Die erste der zahlreichen Hürden, vor die ich mich nach jahrelangem Arbeitsleben als Journalist, PR-Berater, Dolmetscher sowie Übersetzer für Englisch, Spanisch und Französisch bei meiner selbstauferlegten Arbeitssuche gestellt sah, war die hohe Kunst der Bewerbung. Ich hatte die Zeitungsanzeigen und Internetannoncen nach passenden Jobs durchforstet und war fündig geworden.

Da wurde nach dem Motto “jung, dynamisch, flexibel” nach Mitarbeitern für ein Kommunikationsunternehmen gesucht. Das übliche heutige Jobanzeigen-Blabla folgte: “Flache Hierarchien, sympathisches junges Team, Job mit vielfältigen, interessanten Herausforderungen und gründlicher Einarbeitung.” Wie üblich über Verdienstmöglichkeiten oder genaue Jobbeschreibung keine Angaben. Eine Unsitte, die sich besonders bei sogenannten Billigjobs inzwischen immer mehr durchsetzt.

Allerdings handelte es sich bei diesem Jobangebot ausnahmsweise mal nicht um eine der unzähligen Leiharbeitsfirmen, die auch in Leipzig in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Kein Wunder, erfreut sich diese von Seiten der Gewerkschaften oft kritisierte Branche doch eines echten Booms. Immerhin hat sich die Zahl der Leiharbeiter in Deutschland in den letzten beiden Jahren der Millionengrenze genähert und damit ein Rekordhoch erreicht. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) waren Ende Juni 2011 in 17.400 Zeitarbeitsfirmen rund 910.000 Menschen beschäftigt. Das seien 103.000 oder fast 13 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Rund ein Drittel der Leiharbeiter sei als Hilfspersonal tätig gewesen.

Damit hat sich die Zahl der Leiharbeiter in den letzten zehn Jahren verdreifacht. In den letzten 20 Jahren ist sie auf das fast Achtfache gestiegen. Inzwischen ist die Millionengrenze durchbrochen. Allerdings soll dem Kapitel Leiharbeitsmarkt hier noch eine eigene Folge mit entsprechend denkwürdigen Erlebnissen gewidmet werden.

Also zurück zur Bewerbung für das “junge, dynamische Unternehmen mit den flachen Hierarchien”. Aber wann hatte ich die letzte Bewerbung geschrieben? Hatte ich jemals eine geschrieben? Eine, wenn ich mich recht entsinne. Und die hat auf Anhieb geklappt. Zum Glück gibt es heutzutage das Internet, mit dessen Hilfe ich also eine halbwegs passable Anpreisung meiner Fähigkeiten zustande bekam. Und tatsächlich, wenige Tage nach Absendung meiner Bewerbungsmail bekam ich einen Anruf mit der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Ein Umstand, der mich nach meinen jetzigen Erfahrungen heute misstrauisch gemacht hätte. Aber es sollte ja eine Tiefenrecherche durchgeführt werden.

So war im Handumdrehen ein Termin vereinbart. Nächste Frage: Wie erscheinen zum Vorstellungsgespräch? Bedacht wählte ich die lässig elegante Variante – Anzug mit Hemd ohne Schlips. Ich war mit mir zufrieden und machte mich auf den Weg. Besagtes Kommunikationsunternehmen befand sich in der Nähe der Eisenbahnstraße in einem anonymen Büroblock. Mit der Vorstellung, mich auf ein Einzelgespräch vorbereiten zu müssen, sammelte ich mich noch einmal und schritt zum besagten Gebäude. Etwas machte mich stutzig. Etwa zwei Dutzend Menschen drängelten sich vor dem Eingang, rauchend, diskutierend. Von Anzug, feinem Zwirn oder schickem Kostüm keine Spur. Sah aus wie Frühstückpause während eines Seminars oder nach Berufsschule.

Selbstbewusst schob ich mich durch die Menge und wollte klingeln. Hinter mir sagte jemand: “Willst Du auch zum Vorstellungsgespräch?” wobei der Firmennamen fiel. Ich nickte. Er: “Die rufen uns alle gleich nach oben. Dauert noch zehn Minuten.” – “Uns alle?” dachte ich in einem Anflug von Kleinmut und schaute mir die bunte Schar um mich herum an. Etwas von der Vorstellung mit dem wichtigen Vorstellungsgespräch im kleinen Rahmen zerbröselte.

Fünf Minuten später summte es an der Lautsprecheranlage, eine schnarrende Stimme bat die Wartenden in den zweiten Stock. Die Herde drängte zum Eingang und wenige Augenblicke später stand man Schlange vor so etwas wie einem Empfangsschalter, wo man seinen Namen nennen musste und ein Ansteckschild mit Vor- und Zunamen erhielt, das man sichtbar an sich anbringen sollte. Geschäftig wuselten jung, elegant und dynamisch aussehende Damen hin und her. Jede trug ein Headset mit einem kleinen Mikro vor dem Mund, in das beständig leise aber intensiv und wichtig gesprochen wurde.

Alles hatte etwas von der Betriebsamkeit eines Bienenstockes an sich. Ein monotones Summen schien alles zu beherrschen. Nach etwa einer halben Stunde Wartezeit wurde die Herde in einen großen Konferenzraum mit einem ovalen Tisch gelotst, um den sich die ganze Schar niederließ. Weitere fünf Minuten vergingen, in denen diskret gemurmelt oder erwartungsvoll geschwiegen wurde. Zwischen all den Sandalenträgern, Jeanshosen und sonst auch ziemlich leger gekleideten und wesentlich jüngeren Teilnehmern des “Vorstellungsgespräches” fühlte ich mich mit meinem dunklen Anzug, den eleganten spitzen Schuhen und dem mintgrünen Hemd arg deplatziert. Einige starrten mich respektvoll bis argwöhnisch an und mich beschlich der etwas beunruhigende Gedanke, dass man mich für einen Personaler hielt, der sich undercover schon mal unter die “Herde” gemischt hatte, um insgeheim eine Vorauswahl zu treffen. Nie in meinem Leben war mir der Begriff “overdressed” schmerzlicher bewusst geworden als zu diesem Zeitpunkt.Als sich die Tür öffnete und eine dynamische Mittzwanzigerin in Kostüm und Seidenhalstuch (sollte mir noch oft begegnen) mit einem makellos weißen Lächeln den Konferenzraum betrat und betont energisch posaunte: “Willkommen bei …. (den Firmennamen lassen wir hier mal weg),” war ich etwas erleichtert, dass sich die Aufmerksamkeit endlich auf jemand anderen fokussierte. Als das Echo auf die joviale Begrüßung mager ausfiel, legte sich die Stirn der Kostümträgerin leicht in Falten, ein säuerliches Lächeln umspielte ihren Mund: “Na, na, na … da wünsche ich mir doch eine ‘rrrrrichtige” Begrüßung.'” Die Herde reagierte gehorsam, intonierte unisono und mit eindrucksvoller Lautstärke einen ordentlichen Gruß.

Ich schwieg, während erstes Unwohl sich in mir manifestierte. Forschen Schrittes bewegte sich “Kostümträgerin” (aus Gründen des Datenschutzes wird sie weiterhin so genannt) zu einem Clipboard und schrieb mit einem quietschenden Marker ihren Namen an die Klapptafel. Ein paar coole Sprüche, ein kleiner Witz zur Auflockerung der Atmosphäre genügten, um der Bewerbungsherde ein verhaltenes Kichern zu entlocken. Gut einstudiert das Ganze. Doch der Horror nahm unaufhaltsam weiter seinen Lauf. Und zwar in Form einer persönlichen Vorstellung jedes einzelnen Bewerbers in alphabetischer Reihenfolge.

Ich fühlte mich in meine Schulzeit zurück versetzt, als ich aufgrund meines Nachnamens meist der letzte in der Reihe war, was erfahrungsgemäß die unangenehme Eigenschaft hat, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nach zahlreichen recht kurzen und nicht gerade aufregenden Lebenslaufschilderungen und dem Aufzählen unsäglicher Hobbys (Sport, Fahrradfahren, Natur, Freunde, gesellige Abende etc.) war es an mir, mich zu outen.

Dazu muss ich sagen, dass ich mir von Anfang an vorgenommen hatte, keinen gefakten Lebenslauf vorzulegen, weil Lügen, kurze Beine… und so weiter. Also leierte ich meine reiche Berufserfahrung herunter, was ein anerkennendes Gemurmel zur Folge hatte. Ich glaube, dass ich rot wurde. Anerkennendes Nicken von Seiten der Kostümträgerin am Clipboard: “Dann können wir ja gespannt sein, was uns erwartet, nicht wahr?” Dieses “wir” war mir schon als Kind bei Arzt und Krankenschwester verdächtig und unsympathisch gewesen und sollte mich während meines Abenteuers im Dschungel des Arbeitsmarktes verfolgen wie mein eigener Schatten.

Was dann folgte, war ein Vortrag, der zum Ziel hatte, einen Job vorzustellen, dessen Wesen dennoch stets nebulös und nebelkerzig blieb, weil Datenschutz hier angeblich oberste Priorität hatte. Nicht zuletzt, was die Kunden besagter Kommunikationsfirma betraf. Denn da hatte man es, Zitat: “…mit großen Unternehmen zu tun, die renommiert sind, großen Wert auf Diskretion legen und jetzt noch nicht genannt werden dürfen.”

Auf jeden Fall erwarte einen eine spannende, abwechslungsreiche Aufgabe mit vielen Herausforderungen. Gründliche Einarbeitung unter der Anleitung von “Coaches” und “Supervisors” sei natürlich selbstverständlich, so dass man nicht ins kalte Wasser geschmissen werden würde. Mich fröstelte allerdings schon jetzt. Prompt folgten Fragen, ob man wüsste, um was es sich bei den Begriffen “outbound” und “inbound” handelte und ob man schon mal in einem Callcenter gearbeitet hätte.

So langsam ließ “Miss Kostüm” schließlich die Katze aus dem Sack und enthüllte, dass man sich im Kommunikationsunternehmen hauptsächlich mit der Akquise von Neukunden und der Betreuung von Stammkunden beschäftige. Und wieder die Bemerkung, dass es sich um “hochkarätige” Kunde handele, deren Markennamen sicher jeder der Anwesenden kennen würde. Mystisches Schweigen gefolgt von beeindrucktem Gemurmel war die Antwort im Rund. Um zu testen, meinte Miss Kostüm, wie es um die Kommunikationsfähigkeit jedes Einzelnen bestellt sei, werde man nun ein kleines “Spielchen” spielen.

Wieder Gekicher, Getuschel. Kaum gesagt, produzierte sie einen Karton von irgendwoher, aus dem sie wie ein Jahrmarktzauberer aus einem Zylinder folgende Utensilien hervorholte: einen Radiergummi, einen wasserfesten Marker (gelb), einen Bleistiftspitzer, einen Tacker und… ja, man glaubt es kaum … einen Locher.

Atemloses Schweigen folgte auf diesen schier unglaublichen Zaubertrick. “Die Aufgabe,” tönte Miss Kostüm, “…wird es nun für jeden Einzelnen von Ihnen sein, einen dieser Gegenstände so anzupreisen, dass ich totale Lust hätte, das zu kaufen.” Ich schluckte schwer … Schließlich war ich, o alphabetisches Schicksal, als letzter an der Reihe. Nachdem ich also mehr oder weniger gelungene Anpreisungen von diversen Büromaterialien über mich hatte ergehen lassen müssen, schallte es: “Herr Weidemann …”

Ich zuckte zusammen. Vor meiner Nase ragte ein gelber (wasserfester) Marker auf, …”Herr Weidemann, überzeugen Sie mich nun davon, dass ich nichts lieber als diesen Marker kaufen möchte.” – “Amen,” murmelte ich in mich hinein, straffte mich und sagte mir: “Nimm’s mit Humor!” So stellte ich mich, betrachtet von vielen Augenpaaren, an die Klapptafel und quetschte aus dem simplen Schreibgerät heraus, was meine Phantasie hergab. Kichern folgte, Lachen auch, als ich behauptete, dass man mit diesem Marker auch schwarz, blau oder grün schreiben könne. Als ich dann schließlich zum Beweis “schwarz”, “blau” und “grün” in Gelb an die Tafel schrieb und mit dem Spruch “Gelb regiert die Welt” schloss, brandete Applaus auf.

Eine halbe Stunde später fand ich mich tatsächlich im persönlichen Gespräch mit Miss Kostüm in einem separaten Raum. “Sehr lustig, Herr Weidemann, … wir würden Sie nehmen, doch erklären Sie mir eins bitte …” – “Gerne,” antwortete ich mit einem flauen Gefühl. “Warum wollen Sie mit Ihrer Berufserfahrung und Ihren Fähigkeiten bei uns anfangen … schließlich waren Sie auch jahrelang bei der Bild-Zeitung als Redakteur?”

Ein misstrauisches Flackern leuchtete in ihren Augen auf, doch darauf hatte ich mich vorbereitet. Also folgte ein Sermon vom Niedergang des Verlagswesens, dass es einem als freiem Journalisten nicht einfach machen würde, wieder Fuß zu fassen und dass es manchmal besser sei, beruflich einen Schritt zurück zu gehen, um wieder mit zweien nach vorne zu streben, anstatt auf der Stelle zu treten. Dabei verließ ich mich ganz auf mein loses und erprobtes Mundwerk, das ganz alleine die tollsten Geschichten vor sich hinplapperte, die alle Ausschmückungen enthielten, die ungeübte Lügner, Spione, Undercover-Journalisten und sonstige Whistleblower ohne Erfahrung üblicherweise vermissen ließen und unweigerlich entlarvt hätten. Kurz und gut: Ich sollte den Job antreten.

Und nun kam die Gretchenfrage: “Wie hoch (welch Euphemismus) soll denn das Gehalt sein?” “Am Anfang 1.100 brutto,” kam es zurück. Ich rang mir ein zufriedenes Lächeln ab. “Steigerungen möglich?” fragte ich forsch. “O ja, bis zu 1.300 brutto … 40-Stunden-Woche, Früh- und Spätschicht selbstverständlich …”

“Selbstverständlich,” murmelte ich nickend. “Urlaub?” – “Ja, natürlich, zwanzig Tage …” – “Oh,” heuchelte ich anerkennend, “…das ist… das ist äh, generös …”

“Ja,” kam es selbstbewusst zurück. “Wir legen großen Wert auf die Zufriedenheit unserer Mitarbeiter. Es gibt auch einen Pausenraum, wo Sie Ihr Frühstück einnehmen können, weil essen oder kleine Snacks am Arbeitsplatz nicht erlaubt sind, und wie gesagt, man wird gründlich eingearbeitet und lernt wirklich interessante Unternehmen kennen. Aber welche, das kann ich Ihnen erst sagen, wenn Sie Ihren Arbeitsvertrag und die Verschwiegenheitsklausel unterschrieben haben. Dann wird es richtig interessant.”

Ich muss jedoch zugeben, dass ich nicht wirklich abwartete, bis es richtig interessant wurde. Vielmehr begab ich mich nach erfolgreichem Massentest und anschließendem doch noch erfolgten Einzelgespräch zur Arbeitsagentur, wo ich mich nach besagtem Kommunikationsunternehmen erkundigte. Die Mitarbeiterin sah mich einigermaßen zerknirscht an und murmelte verschwörerisch: “Also, wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen …” – Ich nickte in vorauseilendem Gehorsam und antwortete leise aber deutlich, wie es unter Verschwörern üblich ist: “Ja, das will ich … ” – “Nehmen Sie das Angebot lieber nicht an, die Entlohnung ist mies und wir haben nicht gerade gute Erfahrungen mit diesem Kommunikationsunternehmen gemacht …” – “Ich auch nicht,” sagte ich und verabschiedete mich. Schließlich galt es, sich erneut zu bewerben.

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