Der Buchverlag für die Frau hat ein neues Imprint gegründet: Edition Lebenslinien. Eine Idee, die so nahe liegt, dass man erst einmal drauf kommen muss. Denn über die demografischen Veränderungen in der Gesellschaft reden ja fast alle. Die Gesellschaft wird immer älter. Die Lebenserwartung ist hoch. Senioren bestimmen immer stärker das öffentliche Bild und - die Politik. Die Frage ist nur: Nehmen sie überhaupt noch an den gesellschaftlichen Diskussionen teil?

Dass sie Wahlen beeinflussen, können die Wahlbeobachter jedes Mal sehen, egal, was gewählt wird – ob die Bundeskanzlerin, die die Rente mit 67 toll findet, oder die Landesregierung, die alles dafür tut, das junge Menschen den ländlichen Raum schnellstmöglich verlassen. Sie machen ihr Kreuzchen bei den Es-war-schon-immer-so-Parteien, vielleicht in der Hoffnung, die gewohnten Rezepte helfen vielleicht noch ein bisschen, damit sich nicht alles zum Schlechteren verändert.

Tut’s dann aber doch. Denn was sich mit der ganzen Gesellschaft nicht verändert, erstarrt.

Eine menschliche Gesellschaft ist wie der Mensch auch. Nur heißen die Dinge, die der alternde Mensch als Demenz, Osteoporose, Kurzsichtigkeit, Inkontinenz, Kreislaufschwäche usw. erlebt, da anders. Es wird manchmal einfach zugebügelt von breitbrüstigen Politikern, die glauben, mit Geld könne man solche Probleme schon lösen. Kann man nicht.

Erst recht nicht, wenn man die betroffenen Menschen nicht mehr aktivieren kann, weil sie den Mut verloren haben, die Hoffnung, die Zuversicht, dass sie noch Dinge verändern können. Auch das kennen ältere Menschen. Viele Pfleger können ein Lied davon singen, wie schnell aus quicklebendigen Persönlichkeiten in Altersheimen (die heute nicht mehr so heißen) Gestalten werden, die immer mehr verstummen, die Kontakte zu ihrer Umwelt verringern und schließlich ganz in sich zu versinken scheinen. Wartend nur noch auf das Ende.

Bei den auf diesem Feld Aktiven hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass für ein menschlich gelebtes Alter Selbstbestimmung, Aktivität und immer neue Ziele notwendig sind. Manche Ältere wissen das – und sind einfach nicht zu bremsen, auch von ihrem Arzt nicht. Andere stehen ratlos da und stürzen in tiefe Verzweiflung, wenn sie all jene Dinge verlieren, die eben noch den Sinn ihres Lebens ausmachten – die Arbeit zum Beispiel, die gerade Männern einen derart starken Lebenssinn gibt, dass sie schon kurz nach Eintritt in den Ruhestand sterben, die Männer den Frauen – egal wie kompliziert die Partnerschaft war, oft sterben die Frauen ihren lebenslänglichen Quälgeistern gleich hinterher …Was fängt man an mit der Zeit, die einem da die heutige Medizin geschenkt hat? 20, 25 Jahre und manchmal noch mehr?

Und das in einer Gesellschaft, die noch immer ihren Jugendwahn (mit Magersucht) an die Plakatsäulen klebt?

Für das erste Bändchen der neuen Edition hat der Buchverlag zwei Autorinnen gewonnen, die in einfühlsamen Texten über ihre eigenen Erfahrungen mit dem Ältergewordensein schreiben. Die bekannte Schriftstellerin Roswitha Geppert, die mit “Die Last, die du nicht trägst” einen der großen DDR-Bestseller geschrieben hat und die nun auch schon auf die 70 zueilt. Natürlich verwundert darüber, wie die Zeit vergeht. Aber wer sich darüber nicht mehr wundert, der ist wohl wirklich schon tot.

Heinke Thies, 1918 in Berlin geboren, ist nun noch eine Generation älter und hat ein bewegtes Leben in Deutschland, Frankreich, Kamerun hinter sich.

Beide erzählen darüber, wie sie sich mit den unliebsamen Veränderungen auseinander setzen mussten, die der Körper im Lauf der Zeit erfährt. Denn der Kopf möchte wohl immer jung bleiben und mit einem jungen Gesicht und jungen Gliedern durch die Welt laufen. Doch dafür sind menschliche Körper nicht gebaut. Oder besser: Nur in Maßen. Bei Manchem beginnen die körperlichen Verfallserscheinungen schon früh, weil er oder sie Schindluder treibt mit dem, was ihm oder ihr da geschenkt wurde. Heinke Thies erwähnt es beiläufig: Wenn man mal von Dauerraucher Helmut Schmidt absieht, ist man im hohen Alter ziemlich bald unter lauter Nichtrauchern, weil die meisten Raucher schon früher wegsterben. Genauso übrigens wie die Alkoholiker und andere Süchtige, wie Übergewichtige oder all jene, die sich prinzipiell nicht mehr bewegen. Und das im doppelten Sinn: All das, was der Mensch nicht regelmäßig nutzt, trainiert und von sich selbst fordert, verkümmert. Muskelgewebe genauso wie die graue Masse unter dem grauen Haarschopf.

Immer ein bisschen mehr fordern von sich, das ist eine der Botschaften, die beide Frauen gleichermaßen betonen. Immer neue Ziele setzen, keinen Tag ohne Herausforderung vorübergehen lassen. Und auch nie nachlassen, sich die Reichtümer der Welt zu eigen zu machen. Und dabei geht es nicht um Geld. Sondern um die wirklichen Reichtümer, die man natürlich im hohen Alter erst so richtig zu schätzen weiß: Freundschaften, Liebe, Vertrauen, Verständnis, gesellschaftliche Teilhabe. Hilfe, so betont Monika Geppert, wird überall gebraucht. Und wer sich helfend einbringen kann – in Vereinen, bei Kindern, bei Alten – der findet auch neue Freundschaft, Menschen, die ihn und sie wieder bereichern.

Immer wieder geistern Geschichten von Senioren durch die Medien, die sich noch einmal auf die Hochschulbank setzen. Warum auch nicht? Hört das Lernen und das Lernenkönnen irgendwann auf? – Klar. Bei manchen hört es schon mit 18 auf. Aber wirklich erlauben kann sich heute niemand mehr, so verächtlich auf alles Neue und alle Veränderungen zu schauen. Denn eigentlich ist man dann sehr schnell draußen. Und begreift die Welt nicht mehr. Frustriert seine Mitmenschen nur noch mit abgrundtiefer Dummheit, die alles blockiert.

Und das betrifft nicht nur die armen Schweine auf den Plastestühlen im Jobcenter-Warteraum. Das betrifft – da kann sich ja jeder umschauen in der Welt – auch viele Mitmenschen, die in straffem Anzug herumlaufen und mit Verachtung auf alles schauen, was sie nicht begreifen. Auch alte, aber eben noch viel mehr junge.

Denn viele Ältere tauchen auf der gesellschaftlichen Bühne nicht mehr auf, laufen ihre immer engeren Kreise um Schmerzen, Leiden und Einsamkeit, zwischen Wohnung, Arzt und Supermarkt. Natürlich kommt das alles: Dinge dauern länger, die Konzentration lässt nach, man braucht ein Merk-Buch, um sich zu erinnern, wo all die Dinge sind, die man immer wieder braucht, Wege dauern länger und auf einmal braucht man einen Stock, damit man nicht taumelt, die Augen und Ohren lassen nach.Aber man hat viel mehr in der Hand als einem die Werbeverkäufer für schicke Seniorenartikel einreden wollen. Das betonen beide Frauen. Einen Fallschirmsprung hat der Arzt der 90jährigen Heinke Thies nicht verboten, weil er ihn ihr nicht mehr zugetraut hätte – nur ihre Osteoporose war zu weit fortgeschritten. Aber trauen muss man sich, sagt die Frau, die dann das Erlebnis Fliegen eben als Mitfliegerin in einem Gleitflieger erlebte.

Es ist – und auch da sind sich beide einig – eben nicht so, dass das Alter nichts mehr zu bieten hätte. Denen, die sich einigeln, natürlich nicht. Raus, sagt Roswitha Geppert. Fernsehen und Tageszeitung sind nicht wirklich die Mittel, um aus einem depressiven Tief herauszukommen. Ein ausgedehnter Spaziergang mit dem Hund dagegen schon. Ein Treffen zum Kaffeeklatsch mit der Freundin ebenso. Ein Besuch im Konzert, im Theater, in einer Ausstellung auch. Das können auch die jungen wilden Ausstellungen sein – es geht ja nicht darum, seine Meinung aus Kaisers Zeiten bestätigt zu finden, sondern dem Kopf wieder Futter zu geben, sich selbst der Diskussion zu stellen. Wer keinen Streit mehr wagt, der ist schon tot.

Die wichtigste Botschaft: “Zeit ist ein Geschenk”. Nicht nur im Alter. Man darf das ruhig auch jüngeren Menschen immer wieder sagen, die auf ein großes Wunder warten und ihr eigenes Leben mit Warten und Getriebensein vertun. Zeit kann man verschenken, da hat man sogar selber was davon, man kann sie leben und erleben. Die meisten sterben leider mit dem Spruch auf den Lippen: “Ach hätte ich doch …”

Tu’s einfach, lautet die Botschaft. Tu’s jetzt. Egal, wie alt du bist.

Beide Beiträge sind mit recht romantischen Fotos und vielen treffenden Sprüchen berühmter Leute garniert.

Ratgeber zu Lebenshilfe und Gesundheit sollen in der Reihe noch folgen, weitere Bücher mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten und Biografien prominenter und nicht prominenter Menschen. Wenn auch kluge Männer gefunden werden, die hier mitmachen, kann die Reihe sogar spannend werden und etwas anderes als übliche Ratgeberreihen für alte Leute. Denn wirklich hilfreich ist uns das Altwerden nur, wenn unsere Alten (und irgendwann auch wir) sich nicht einfach verabschieden und im Abseits darauf warten, dass ihnen Pflege gedeiht. Sinn macht all der Affentanz um “Rente mit 67” und was immer damit zusammenhängt nur, wenn ältere Jahrgänge sich genauso in der Verantwortung sehen, gesellschaftliche Veränderungen zu gestalten wie die jungen, wenn sie das “lebenslange Lernen” nicht als auferlegte Pflicht begreifen (wie ein paar zuchtmeisterliche Politiker), sondern als Bereicherung und Freude, wenn sie die Problemlösungen der Jüngeren ernst nehmen und ernsthaft diskutieren und nicht dazwischenpoltern mit Diskussionskillern aus der Vergangenheit.

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Zeit ist ein Geschenk
Roswitha Geppert; Heinke Thies, Buchverlag für die Frau 2012, 9,90 Euro

Es ist tatsächlich so: Eine ganze Gesellschaft muss lernen, dass das 65. Lebensjahr keine Zäsur mehr ist, dass man die Jahre danach nicht als Müllhalde für falsche Erwartungen benutzen darf. Wir müssen wohl alle lernen, dass diese späten Jahre ein Geschenk sind, das wir zu nutzen lernen müssen. Was mit Akzeptanz zu tun hat – auch der eigenen.

Da kommt was auf uns zu. Und wenn es dem Buchverlag für die Frau gelingt, für die Reihe auch kritische und schräge Autorinnen und Autoren zu gewinnen, könnte das ein spannendes Unternehmen werden.

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