Es gibt Bücher und Geschichten, die muss man einfach lesen. Auch immer wieder lesen, auch wenn es keine "schönen" Bücher sind, eher bedrückende. Doch gerade heute, wo nationalistische Bewegungen auch nicht mehr davor zurückscheuen, zu Terror zu greifen, ist das Erinnern daran wichtig, was sie anrichten, wenn sie an die Macht kommen. Paul Tillards Buch "Das Brot der verfluchten Zeiten" ist mehr als ein Roman.

Natürlich kann man ihn neben “Das siebente Kreuz” und “Nackt unter Wölfen” stellen. Da gehört er auch hin. Doch so, wie Apitz’ “Nackt unter Wölfen” auch ein bisschen mehr ist als nur ein Roman über das Überleben im KZ Buchenwald, so ist auch Tillards 1966 erschienenes Buch “Le pain des temps maudit” mehr. Der 1914 geborene Tillard war 1942 als Mitglied der Resistance festgenommen worden und nach der Verurteilung zum Tod und Geiselhaft ins KZ Mauthausen deportiert worden. Das Kriegsende erlebte er im KZ Ebensee, einem Außenlager von Mauthausen in Oberösterreich. Und dort beginnt auch seine Erzählung in der Ich-Form, die er kurz vor seinem Tod 1966 geschrieben hat.

Das prägt auch den Stil seiner Geschichte. Schon vorher hatte er sich mehrfach mit dem Thema KZ beschäftigt – 1946 schon in der Abhandlung “Mauthausen”, einem der grundlegenden theoretischen Bücher über Geschichte und Haftbedingungen in deutschen KZs aus der Sicht eines Betroffenen. Später befasste er sich mit dem Thema im Roman “Die Triumphierenden”. Doch ganz abschließen konnte er das Thema nie. Denn das, was die Häftlinge in den Vernichtungslagern erlebten, ging deutlich an die Grenzen des Erträglichen. Nicht nur die Haftbedingungen waren katastrophal und darauf angelegt, die Inhaftierten zu zermürben und zu schwächen, in Ebensee mussten die Häftlinge auch kilometerlange Stollen aus dem Berg brechen, die für die deutsche Kriegsproduktion vorgesehen waren.

Gleichzeitig ließen die mit der Aufsicht des Lagers beauftragten SS-Wachen all ihren Sadismus an den Gefangen aus. Jede Schwäche, jeder falsche Schritt konnte in eine grausame Todesmarter münden. Tillard erzählt von zwei besonders grausamen Weihnachten, die die SS veranstaltete. Und mit seinen Augen sieht man, was passiert, wenn das Erbärmlichste der menschlichen Gesellschaft zur Macht kommt. Und was bei Apitz wie ein Gegenentwurf zu lesen ist und auch bei Apitz keine Phantasie war, findet sich auch bei Tillard wieder: Die von den Häftlingen selbst organisierte Hilfsgemeinschaft innerhalb des Lagers, die auch dem Ich-Erzähler Tillards zugute kommt.
In diesem Erzähler steckt er natürlich selbst. Die Begebenheiten, die er schildert, und die Mithäftlinge und SS-Schergen, die er nennt, sind in der Regel auch historisch nachweisbar. Da und dort mit kleinen Unschärfen, weil Tillard für sein letztes Buch auch da und dort die Handlung raffen musste. Auch wenn die finsterste Gestalt in diesem Buch der SS-Mann Anton Ganz ist, so bewegt den Autor kurz vor seinem frühen Tod wohl etwas anderes nachhaltig.

Ein später Besuch in Ebensee ruft dem einstigen Häftling die Erinnerung wieder wach, denn bei diesem Besuch trifft er gemeinsam mit seinem Freund ein paar Ärzte, die der Exhumierung eines französischen Häftlings beiwohnen wollen, der in die Heimat überführt werden soll. Doch das Skelett, das die Totengräber aus dem Boden holen, ist augenscheinlich das eines ganz anderen. Doch gerade mit dem gesuchten Häftling verbindet den Erzähler eine besondere Geschichte, in der es um jenes “Brot der bitteren Jahre” geht, eine Sonderzuteilung, die jeden Tag durch die organisierte Häftlings-Solidarität an besonders bedürftige Gefangene verteilt wurde. Der Erzähler war mit einer solchen Verteilung beauftragt – und musste gerade dem Häftling, um den es jetzt ging, einst die Ration entziehen. Das hatte dann gleich mehrere dramatische Folgen.

