein werden, wird die Zukunft zeigen.”

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar