Leipzig hat kein Grafisches Viertel mehr. Die Chance wurde in der Stadtentwicklung nach 1990 verspielt. Man hat die Ostvorstadt den Immobilienentwicklern überlassen. Im Haus des Buches haben sich ein paar wenige Akteure der Buchbranche angesiedelt. Aber auch Mark Lehmstedt zog es jetzt nicht in diesen Bau. Er zog lieber in Barthels Hof.

Zehn Jahre lang betrieb er seinen Verlag mit Schwerpunkten in Kulturgeschichte, Regionalia und Fotografie in der Nähe des Lindenauer Marktes. Eine Gegend, die er noch immer schätzt. Der Ort mausert sich gerade. Aber nach zehn Jahren überlegt man sich schon, ob man nicht ein bisschen was ändert. Und eine Adresse im Herzen der Stadt – die passt schon. Wenn der Ort passt. Denn so mancher zieht ja auch deswegen nicht in die Innenstadt, weil man dort nicht arbeiten kann. Es sind nicht nur die Festbeschallungen zu allerlei Festen, die auf dem Markt stattfinden, die all jene zum Wahnsinn treiben, die in der City arbeiten wollen oder müssen. Es sind auch die Straßenbespielungen durch Straßenmusikanten, die so musikalisch sind, dass es selbst den eiligen Passanten graust. Es sind die Geschäftsbeschallungen mit Musik, die auch die Straße bedröhnen und die jeden, der nicht taub ist, eiligst in die Flucht schlagen.

Dass Leipzigs Händler und Filialisten von einer einladenden Einkaufsatmosphäre nicht viel Ahnung haben, wirkt sich leider auch aus auf das Flair und die Vermietbarkeit dieses teuren Stückchens der Stadt. Ruhe findet man nur abseits – in den alten Durchgangshöfen, von denen Barthels Hof der älteste existierende ist. “1747-1750 von George Werner für den Kaufmann Gottfried Barthel als Bank- und Handelshaus errichtet”, wie auch Mark Lehmstedt stolz auf seiner Website verkündet. In Stadtgeschichte kennt er sich aus. Und hat jetzt zu einigen seiner wichtigsten Partner deutlich kürzere Wege. Zum Stadtgeschichtlichen Museum braucht er jetzt nur noch über den Markt zu schlendern.

Am 18. Juni lud er Freunde und Mitstreiter ein zur Einweihung der neuen Verlagsräume. Auch Leipzigs Kulturbürgermeister Michael Faber kam – eigentlich ja alter Verleger-Kollege, nur dass der Verlag Faber und Faber derzeit ruht. Denn das Verlegerdasein in Leipzig ist kein leichtes. Das Problem der Stadt ist weder ihr Ruf noch ihr Lesepublikum. Ihr Problem ist das Geld. Wer hier Bücher produziert, muss mit kleineren Auflagen und geringeren Margen rechnen.Das macht kreativ. Keine Frage. Doch es begrenzt auch das Publikum. Gerade das für Bücher mit Anspruch, ansehnlich gemacht, mit Liebe und Professionalität. Bücher, die das Einweihungspublikum gleich im Entree festhielten, wo die verfügbaren Titel des Verlags aufgereiht sind. Die beiden Bände zum Wirken Hans Mayers in Leipzig, die Foto-Bände, die Hans-Reimann-Bände, das große Buch zum Hauptbahnhof, auch der Tiefensee-Band steht da – nicht weit vom Tagebuch Ursula Lehmann-Grubes aus den Jahren 1990/1991. Zeitgeschichte zum Blättern. Deswegen staut sich hier das Gratulationspublikum und blättert und liest sich fest.