Und noch Jahre später zermartert sich der Erzähler: Wie hätte er anders handeln können? Gab es überhaupt eine Alternative? – Ganz ähnlich ist es wenig später mit seinem Einsatz im Stollen, bei dem er von einer SS-Streife so zugerichtet wird, dass er Monate im Lazarett liegen muss, zeitweilig auch in der Todesbaracke, als ihn der Typhus erwischt. Hier erlebt er die Solidarität der Häftlinge auf ganz neue Weise. Immer wieder reflektiert auch auf die Tage seiner Verhaftung und die erste Zeit im Gefängnis, als sein Überlebenswille und sein Mut auch schon auf die Probe gestellt wurden. Wie viel Menschlichkeit kann man eigentlich bewahren, wenn die schlimmsten Kriminellen auf einmal bestimmen, was Recht und Ordnung ist?

Mehr zum Thema:

Von Aufstieg und Fall des König Mu: Die juristische Abrechnung mit Sachsens NS-Gauleiter
Sachsens NS-Gauleiter Martin Mutschmann …

Die Geschichte hinter einem Welt-Bestseller: Das Buchenwaldkind
Die Fragen, die sich deutsche Autoren …

In den Mühlen der Mörder: Tino Hemmanns “Der unwerte Schatz”
Der 1. September 1939 war nicht nur der Tag …

Und sind alle Boches Verbrecher? – Tatsächlich begegnet der Autor auch ein paar Wenigen, die ihn ermutigen, weil sie ihm signalisieren, dass sie mit dem finsteren Spiel nicht einverstanden sind. Was natürlich die so oft unbeantwortet gelassene Frage anreißt: Wie viel Spielraum haben anständige Menschen noch, wenn die Macht den Halunken überlassen wird? Halunken, die oft genug unbehelligt untertauchen konnten nach dem Krieg und in höchste Ämter aufsteigen konnten, befördert von funktionierenden Seilschaften. Vielleicht auch einer der Gründe dafür, warum Tillards Buch nicht 1966 übersetzt wurde, sondern jetzt erst.

Die Geschichte ist so bedrückend geblieben, wie sie Tillard niedergeschrieben hat. Es gibt genug Länder auf der Welt, in denen regierende Sadisten mit Andersdenkenden genauso umgehen. Bis heute. Die ganz spezielle deutsche Geschichte ist so speziell nicht, auch wenn sie wohl so akribisch aufgearbeitet wurde, wie keine Diktatur-Geschichte sonst auf Erden. Und irgendwie bleibt das flaue Gefühl, dass einige Grundhaltungen dieser menschenverachtenden Bürokraten bis heute überlebt haben. In aller Stille und mit dem biederen Anschein von Notwendigkeit. Denn hinter den Sadisten standen immer die Gierigen und Profithungrigen.

Menschlichkeit ist in deren Koordinatensystem kein Richtmaß. Leute wie der SS-Mann Anton Ganz kommen ihnen zupass, denn die erledigen für sie die Arbeit des Quälens, Einschüchterns und Mordens.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

Das Brot der verfluchten Zeiten
Paul Tillard, Leipziger Literaturverlag 2012, 19,95 Euro

Tillard ist einer von jenen, die die Qualen des KZ Ebensee überlebten. 8.745 Häftlinge starben zwischen 1943 und 1945 im KZ Ebensee. Das klingt so einfach, so nüchtern. Mit Tillards Buch erlebt man die Welt der Betroffenen aus ihrer Perspektive – mit der allgegenwärtigen Frage: Wie kann man sich unter solchen Bedingungen seine Menschlichkeit bewahren – und die Kraft zum Überleben?

Paul Tillard “Das Brot der verfluchten Zeiten”, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2012, 19,95 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar