Briefromane sind selten geworden. Sie waren mal richtig Mode. Der berühmteste hat das 18. Jahrhundert in helle Aufregung versetzt: Goethes "Leiden des jungen Werther". Mittlerweile sind die Nachrufe auf den geschriebenen Brief ja Legion. Man schreibt keine Briefe mehr. Man mailt und simst und twittert. Liebe im 140-Zeichen-Modus. Oder man ruft an. Aber so ein echter Briefroman ist das, was Ines Groß hier vorlegt, auch nicht.

Denn der braucht Absender und Adressaten. Man muss ja wenigstens wissen, wer sich hier mit wem austauscht. Und in welchen Zeiträumen, vielleicht gar Distanzen. Das verrät die Autorin nicht. Nur vage zeichnet sich ab, dass der Hauptteil der Handlung in einer großen Stadt passiert, wahrscheinlich in Berlin. Aber schon mit der zeitlichen Einordnung wird es schwierig. Nicht nur mit dem Umschlagfoto, das aus einem Fotoalbum irgendwie aus den 1930er, 1950er Jahren zu stammen scheint. Die ersten Briefe sind wie Mitteilungen unter Kollegen und Kolleginnen. Die Atmosphäre wie in den 1950er Jahren. Sehr steif, sehr alkoholgeschwängert, sehr schlecht beleuchtet. Fast stellt man sich die Damen und Herren, die hier so nachdenklich umeinander herumturteln und mit ihrer Arbeit und ihrem Leben nicht so wirklich glücklich sind, im Bürodress dieser unkolorierten Zeit vor.

Auch die Sprache tut ein übriges: distanziert, sehr analytisch. Aber eben auch im Geist einer Zeit, die von der flippigen Emanzipation späterer Jahre noch eine Generation weit entfernt scheint. Das alte Verhältnis von “Mann ist Chef und Frau ist fleißige Biene” ist noch intakt. “Ich war anfangs gar nicht zufrieden mit ihr. An ihrer Arbeit war viel auszusetzen, aus irgendwelchen Gründen wollte ich, dass sie besonders gut war.” Nicht nur im Arbeitsalltag turnt “Er” um “Sie” herum, auch die Betriebsfeier wird zu einem Werbetanz um das begehrenswerte Frauenzimmer. Da gockeln dann gleich zwei Hähne um die Hübsche herum. Spielen mit der Wahrnehmung der restlichen Belegschaft – und tun so, als merke das keiner.Bald stellt sich heraus, dass da zwei ganz zielgerichtet turteln – sie, weil sie den Burschen tatsächlich für einen anregenden Partner hält, er, weil er in seiner Ehe keine Erfüllung mehr findet. Der ganze Babel, den das mittlere 20. Jahrhundert an Hüllen und Trikotagen aufgehäuft hat um Worte wie Affäre, Seitensprung, Begehren, Liebesminuten. Die beiden basteln fleißig an ihrem Techtelmechtel, verlustieren sich im Auto unter allerlei Verrenkungen, später legt er sich eine Arbeitswohnung zu, wo sich beide treffen können.

Ein zweiter Briefwechsel schneidet sich mit diesem, denn “Sie” tauscht sich über all das, was zu dieser kollegialen Beziehungen zu sagen ist, mit ihrer Freundin aus. Dann bleiben die Zuweisungen ganz und gar weg und die Texte ähneln eher akribischen Tagebuchaufzeichnungen, in denen eifrig analysiert wird, wo man mit dem Techtelmechtel gerade steht, was die Kollegen denken mögen, über die man nichts wirklich erfährt. Dass das Ganze irgendwie in einer Kreativbude stattfinden soll, verwirrt umso mehr. Aber vielleicht geht es dort auch heute noch genauso steifrückig zu. Kann ja sein. Es gibt wirklich Firmen, in denen man nicht wirklich arbeiten möchte.

Da bleibt natürlich auch Platz für das übliche Missverstehen der Geschlechter, das nun seit 1968 die Gazetten bewegt. “Aber was hat das geputzte Klo mit dem Sex in eurer Beziehung zu tun? – Dass er es selbst merkt, zische ich, dass etwas fehlt.” Eine Diskussion, die sich nun seit geschundenen 45 Jahren im Kreis dreht, rauf und runter. Wie “modern” sind die Beziehungsgeflechte, die Ines Groß hier aufmalt? – Es steht zu befürchten, dass sie noch immer modern sind. Und in einigen “an Stabilität interessierten” Kreisen noch immer genau so gepflegt werden, mit diesem ganzen Unzufriedensein, Erwarten, Ansprüchestellen, Taktieren und Täuschen.