Lehmstedt ist einer von den Leipziger Verlegern, die Bücher herausgeben, in denen man sich festliest. Bücher für Entdecker. Denn Vieles, was er aus den Archiven gräbt, ist seit Jahrzehnten nicht gedruckt worden – und überzeugt dennoch im 21. Jahrhundert. Es zeigt Leipzig als eine geistige Stadt. Eine, die sich – abseits aller Geschäftigkeit – auch das Nachdenken gönnte, das Zuhören und das ironische Blinzeln. Nachlesbar in den Sächsischen Miniaturen, auf deren Fortsetzung man mit jedem Katalog erneut wartet. Aber selbst für diese kleinen, handlichen Bücher gilt: Jeder Band will gut überlegt sein. Den Leipzigern – gerade den klugen und wissbegierigen – sitzt das Geld knapp in der Börse.Der Blick geht vom Büro direkt in Barthels Hof hinein, da, wo die Sonnenschirme aufgespannt sind und die Leipzig-Besucher hemdsärmelig sitzen und staunen. Denn der Hof erzählt derzeit einzig in Leipzig, wie es damals aussah, zu der Zeit, als der Frankfurter Kaufmannssohn Johann Wolfgang Goethe in Leipzig Jura studieren sollte und lieber bei Gellert lauschte. Das war damals, als der Kaufmann und Stadthauptmann Gottfried Barthel seinen Hof so umbauen ließ, wie er heute – schön ocker ausgemalt – zu erleben ist. Mit übertünchtem Wappen an der Hausfront.

Die Fabel dazu erzählt Armin Kühne, einer der rührigsten Stadtfotografen der Gegenwart. Nach der Restaurierung von Barthels Hof war das Wappen schön bunt gemalt – bis ein Besserwisser sich bei der zuständigen Leipziger Stadtzeitung meldete und darüber schimpfte. Was dann die Denkmalbehörde zu Taten trieb und das Wappen unter Ocker verschwinden ließ. “So sind se”, sagt Armin Kühne. Er kennt seine Pappenheimer in dieser Stadt. Mit dem einstigen Stadtbaurat Niels Gormsen veröffentlicht er in einem anderen Verlag – dem Passage-Verlag – seine Fotobände, in denen Leipziger Architektur im Zeitenwandel zu sehen ist.

Auch Barthels Hof, der 1990 eigentlich eine Ruine war. Selbst die Stadtbibliothek, die hier für Jahrzehnte ein Not-Domizil gefunden hatte, musste damals schließen wegen Baufälligkeit. Als 1997 Jürgen Schneider begann, das Gebäudeensemble zu sanieren, tat er’s auf recht forsche Art, entkernte und zerstörte dabei manches, was heute fehlt. Drinnen vor allem. Da sind zumeist nüchterne Räume entstanden. Nüchtern und praktisch. Entkernung nannte man das. So hatte es der “Baulöwe” bei sich zu Hause gelernt. Dergleichen ist manchem Leipziger Kleinod geschehen nach dem, was ein paar Spaßvögel gern “Wende” nennen.

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Praktisch sind die Räume. Und auch für Lehmstedts Autoren werden Wege jetzt kürzer. Auch wenn heute das Meiste gar nicht mehr wie einst mit Treppauf-Treppab geschieht sondern über die Internet-Verbindung. Bücher wandern durch die Leitungen hin und her – vom Autor zum Verleger, vom Verleger zum Layouter, zum Korrektor, zum Verleger, zur Druckerei. Was reift da gerade in den Leitungen? – Ein Buch zur Thomasschule und ihren berühmten Kantoren, das im Oktober erscheinen soll. Ein weiterer Beitrag zum 800-Jahre-THOMANA-Jahr. Den Band “800 Jahre Thomana”, in dem Doris Mundus die wichtigsten Bildzeugnisse aus diesen 800 Jahren gesammelt hat, gab’s schon im Februar.

Und da sich in Leipzig die Jubiläen alle so schön aneinander reihen, wird man solche Bücher künftig auch aus der Hainstraße 1 bekommen. Das ist die Hausnummer von Barthels Hof, wo auch mal ein nicht unbekannter Leipziger Schriftsteller wohnte: Johann Gottfried Seume. “Im Hofgebäude hinten”, schreibt Otto Werner Förster.

Im Hofgebäude hinten wohnt jetzt der Lehmstedt Verlag.

www.lehmstedt.de

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