Nun gibt es auch noch ein Jugendbuch zum 800-Jahre-Jubiläum der Gründung des Thomasklosters in Leipzig. Der Untertitel "Neue Thomanersagen" täuscht ein wenig - es gibt gar keine alten. Und die hier sind alle erfunden. Mit Lust am Fabulieren erfunden. Zu erzählen gibt es genug.

Und tatsächlich bilden das einstige Thomaskloster, die Thomaskirche, das Alumnat und die alte Stadt Leipzig eine anheimelnde Atmosphäre für solche Geschichten, in denen vor allem die jungen Thomaner eine Hauptrolle spielen. Wie in alten Kinderbüchern, bevor Kinder zu Zauberern und Superhelden mit immer gewaschenen T-Shirts wurden. Als es auch Jugendbuchautoren noch reizvoll fanden, möglichst akribisch die Lebenswelt vergangener Jahrhunderte nachzuzeichnen und junge Heldinnen und Helden, die eben nicht mit der Zeitmaschine hinreisten, mit den später so berühmten Zeitgenossen auf Tuchfühlung zu bringen. Das war einmal. Und es war spannend, denn es lud die jungen Leser zum Lernen und Eintauchen ein.

Und die Autoren mussten sich Mühe geben, mussten die Zeit, die Umgangssprache, die historischen Ereignisse, die Lebensbedingungen recherchieren. Und dann ging es los, dann konnten sie – wie Dickens oder Stevenson – ihre jugendlichen Helden, die oft genug Ausreißer, Lehrjungen oder Waisenkinder waren, ihr Leben leben lassen, das sie zuweilen ganz magisch in den Dunstkreis der Forscher, Fürsten und Entdecker brachte.Das alles ist irgendwo in den Tiefen der Regale verschwunden. Heute wird die fehlende Authentizität der für Jugendliche geschriebenen Bücher oft mit dem Label “Fantasy” zugekleistert. Die Grenzen zum Märchen verschwimmen. Manche dieser Bücher begeistern zwar die jungen Leser. Aber sie lernen nicht mehr viel daraus.

Tobias Michael Wolff macht es auf die eher klassische Art. Die Voraussetzungen hat er als studierter Musikwissenschaftler. Und was ihm fehlte an Kolorit, das eignete er sich an. Am Ende des Buches dankt er einem der besten Kenner der Geschichte der Thomaskirche, Stefan Altner. Immerhin gehört einiges an Detailtreue dazu, um zum Beispiel dem alten Thomaskloster logische Strukturen zu geben, in dem die erste Geschichte spielt und in der Wolff versucht, für den Mord an Dietrich III., genannt Diezmann, in der Thomaskirche ein Motiv zu finden. Hier ist es ein Thomaner namens Michel, der an einem düsteren Dezembertag 1307 nicht nur den Mord des Landgrafen miterlebt, sondern auch mitbekommt, dass hinter dem Mord möglicherweise auch kriminelle Machenschaften lauern, die bis ins Thomaskloster hineinreichen.

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Wolff, der nach 2001 auch als Autor für die LVZ und den MDR arbeitete und heute Intendant der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen ist, betont extra, das all seine Geschichten erfunden sind, manchmal auch etwas kühn mit den Fakten verknüpft. Auch wenn die Fakten stimmen. Doch ihm ging es unübersehbar ums Erzählen. Ist die erste Geschichte um den “Mord in der Thomaskirche” eher eine mittelalterliche Kriminalgeschichte, so geht es in “Der tumbe Thomo” um das Schicksal eines Waisenjungen, die Wolff mit Laune verknüpft mit den teilweise selbst sagenhaften Geschichten aus dem Leipzig in der Reformationszeit – da taucht Eulenspiegel auf, der ja bekanntlich die Leipziger Kaufleute mit einem falschen Hasen betrog, da reitet Dr. Faust auf dem Fass aus Auerbachs Keller und nimmt Thomo gleich mit, da verkauft Tetzel an Thomo einen Ablasszettel, den der Bursche am Ende gar nicht braucht, weil er sein ganzes Leben so keusch und einfältig bleibt, dass der ganze Himmel jubelt, als er – nach dem Abriss des Klosters – tatsächlich dort auftaucht.In “Wettstreit im Himmel” schildert Wolff die letzten Minütlein des Thomaskantors Sethus Calvisius, eines der bekannteren Vorgänger von Johann Sebastian Bach, der logischerweise in der nächsten Geschichte auftaucht, die dann einfach mal “Zu viele Noten” heißt. Kein geringerer als Mozart begegnet in “Die verzauberte Pfeife” einem schrecklich verliebten Thomaner. “Die Reise Chons” verbindet die Geschichte der Thomaner dann mit dem Ägypten-Forscher Georg Steindorff. Und danach hätte das Buch eigentlich zu Ende sein können. Der junge Leser hat eine kleine Zeitreise hinter sich, hat einige zuweilen recht wilde Abenteuer erlebt und trotzdem so einiges gelernt über die Geschichte der Thomaner.

Was folgt, ist eine recht turbulente Geschichte, die Wolff im Jahr 2083 spielen lässt, einer Zeit, in der der Klimawandel die Welt fest im Griff hat. Leipzig dörrt bei 45 Grad im Schatten, der Verkehr ist komplett in Röhren unter die Erde verlegt worden. Doch das Genre hat Wolff damit komplett verlassen. Hier lässt er seiner Phantasie die Zügel schießen, lässt die Leipziger wiederholt ein gigantisches Wagner-Denkmal errichten und einen wilden Möchtegern-Kantor versuchen, die Thomaskirche zu stehlen.

Die Geschichte liest sich wie ein bunter Comic und ist vom Wesen her auch einer. Nur die Bilder fehlen und die Blitze, die Sprechblasen und die in einem großen Panorama-Bild angreifenden Gruxianer. Wolff spielt hier mit einigen Assoziationen. Seinen geliebten Kulturchef aus Leipziger Zeiten hat er schon vorher im Buch untergebracht. In seinem Zukunfts-Comic kommt die legendäre Tunnelbohrmaschine Leonie zu neuen Ehren. Und der Thomaskantor wird nicht nur zum Helden, sondern findet möglicherweise auch seine große Liebe. Die Geschichte ist so schräg wie die meisten Splash-Boom-Bäng-Comics, vielleicht – neben den braven historischen Jugendromanen – das Kindheitslesefutter des Autors.

Fehlt eigentlich noch eine Thomanersage mit einem Zauberlehrling, einem jungen Waisen mit einem markanten Mal auf der Stirn, der eines Tages von einer Schneeeule einen Brief gebracht bekommt, der ihn einlädt, eine berühmte Sängerschule zu besuchen. Nur eins gibt’s da nicht: Mädchen. Wäre auch eine Geschichte. Und könnte nach dem phantasievollen Tumult von 2083 durchaus erholsam sein.

Die verzauberte Pfeife, Tobias Michael Wolff, Evangelische Verlagsanstalt 2012, 14,80 Euro

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