In den deutschen Geschichtsbüchern steht das Jahr 1888 als Drei-Kaiser-Jahr. Aber auch in der Leipziger Geschichte ist dieses Jahr ein besonderes. Und zwar auf Leipziger Art: Es ist das Jahr, in dem sich die berühmtesten Komponisten der Zeit in Leipzig die Klinke in die Hand gaben. Und wäre die Fotografie damals schon digital gewesen, wir besäßen ein ganz besonderes Foto: Johannes Brahms, Edvard Grieg und Peter Tschaikowsky nebeneinander an einem Tisch. Nicht ganz einträchtig.

So geschehen am 1. Januar 1888 beim Besuch Peter Tschaikowskys bei Adolf und Anna Brodsky in der Kaiser-Wilhelm-Straße 21, der heutigen August-Bebel-Straße, damals noch benannt nach dem noch lebenden Kaiser Wilhelm. Brodsky war einer der berühmtesten und besten Violinisten Europas und sein Haus war für den schüchternen und zuweilen fast menschenscheuen Tschaikowsky während dessen zwei Leipzig-Besuchen eine Zuflucht, in der sich Tschaikowsky geborgen und geliebt fühlte. Vom 31. Dezember 1887 bis zum 12. Februar 1888 dauerte dieser Aufenthalt in Leipzig.

Wolfgang Glaab (geboren 1946), der eigentlich Betriebswirt ist, hat schon zwei Bücher über seinen Lieblingskomponisten veröffentlicht: “Begegnungen mit Peter Tschaikowsky – Frankfurt am Main 1889” und “Kurgast Tschaikowsky. Sommer 1870 in Soden am Taunus”. Er ist Mitglied im Vorstand der Tschaikowsky-Gesellschaft e.V. in Tübingen. Es ist also kein Zufall, dass er sich auch mit Tschaikowskys Leipzig-Besuch näher beschäftigte. Und er tut es auf ganz besondere Weise.

Er rekonstruiert diesen Aufenthalt fast minutiös. Und er verlässt sich bei der Rekonstruktion fast nur auf Primär-Quellen. Zuallererst natürlich auf Tschaikowskys Tagebücher, die er – Ereignis für Ereignis – abgleicht mit Tschaikowskys Briefen, den Briefen einiger seiner Freunde und Bekanntschaften. Darunter der “schreckliche Herr Fridrich” aus Berlin, der im Grunde die erfolgreiche Europa-Tournee erst in die Wege geleitet hatte – nur Tschaikowsky kam mit dem Mann augenscheinlich überhaupt nicht zurecht.Glaab hat sich aber auch die Zugfahrpläne organisiert, um herauszufinden, mit welchen Zügen Tschaikowsky ankam oder weiter reiste, er hat sich die amtlichen Wetterberichte besorgt. Auch das etwas, was viele Biografen meist vergessen. Was war denn für ein Wetter, als Tschaikowsky nach Leipzig kam, um hier sein erstes Konzert im Gewandhaus selbst zu dirigieren? – Die amtlichen Nachrichten erzählen von Schnee und teilweise eisigen Temperaturen.

Minutiös arbeitet Glaab auch die Wohn- und Wirkungsorte der Personen heraus, die Tschaikowsky besuchte. Die Brodkys natürlich mehrfach, die Silotys in Eutritzsch ebenso. Zur Geografie dieser Tage gehören natürlich auch das Alte und das Neue Gewandhaus, das Konservatorium der Musik, das Alte und das Neue Theater und die Wohnung des Gewandhauskapellmeisters Carl Reinecke in der Querstraße. Selbst den Krystallpalast hat Tschaikowsky besucht. Und viele Wege legte er eben nicht in Schlitten und Droschke zurück, sondern wohl zu Fuß. Auf ausgedehnten Spaziergängen erholte er sich vom Trubel während der gesellschaftlichen Auftritte – manchmal verlief er sich auch.

Das Hotel Hauffe am Roßplatz war ihm während der Leipziger Tage ein zweites Zuhause. Wie elegant die Ausstattung war, zeigen ein paar der Fotografien im reichen Bilderteil in der Mitte des Buches.

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Dass Tschaikowsky bei diesem Besuch in Leipzig den namhaften Komponisten der Zeit über den Weg lief, ist – aus der zeitlichen Entfernung betrachtet – so natürlich auch ein historisch seltener Moment. Eine “Sternstunde” ganz im Sinne Stefan Zweigs – bis hin zum gar nicht so erwarteten Erfolg im Gewandhaus. Denn Leipzig war zwar neben Wien die große Musikstadt Europas – aber entsprechend streng und zuweilen böswillig waren auch die örtlichen Kritiker. Deren Kritiken übrigens zitiert Glaab auch ausführlich. Immerhin geben sie trotz aller Nörgelei ebenfalls einen Eindruck davon, wie Tschaikowsky und seine Musik damals in Leipzig wahrgenommen wurde.

Sie zeigen aber auch, welche musikalischen Fronten sich auftaten. Und mit Brahms weilte damals ein Mann in der Stadt, mit dessen musikalischer Haltung Tschaikowsky völlig im Dissens stand. Dass er im Hause Brodsky nun ausgerechnet Brahms begegnete, der dort mit Brodsky für eine Aufführung im Gewandhaus probte, hätte durchaus schief gehen können, auch wenn Tschaikowsky sich wohl immer hütete, in solchen eher öffentlichen Runden überhaupt über Musik und andere Musiker zu sprechen.

Aber da kann Glaab auf die Texte zurückgreifen, die Tschaikowsky selbst in den 1870er Jahren als Musikkritiker geschrieben hatte. Und es verblüfft, wie vertraut und verständlich seine Urteile sind. – Anna Brodsky versuchte, das Knistern zwischen den beiden Komponisten zu entschärfen, indem sie Nina Grieg zwischen die beiden platzierte – aber die sprang nach einer Weile völlig entnervt auf, weil sie die Spannung gar nicht aushielt. Da sprang dann Edvard Grieg in die Bresche und setzte sich als Puffer zwischen die beiden.Mit dem Norweger Edvard Grieg fand Tschaikowsky einen Freund und Musiker, der ihm tatsächlich lebensverwandt war. Beide waren sich – in ihren Kompositionen unüberhörbar – auch nah in der Frage, welche Wege die neue Musik gehen konnte und sollte. Es gibt ein paar eindeutige Aussagen Tschaikowskys zu Wagner, Liszt und Brahms. Aber auch zu Mendelssohn, dessen Fähigkeit zu Eleganz und Harmonie er bewunderte, auch wenn ihm Mendelssohn im Ganzen zu harmonisch war.

Aber er sah auch bei seinem Deutschlandbesuch, wie die fast euphorische Verehrung, die Mendelssohn zu Lebzeiten besessen hatte, nun auf einmal umschlug in eine Verachtung, die Mendelssohn Arbeit erst recht nicht gerecht wurde.

Nicht jede Begegnung in Leipzig wurde so intensiv wie die mit Grieg. Immerhin lernte Tschaikowsky auch Gustav Mahler und Ferruccio Busoni kennen, die in diesen Tagen ebenfalls in Leipzig wirkten – Mahler unter anderem damit beschäftigt, den begnadeten Arthur Nikisch von der 1. Kapellmeisterstelle des Schauspiels zu verdrängen.

Am 7. Januar 1888 besuchte Tschaikowsky zusammen mit Alexander Siloty das Foto-Studio Müller & Pilgram in der Löhrstraße 11, so dass es tatsächlich Fotos von diesem Leipzig-Besuch gibt. Darauf sieht man den 48jährigen Komponisten, der deutlich älter aussieht und sich auch in vielen Tagebucheinträgen so fühlte. Schon fünf Jahre später starb er, sollte auch seinen Freund Edvard Grieg nie wiedersehen. Nur Leipzig besuchte er noch einmal – wieder im Winter, im Februar 1889, wo er sich im Hotel Hauffe und bei den Brodskys wieder wie zu Hause fühlte.

Verständlich, dass auch der letzte Abschied von Leipzig am 2. März 1889 nicht von Freude geprägt war. In sein Tagebuch schrieb er: “Allein. Kalt. Traurig.”

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Tschaikowsky in Leipzig
Wolfgang Glaab, Lehmstedt Verlag 2012, 24,90 Euro

Es ist erstaunlich, wie plastisch ein paar wenige Tage in einem Leipzig, wie es vor 124 Jahren war, werden können, wenn sich einer wie Glaab hinsetzt und versucht, die Zeit, die Orte und die Ereignisse aus originären Quellen zu rekonstruieren. Man sieht den nervösen Komponisten fast plastisch durch den Schnee der Stadt stapfen, mal von Magenschmerzen gequält, mal völlig überdreht vom überstandenen Trubel.

Das Gebäude des Hotel Hauffe wurde im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört. Es stand ungefähr dort, wo heute der Durchgang von der Auguste-Schmidt-Straße durch die Ringbebauung zu jenem Teilstück des Rings ist, der heute auch noch Roßplatz heißt.

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