Eine Welt, die geradezu zwingend solche Romane wie “Lady Chatterley’s Lover” hervorbringt. Oder eben diese ganzen Urgebirge von “Büchern über die Verbesserung des Sexuallebens”. Diese Trennung zwischen Liebe und Sex, Ehe und Affäre, Begehren und Vertrauen, Begehren und Obsession. Dieses Wichtignehmen, das selbst die Nähe mit Ansprüchen überfrachtet. Bis hin zu diesen ganzen von Stress getriebenen Superweiber-Romanen. Als wäre ein ganzes Geschlecht jetzt auf einmal zur Selbsterkenntnis erwacht und müsse die gewonnene Klarheit nur auch noch in allen Beziehungen erzwingen.

Dabei hat sich – trotz aller Femen und Feministinnen – nichts geändert, gar nichts. Die von Sex und “perfektem Liebesleben” geradezu besessene Gesellschaft ist noch immer genauso verklemmt wie zu Hans Mosers Zeiten. Die Frage ist nur: Woher kommt das? Warum steht augenscheinlich eine ganze Gesellschaft derart unter Erfüllungsdruck? – “Ich möchte nicht mehr so viel darüber nachdenken, sage ich zu I. Es geht mir auf die Nerven, dass ich morgens aufwache und als erstes mein Liebesleben vor mir steht, als große Frage, als Hoffnung und Frustration.”
Das ist also gar nicht neu, sondern steckt auch schon in der schönen heilen Welt des Wirtschaftswunderlandes – die Perfektion des Liebeslebens. Selbst da greift der Wahnsinn. Kein Wunder, dass alle frustriert sind. Nicht nur die Frauen. Aber sie schreiben am häufigsten darüber – und suchen die Schuld mal bei sich, mal bei ihren “Lovern”. Am Ende scheint sich ein Hauch von Erfüllung zu finden, fährt die Heldin kurzerhand in die stille Welt des Oderbruchs und lernt dort einen Mann kennen, der das Leben gelassen annimmt. Er hat sich einen Ort gesucht, an dem er leben will – weit weg von der steifen Stadtgesellschaft, in einem Haus mitten im Grünen, der auch empfänglich ist für das Schweigen und das Näheverlangen der anderen. Da fühlt sie sich gemeint, fährt auch wieder hin, weil sie hofft, jetzt sagt er ja zu ihr, nimmt sie, wie sie ist.

Sie weiß sehr wohl, was da vorgeht mit ihr: “Zuwider ist mir plötzlich dieses Ausbeuten des Augenblicks, dieses Psychologisieren, Sozialisieren all dessen, was das Natürliche der Liebe wäre. Ein, zwei Tage im Freien und ich werde mir bewusst, wie bewusst ich mir bin, wie kontrolliert ich mich über die Kontrolle beschwere, der ich unterliege.”

Sie erlebt ihre Oliver-Mellors-Geschichte. Aber dieser Oliver Mellors ist nicht nur der Wildhüter. Er wohnt freiwillig da und möchte da auch leben bleiben. Wenn eine Frau ihn will, dann soll sie auch sein Leben wollen. “Mehr als ehrlich sein kann man nicht, sagt er dann. – Damit wäre dann ja wohl alles vergeigt, denkt sie. Ausmusiziert! Warum ist er so gnadenlos? So uncharmant? Er lässt sie jetzt glatt verrecken mit ihrem Angebot!”

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Verführung
Ines Groß, Leipziger Literaturverlag 2013, 19,95 Euro

Und am Ende steckt eine leise, aber schöne Kritik drin an der völlig überhitzten Anspruchs-Debatte, die manche Frauen schon als Emanzipation verstehen. Auch die Heldin dieses Buches, die doch tatsächlich im letzten emotionalen Gespräch behauptet: “Die Frauen haben sich schon emanzipiert. Es ist nicht mehr zu ändern. – Sie breitet die Arme aus. Ich kann nichts dafür! ruft sie. – Ich auch nicht, sagt er. Für mich heißt es warten. – Für mich nicht, sagt sie hitzig. – Ihr habt die Rebellion auf eurer Seite. Ich kann dich nicht ändern.”

Dieser Satz geht noch weiter. Aber eigentlich ist hier schon alles gesagt. Sie glaubt, dass sie emanzipiert ist. Und denkt doch “ständig an die Männer”. Die Obsession findet nicht statt. Diesmal will Oliver Mellors nicht. Er will eine Frau, die seinen Traum vom Leben auf dem Land von Herzen teilt. Und so ein bisschen schwingt mit, dass er der ach so emanzipierten Heldin das nicht zutraut und dass er eines auf keinen Fall will: hinterher mit einer Frau zu schweigen, die seinen Traum nicht teilt.

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