Sagen wir es mal so: Es ist wieder einmal eine hochgradig scheinheilige Debatte, die die Leipziger Volkszeitung derzeit rund um den zweiten Leipziger City-Tunnel führt. Und der OBM springt über das Stöckchen, obwohl selbst der ihm vorliegende "Nahverkehrsplan 2017" sagt: Es gibt überhaupt keinen Handlungsdruck für so einen Tunnel. Das S-Bahn-Netz steckt noch voller (eingeplanter) Potenziale, die bis heute überhaupt nicht genutzt werden.

Selbst im City-Tunnel wird gerade erst ein Drittel des Fahrgastaufkommens erreicht, das bei den Prognosen für den Tunnel in den 1990er Jahren einmal angedacht war, wie Alexander John so schön herausgearbeitet hat.

Im nächsten Beitrag zu seiner Serie wird er noch deutlicher: Alle ehrenamtlich tätigen Verkehrs- und Umweltvereine haben überhaupt keine Chance gehabt, zum vom ZVNL vorgelegten Nahverkehrsplan Stellung zu nehmen.

Das ist nicht nur eine Unterlassungssünde – das ist amtliche Arroganz.

Wer, wenn nicht sie, sollte die Sichtweise der Fahrgäste einbringen? Die meist automotorisierten Stadt-und Kreisverwaltungen?

Das ist auch das Problem der LVZ: Sie hat vom Nahverkehr keine Ahnung, weil ihre Redakteure nicht täglich mit Straßenbahn und S-Bahn unterwegs sind. Deshalb sehen sie weder die Potenziale im Netz noch die gewaltigen Lücken, die die (potenziellen) Fahrgäste geradezu zum Verzwifeln bringen – von fehlenden Haltepunkten genau da, wo sie gebraucht werden, über fehlende Anknüpfungen zu Bus und Straßenbahn, fehlende Außenverbindungen bis hin zur fehlenden Erschließung der Ortsränder. Genau da, wo das S-Bahn-Netz gute und schnelle Verbindungen herstellen soll, um die Menschen zum Umsteigen zu bewegen, hat es Löcher.

Eigentlich nicht akzeptable Löcher, die aber mit den Finanzierungsdebatten um 2008 zu tun haben, als sich andeutete, dass die heruntergerechneten 590 Millionen Euro für den Tunnel nicht reichen würden. Damals hat die Bahn etliche Teilstücke des Leipziger S-Bahn-Netzes vertagt und verschoben. “Netzergänzende Maßnahmen” hieß das damals. Deswegen wird an der Essener Straße noch gebaut, sind die geplanten Stationen um Mockau, Thekla und Paunsdorf noch nicht da.

Der ZVNL fordert zu recht auch neue Haltepunkte in Marienbrunn, an der Berliner Straße und am Güterverkehrszentrum. Schkeuditz-DHL ist genauso überfällig wie die Anbindung von Markranstädt und Weißenfels. Alles Dinge, die jetzt beschlossen, finanziert und gebaut werden müssen, damit das S-Bahn-Netz endlich anfängt, seine Wirkung wirklich zu entfalten und nicht nur die 21 Millionen Fahrgäste transportiert, die es 2016 geschafft hat, sondern 40 bis 50 Millionen. Das ist das Potenzial, mit dem einst der Bau des City-Tunnels begründet wurde.

Und statt dieses Netz erst einmal durchzudeklinieren und fertig zu bauen, wird über einen zweiten City-Tunnel spekuliert, dessen Sinnhaftigkeit nicht auf der Hand liegt. Und den es nicht unter 3 Milliarden Euro geben wird. 3 Milliarden Euro verplanen, wo noch nicht einmal die LVB ihre Hausaufgaben gemacht haben und die Leistungsfähigkeit im Straßenbahnnetz erhöht haben? Was für ein Drittel der Summe einen drei Mal höheren Effekt ergibt. Denn da geht es nicht nur um 20 oder 30 Millionen Passagiere im Jahr, sondern um 90 bis 100 Millionen.

Dass die LVZ so vehement für lauter teure Tunnellösungen kämpft, hat mit dem Leipziger Ring zu tun, der – statt ein leistungsfähiger Verteiler für die Straßenbahn zu sein – ein beliebter Autofahrerkreisel ist, auf dem die Straßenbahnen mehr herumstehen als fahren.

Wer bezahlt uns eigentlich die Zeit, die wir dort in herumstehenden Straßenbahnen täglich verplempern?

Straßenbahnen, die schon heute über 120 Millionen Fahrgäste im Jahr transportieren. Und die locker das Doppelte schaffen würden, wenn die Engstellen im Nezt endlich beseitigt würden.

Leipzig hat zwei Schienensysteme, deren Potenziale noch nicht einmal ansatzweise erschlossen sind. Darum müsste es in der laufenden Diskussion gehen. Das Gerede über einen zweiten City-Tunnel ist nichts als Ablenkung. Scheingefecht. So tun, als ob man Taten zeigt, obwohl selbst die einfache Nutzbarkeit der bestehenden Systeme ganz amtlich und stur ausgebremst wird.

Und noch etwas für die Freunde der großen Zahlen: Wer einen City-Tunnel dieser Größenordnung bis 2030 in den Plan bekommen möchte, braucht zwingend den Bund als Hauptfinanzierer. Denn weder Leipzig noch Sachsen können sich so ein Projekt leisten. Aber der Bundesverkehrswegeplan ist bis 2030 schon dicht gestopft – und viel dringendere Projekte wie die Elektrifizierung der Strecke nach Chemnitz stehen noch immer nicht mit Hausnummer drin. Das heißt:Bis 2030 muss Leipzig mit den bestehenden Systemen auskommen und diese ausbauen. Das ist die Hausaufgabe.

Silvesterknaller, Treuhandschatten, Sondierungs-Gerumpel und eine Stadt in der Nahverkehrs-Klemme

Silvesterknaller, Treuhandschatten, Sondierungs-Gerumpel und eine Stadt in der Nahverkehrs-Klemme

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar