Wenn der Geschäftsführer des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes (MDV), Steffen Lehmann, tatsächlich "keine aufgeregte und unsachliche Diskussion auslösen" wollte, dann hat er es am Freitag, 17. Oktober, gründlich versemmelt. Seit Monaten warten Leipzigs Stadträte auf die schon für 2013 versprochenen Strukturvorschläge des MDV. Doch eine Idee, wie das Finanzierungsdilemma im MDV gelöst werden kann, landet nun ausgerechnet in der LVZ. Und der Titel klingt genau so, wie es sich Lehmann in seinen schlimmsten Träumen nicht ausgemalt haben mag.

“Mitteldeutscher Verkehrsverbund will Zwangsticket für alle Leipziger” steht über dem Beitrag, mit dem die LVZ eine Idee des MDV skizziert, wie der Verkehrsverbund in den nächsten Jahren aus dem Finanzdilemma und den jährlichen Verkündungen steigender Ticketpreise herauskommen kann. Die Unterzeile ist genauso reißerisch: “Millionen-Defizit droht – MDV plädiert für ungewöhnliche Finanzierungsmodelle”.

Mal ganz abgesehen davon, dass es das “drohende Millionendefizit” jedes Jahr gibt, sonst müssten ja die Fahrpreise nicht ständig erhöht werden. Aber wenn man die Kostenerhöhungen der nächsten zehn Jahre summiert, sieht das natürlich noch viel heftiger aus: “zusätzlich 130 Millionen Euro für den laufenden Betrieb sowie 50 Millionen Euro Investitionsmittel”, rechnet die LVZ vor. Da stecken auch die Unterfinanzierungen der letzten Jahre drin. Allein den Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB), die Mitglied im MDV sind, fehlen jährlich 20 Millionen Euro an Investitionsmitteln.

“Das Finanzierungsthema ist komplex”, wünschte sich Lehmann in der LVZ. “Es muss sachlich mit der Politik diskutiert werden.”

Wird es aber nicht. Denn auf Reizworte wie “Zwangsabgabe” steigen einige Politiker in Leipzig schneller ein, als man sich bei der LVZ ins Fäustchen lachen kann.

Die Meinung von CDU-Stadtrat Konrad Riedel war schon am Freitagmittag fertig: “Geld für realitätsferne Vorschläge verschleudert”.
Konrad Riedel: “Der MDV-Manager erwartet eine sachliche Diskussion zu seinen Vorschlägen zur Finanzierung des ÖPNV in der Zukunft. Beste Grundlage für eine sachliche Diskussion wäre es, keine ÖPNV-Gelder in ein Gutachten anzulegen, das in den meisten Punkten fern jeglicher Realität oder Realisierungsmöglichkeit ist. Realitätsfern ist vor allem die einseitige ÖPNV-Kostensicht wie beim Bürgerabgabe genannten Vorschlag, dass die 520.000 Bürger vom Neugeborenen bis zum Greis je 240 Euro berappen.”

Ist das wirklich so? Oder war das, was Lehmann sagte, erst mal nur ein Testballon?

Die Wirklichkeit sieht aus Sicht von Konrad Riedel ganz anders aus. “Wir haben Zigtausende auf Sozialhilfe- und Arbeitslosengeld II Angewiesene und Rentner, die Grundsicherung benötigen. Wer zahlt für sie? Die Stadt! Gerade hat der ÖPNV mit dem Senioren-Abo-Tarif diesem großen Teil der Bürgerschaft eine sehr gute und sehr gut genutzte Offerte unterbreitet – diese müsste mit ihrer über die Stadtgrenzen hinausreichenden Mobilitätssicherung gestrichen werden bzw. mit großer Bürokratie neu gebastelt werden. Oder: Die Familie mit fünf Kindern in meiner Nachbarschaft, wo beide Erwachsene arbeiten und trotzdem noch ‘Aufstocker’ sind, soll 1.680 Euro zahlen. Und das in einer Stadt, deren Ratsversammlung Kinder- und Familienfreundlichkeit als eines der wichtigsten Ziele bestimmt hat?”

Bei ihm jedenfalls klingelten schon mal die Telefone heiß: “Ich kann die vielen Anrufer verstehen, die mich als Stadtrat im Aufsichtsrat der LVB nach Veröffentlichung der wahnwitzigen MDV-Vorschläge aufforderten, diesem Blödsinn politisch Einhalt zu gebieten, sehr gut verstehen. Vor allem aber kann über diese Ideen nur dann ‘sachlich’ diskutiert werden, wenn auch alle Auswirkungen auf die Stadt und auf die ÖPNV-Unternehmen offen auf dem Tisch liegen. Denn mit der ‘Zwangsabgaben-Fahrkarte’ für jeden Leipziger Bürger verschwinden nicht die Kosten für Fahrkartenverkauf für Gäste der Stadt und Serviceeinrichtungen! – Der MDV als ÖPNV-Konzern macht es sich einfach zu leicht, Sachlichkeit einzufordern und das Ganze an die Politik zur Diskussion und Verantwortung abzuschieben. Nein, von den von Kommunen und Kreisen hochbezahlten LVB- und MDV-Managern darf man erwarten, dass sinnvolle und vor allem praktikable Vorschläge im Interesse der Allgemeinheit kommen, die von verantwortungsvollem Handeln der Beteiligten im Sinne ihrer Gesellschafter zeugen. Wenn nämlich auch einer dieser alle nicht neuen Vorschläge in der BRD umsetzbar wäre, hätten andere Regionen schon längst die ÖPNV-Finanzierungslücken auf diese Art geschlossen.”

Genauso deutlich fiel die Stellungnahme der FDP aus.

Als “völlig am Thema vorbei” bezeichnete der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Leipziger Stadtrat, René Hobusch, die Gedankenspiele des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes zur Einführung eines “Zwangstickets” für alle Bürger.

“Auf solche Ideen ist nicht einmal das ZK der SED zu seiner besten Zeit gekommen. Wer eine Leistung nutzt, soll sich an den Kosten beteiligen. Wer sie nicht nutzt, sollte nicht in gleichem Maß belastet werden. Offenbar vergisst Geschäftsführer Lehmann, dass jede Betätigung der Klospülung und jedes Drücken auf den Lichtschalter bereits heute die Bimmel mit finanziert – egal, ob man damit fährt oder nicht”, meint Hobusch.

Grundsätzlich sei es richtig, dass der Verkehrsverbund seinen Finanzbedarf errechne und seinen Mitgliedern vorstelle. “Aber dass direkt eine Zwangsabgabe ins Spiel gebracht wird, geht am Thema vorbei. Von einem MDV-Geschäftsführer erwarte ich, dass bei einer zu erwartenden Unterdeckung des Etats die Mitglieder informiert werden. Diese entscheiden dann, wie sie damit umgehen. Aufgabe eines Zuwendungsempfängers ist es nicht, sich über Finanzierungsarten den Kopf zu zerbrechen. Das ist Aufgabe der Politik. Wenn Herr Lehmann dafür Zeit hat, ist er offenbar nicht ausgelastet. Oberbürgermeister Burkhard Jung täte gut daran, hier ein Machtwort zu sprechen und den MDV-Geschäftsführer zurückzupfeifen. Lehmanns Aufgabe ist es, mit dem Geld, dass er von seinen Mitgliedern bekommt, den Nahverkehr zu organisieren – effizient und sparsam – und nicht das Fabulieren über neue Schwälle von Milch und Honig”, so Hobusch.

Natürlich gibt es auch positive Reaktionen. Die behandeln wir morgen an dieser Stelle extra. Denn gerade das Thema “fahrscheinloser ÖPNV” muss sachlich diskutiert werden. Stimmungsmache mit Worten wie “Zwangsabgabe” erzeugen genau das, was die LVZ hier von CDU und FDP bekam: Massive Abwehr und völlig blockierte Diskussionsbereitschaft. Den MDV haben wir auch angefragt auf diesen Schnellschuss. Auf die Antwort sind wir gespannt.

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