Claudia Puhlfürst gehört zu den Krimi-Königinnen aus Sachsen. Sie lebt und arbeitet in Zwickau. Aber manchmal fährt sie auch einfach mal nach Leipzig rüber. Denn Sachsen ist eigentlich klein. Auch wenn man oft genug das Gefühl hat, Dresden läge irgendwo an der Moskwa. Selbst die Verbrecher sind flott über alle Grenzen. Manchmal aber sind sie auch nur einfach besoffen und hemmungslos.

Wie der vermeintliche Freund aus der Geschichte “Die Spur des Blutes”, die nach Leipzig führt in ein Milieu, in dem Freundschaft anders definiert wird und eine Ladung Alkohol genügt, um eine Situation eskalieren zu lassen. Doch was geschah tatsächlich in der kleinen Wohnung nahe am Hauptbahnhof? Woher kommt das ganze Blut? Und was erzählt es? – Nachdem der Rechtsmediziner Dr. Carsten Hädrich schon die Leiche akribisch untersucht hat und über die vorgefundenen Verletzungen einen wahrscheinlichen Tathergang hergeleitet hat, muss er auch noch am Tatort abklären, ob die Wunden mit den dortigen Blutspritzmustern übereinstimmen und was dort tatsächlich geschehen sein muss – in welcher Abfolge. Ja, und die Frage tut sich auf: Wie weist man das dem Täter nach?

Ein Kriminalfall, in dem Claudia Puhlfürst die Leser mitnimmt in die akribische Arbeit der Leipziger Rechtsmedizin. Hier wird deutlich, warum sie sich bei den Rechtsmedizinern besonders bedankt, mit denen sie nun den zweiten Band sehr aktueller authentischer Kriminalfälle vorgelegt hat. Aber das Wissen um die Möglichkeiten der modernen Rechtsmedizin hilft ihr ja auch in ihren Kriminalromanen. Wer fleißig solche Krimis liest, der kann das “Horror”-Gebläke der Boulevardzeitungen (und aller ihrer Verwandten) nicht mehr wirklich ertragen, diese künstliche Panik ohne Grund, als wäre jeder Mord eine unerwartete Überraschung in einer sonst blankgeputzt heilen Welt.Das Gegenteil ist wahr: Mord und Totschlag gehören auch zur heutigen Gesellschaft dazu – wie die Sucht und der Raub und der Neid und die Gier. Wer glaubt, all diese Dinge mit Polizeiaktionen und besonders drastischen “Law and Order”-Aktionen aus der Welt schaffen zu können, der belügt – Volk und Wähler.

Polizei und Justiz sind ja nicht entstanden, weil unverhofft das Böse auftauchte unter lauter anständigen Leuten, sondern weil Menschen gelernt haben, dass das Kriminelle immer da ist. Manchmal in Nadelstreifen und diebisch wie eine Elster, manchmal als von Trieben und Hilflosigkeit animierter junger Mann, der eines Tages anfängt, junge Frauen auf der Straße anzusprechen und zum Sex zu zwingen und dabei auch den Tod der Frauen riskiert, wie in “Hilferuf aus dem Kofferraum. Die ‘Sex-Bestie’ aus Sachsen”. Man merkt schon, aus welcher Medienwelt das Wort “Sex-Bestie” stammt.

Ganz ähnlich der Fall des “Oma-Mörders” aus Bremerhaven, der im Serienmord an alten Frauen versucht, seine Geldprobleme aus der Welt zu kriegen. Auch hier lenkt die von Boulevard-Journalisten gewählte Titulatur davon ab, dass das Außergewöhnliche an dem Fall nur die Gefühllosigkeit ist, mit der der Täter binnen weniger Tage mehrere alte Frauen umgebracht hat – sein Versuch, an die kargen Ersparnisse der alten Frauen zu kommen, ist so außergewöhnlich nicht. Viele ältere Leipziger können ein Lied davon singen, wie sie von dreisten Betrügern und falschen Enkeln gelinkt und bestohlen wurden. Andere erlebten ihr Trauma auf der Straße, wo sie von ebenso rücksichtslosen Tätern überfallen und ausgeraubt wurden. In allen Fällen kommt die Unfähigkeit, mit Geld sparsam umgehen zu können, mit der Unfähigkeit zusammen, mit den Opfern zu fühlen, fremdes Leid auch nur zu verstehen.

Hier hilft keine Polizeiarbeit, hier hilft nur eine gut organisierte soziale Betreuung und frühe pädagogische Hilfe. Wenn die Fälle nicht tatsächlich seltener werden, dann hat das auch mit einer Gesellschaft zu tun, die glaubt, dass die Polizei das ausbaden kann, was soziale Härte in der Politik erst verursacht hat.

Dann laut “Bestie!” zu schreien, ist mehr als scheinheilig. – Dass auch der moderne Umgang mit Sexualität nicht wirklich ehrlich ist, darf der Leser im Beitrag “Tödliche Lust. Autoerotische Unfälle” erfahren, in dem Claudia Puhlfürst von einigen eher peinlichen Begebenheiten aus dem Leben der zumeist männlichen Betroffenen erzählt.

Und mit “Die ‘Heldin von Mittweida'” kommt sie wieder zu einem sächsischen Fall, der 2007/2008 für Aufsehen sorgte und Sachsen wieder einmal in die Schlagzeilen brachte als Tummelplatz von gewalttätigen Rechtsextremen. Doch auch hier zeigte sich nach einer akribischen Untersuchung durch die Rechtsmedizin, dass auch ein in die Haut geritztes Hakenkreuz nicht immer eine einfache, mediengefällige Geschichte erzählt.Doch mittlerweile leben wir augenscheinlich in einer Welt, in der einige Medien nur noch mit Panik auf jede Nachricht reagieren – und diese Panik dann gleich weiterreichen an ihre Nutzer. 2006 sorgte ein Skelettfund in Obergrunstedt in Thüringen für Aufregung. Kurzzeitig scheint der Fund zu einem Vermisstenfall zu passen, bis das Institut für Rechtsmedizin der Uni Jena vermelden kann, dass das Skelett wohl 1.700 Jahre alt ist und die junge Frau wohl nicht durch Gewalt ums Leben kam. Aber auch das gehört zur Arbeit der Rechtsmedizin – den Archäologen zu helfen, teilweise tatsächlich Jahrhunderte alte Kriminalfälle zu lösen wie bei einem etwa 1.000 Jahre alten Skelett aus dem Kloster Rohr in Thüringen.

Mit der Geschichte über Kevin, ein Kleinkind, das 2006 tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, greift Puhlfürst einen Fall auf, wie er in den letzten Jahren die medialen Schlagzeilen vermehrt bestimmte – den Kindsmord, der scheinbar in ungeahntem Ausmaß um sich gegriffen hat. Und eben nicht nur im Osten, wie ein berühmter Kriminologe immer mal wieder gern erzählt hat. In diesem Fall handelt die Geschichte in Bremen, führt in das verstörende Milieu zweier junger Drogenabhängiger und erzählt vom Versagen der verantwortlichen Behörde, eigentlich eines einzelnen Jugendamtsmitarbeiters, der die Alarmsignale nicht nur ignorierte, sondern seine Untätigkeit auch noch beschönigte und vertuschte.

Eine Geschichte darüber, dass auch alle staatlichen Institutionen nicht helfen, wenn die Verantwortlichen kein Verantwortungsgefühl und keine Courage besitzen.

Immer wieder erwähnt Claudia Puhlfürst die wahrscheinlich recht hohe Zahl von unentdeckten Tötungsverbrechen in Deutschland. Am Ende des Buches, in dem sie einen Fall aus ihrer eigenen Heimatgemeinde Wüstenbrand erzählt, ahnt man, warum. Denn die Geschichte, die sie hier erzählt, wurde erst zum Fall für den Staatsanwalt, als der Sohn des bejahrten Opfers insistierte. Und natürlich berührt so eine Geschichte das Wesentliche, wenn sie praktisch “gleich nebenan” geschah und man das Opfer noch kannte.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Er hätte weiter gemordet
Claudia Puhlfürst, Militzke Verlag 2012, 16,99 Euro

Aber auch diese Geschichte erzählt von uralten Leidenschaften – oder sollte man besser sagen: menschlichen Defekten, die gar nicht so selten sind? Und die die Gesellschaft seit Jahrhunderten verstören und erschrecken und einfach nicht verschwinden, egal, wie die Entwicklung fortschreitet? – Zuweilen ist die Schicht sehr dünn, die den scheinbar so braven Bürger vom Täter trennt. Und es gehört sehr viel wissenschaftliche Akribie gerade in den Instituten der Rechtsmedizin dazu, am Ende die tatsächlichen Vorgänge zu beweisen und zu erklären. So kommt ein bisschen Licht in die Dunkelheit.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar