Wie viele Entscheidungen gab es eigentlich in der letzten Zeit, bei denen die politischen Gremien endlich verantwortungsvoll auf Klimakrise und Artensterben hätten reagieren können? Und jedes Mal geriet das Ganze zur Farce, setzen sich die alten, finanzstarken Lobbygruppen durch. So auch bei der Abstimmung zur EU-Agrarpolitik, die auch die nächsten Jahre den Löwenanteil der GAP-Gelder in eine klimazerstörende Landwirtschaftspraxis fließen lässt. Der NABU Sachsen ist entsetzt.

Das Europäische Parlament hat am Freitag, 23. Oktober, beschlossen, die Agrarpolitik der EU bis 2027 im Wesentlichen unverändert zu belassen – und das trotz erheblicher Kritik vonseiten der Wissenschaft, einer großen Bewegung aus Klima-, Umwelt- und progressiven Agrarverbänden sowie Sozialdemokraten, Grünen und Linken. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) macht ein Drittel des gesamten EU-Haushalts aus.

„Die Entscheidung aus Brüssel führt dazu, dass ein Großteil der Steuergelder weiterhin Natur und Klima schädigt, an außerlandwirtschaftliche Grundbesitzer und die vor- und nachgelagerte Agrarindustrie weitergereicht werden“, erklärt Bernd Heinitz, Landesvorsitzender des NABU Sachsen. „Landwirte, die umsteuern wollen und aufgrund von zunehmenden Auflagen auch müssen, werden so massiv benachteiligt.“

„Die Abgeordneten aus CDU/CSU, FDP und ihren europäischen Schwesterparteien wollen Steuergelder von morgen für eine zerstörerische Agrarpolitik von vorgestern verplanen“, konstatiert Leif Miller, NABU-Bundesgeschäftsführer. Zu Recht hätten sich Greta Thunberg und die Fridays for Future-Bewegung mit #VoteThisCAPDown lautstark zu Wort gemeldet. „Hier werden die Chancen unserer Kinder, zukünftig ein gutes Leben mit einer intakten Natur und gesund erzeugten Lebensmitteln zu führen, verbaut.“

Greta Thunberg warf den opportunistischen EU-Parlamentariern „ökologische Zerstörung mit fast 400 Milliarden Euro“ vor. Genauer: 387 Milliarden Euro umfasst das Agrar-Budget der EU.

Der NABU fordert Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, die Verhandlungen abzubrechen und einen neuen GAP-Vorschlag zu unterbreiten.

„Der derzeitige Entwurf stammt noch von ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker und widerspricht allem, womit sie und ihr Green Deal gestartet sind. Wenn sie diese GAP-Verhandlungen jetzt nicht stoppt, wird der Green Deal keine Mond- sondern eine Bruchlandung – zumindest was die Landwirtschaft betrifft“, sagt Miller.

Die aus der Sicht des NABU wichtigsten Kritikpunkte am Beschluss des EU-Parlaments:

– Verglichen mit dem ohnehin schwachen Vorschlag der EU-Kommission von 2018 will das Parlament die verbindlichen Umweltregeln für die Landwirtschaft schwächer gestalten: Statt der nötigen zehn Prozent auf der gesamten landwirtschaftlichen Fläche müssen Landwirte nur fünf Prozent des Ackerlands für den Naturschutz zur Verfügung stellen.

Die wiederum dürfen sogar weiterhin beispielsweise für den Anbau von Leguminosen oder Zwischenfrüchten genutzt werden. Diese Regelungen gelten aktuell auch und haben nur zu insgesamt 1,5 Prozent Naturflächen in der Agrarlandschaft geführt. Ein Fortschritt ist hier also nicht zu erwarten.

– Im Gegensatz zum Agrarministerrat fordert das Parlament zwar zehn Prozent mehr, nämlich 30 Prozent der Ersten Säule, für die Finanzierung von freiwilligen Umweltmaßnahmen (EcoSchemes/Ökoregelungen) zu reservieren. Gleichzeitig enthält die Forderung jede Menge Schlupflöcher, sodass damit auch rein ökonomische Ziele gefördert werden können. Der NABU fordert in Übereinstimmung mit der Wissenschaft, dass die gesamte Erste Säule für gesellschaftliche Leistungen genutzt werden muss.

– Katastrophal für die Chancen der EU, klimaneutral und biodiversitätsverträglich zu werden, ist der Standpunkt des Parlaments, dass die Ziele des Green Deal von der EU-Kommission nicht für die Überprüfung der nationalen Umsetzung genutzt werden können. Zwar bekannten sich die Abgeordneten mehrheitlich zu einer Ausrichtung der GAP an dem Pariser Klimaabkommen. Ein verbindliches Reduktionsziel von 30 Prozent bis 2030 bekam dagegen keine ausreichende Unterstützung, weil sich die Europäische Volkspartei und Teile der Liberalen querstellten.

Die industrialisierte Landwirtschaft ist für 12 Prozent der europäischen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Und mit den angebauten Monokulturen auf riesigen Feldern, der massiven Überdüngung und dem flächendeckenden Einsatz von Pestiziden ist sie ein Hauptverursacher das massiven Insektensterbens.

Mit „Ernährungssicherung“, wie Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) behauptete, hat das Ganze ebenfalls nichts zu tun, denn so werden auch nicht die längst auch in Europa spürbare Erosion der Böden, der Verlust der Bodendiversität und der Speicherfähigkeit der Landschaft gebremst. Was man nur mit einer wirklich ökologischen Landwirtschaft schaffen könnte. Und zwar flächendeckend.

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