Man kann das 20. Jahrhundert in die üblichen Links-Rechts-Schablonen packen - und begreift nichts. Auch wer mit Kategorien wie "Ende der Geschichte" oder gar "Ende des Ost-West-Konflikts" hantiert, übertüncht nur die Entwicklungen, wie sie wirklich stattfanden. Davon kann keine Generation besser erzählen als jene, die diesen Umbruch 1945 in Osteuropa miterlebt hat. Dazu sind im Leipziger Universitätsverlag schon einige Bücher erschienen.

Sie beleuchten allesamt ein Stück Zeitgeschichte, das in der DDR bis 1989 tabu war: die Etablierung des Stalinismus in der sowjetischen Besatzungszone. Und eigentlich dessen Nachwirkungen weit über die prägnanten Jahre 1953, 1956 oder 1961 hinaus. Das Verblüffende dabei: Auch in Westdeutschland war dieses Kapitel der ostdeutschen Geschichte lange Jahre nicht präsent. Man feierte zwar den 17. Juni – sozusagen ersatzweise für die “Brüder und Schwestern” im Osten, die 1953 auf die Straße gegangen sind. Aber wirklich ernsthaft mit dem ab 1945 im Osten etablierten stalinistischen Justizsystem und all seinen Folgen hat man sich nur in kleinen engagierten Gruppen beschäftigt.

Man wusste zwar von Bautzen und dem “Roten Ochsen” in Halle, auch von den diversen Schauprozessen, mit denen gerade junge Menschen, die wesentliche Grundrechte einforderten, gemaßregelt wurden. Man versuchte auch zu erklären, warum die Ulbrichtsche Regierung mit gestandenen Funktionären aus den eigenen Reihen ähnlich drakonisch verfuhr, wie es Stalin mit seinen “Kadern” gemacht hatte. Aber irgendwie hinderte die mediale Abscheu, gepaart mit einer unterschwelligen Faszination, auch immer daran, hinter dem Gesehenen das installierte Herrschaftsprinzip zu sehen.Hunderte junge Menschen, wohl eher Tausende, erlebten es in den Jahren der Sowjetischen Besatzungszone SBZ und auch noch in der frühen DDR-Zeit am eigenen Leibe. Sie landeten nicht nur für acht oder zehn Jahre in den Zuchthäusern der DDR, sondern lernten auch die mörderischen Arbeitslager des sowjetischen GULag kennen. Sie kannten die Welt, die Alexander Solschenyzin 1973 in seinem berühmten Buch beschrieb. Kleinste Aufmüpfigkeiten, simpelste Proteste gegen die neuen Machtstrukturen und die neue Deformation des gesellschaftlichen Lebens brachten sie vor sowjetische Militärgerichte. Und oft genug lautete das Strafmaß 25 Jahre Arbeitslager, verkündet von einem nicht öffentlichen Gericht.

Hunderte dieser mutigen, oft geradezu selbstlosen und ehrlichen jungen Menschen wurden in die Arbeitslager im hohen Norden Russlands verschickt, in eine Landschaft mit neun Monaten Winter und Temperaturen oft weit unter 30, 40 Grad minus. In Workuta bauten sie unter der Erde wertvolle Kohle ab, die nicht nur die russischen Großstädte mit Wärme versorgte, sondern auch auf dem Weltmarkt verkauft wurde. Schon die Errichtung der Lager in der eisigen Tundra hatte einst tausende Leben gekostet. Die Strafarbeiter kamen nicht nur aus den vielen Republiken der Sowjetunion, nach 1945 kamen sie auch aus allen von der Sowjetarmee besetzten Gebieten. Eben auch aus der DDR.

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Und auch nach dem Juni 1953 kamen sie und brachten womöglich auch die Nachricht vom Aufruhr in der DDR mit. Der gar nicht mal der Auslöser war für das, was dann im Juli und August im Lager 10 geschah. Denn im ganzen stalinschen Imperium rumorte es, denn am 5, März war Stalin gestorben – und sein Tod erschütterte das ganze gewaltige Reich. Die Völker schöpften Hoffnung, wünschten sich Reformen und mahnten sie auch ein, als sie merkten, dass die Regierungen in allen betroffenen Ländern einfach so weitermachten wie bisher. Denn Stalin war zwar tot – der Stalinismus aber hatte sich überall als Regierungsprinzip etabliert.

Auch die Strafgefangenen in Workuta schöpften Hoffnung und nahmen die Botschaft natürlich gern an, dass jetzt alle Fälle neu überprüft würden und mit der Aufhebung der Unrechtsurteile zu rechnen sei. Die Hoffnung wurde erneut befeuert, als Stalins mächtiger Geheimdienstchef Lawrenti Berija im Juli verhaftet und als Spion angeklagt wurde. Wenn dieser Mann schon ein falscher Fuffziger war, dann waren doch auch alle Urteile in seinem Machtbereich nichtig, oder? – Im Juli kam es in mehreren Lagern in Workuta zu dem, was die Durchsetzung der Lager mit Spitzeln eigentlich verhindern sollte: geschlossenen Streiks.

Übrigens nicht die ersten im sowjetischen GULag. Selbst die 1930-er und 1940-er Jahre kannten schon diese verzweifelten Rebellionen der zu Unrecht Verurteilten. Damals wurden dann komplette Lager zusammengeschossen. Etwas, was die Insassen des Lagers 10 hofften, dass es im Juli 1953 nicht mehr passieren könne. Sie waren gut organisiert. Einige Beiträge in diesem Sammelband stammen von Beteiligten aus Russland und der Ukraine – es war ein internationales Lager. Und die Häftlinge protestierten friedlich, verlangten eine legitimierte Delegation aus Moskau, die ihre Forderungen aufnehmen würde.Doch die Delegation, die dann vor dem Tor stand, hatte wohl schlicht die alte, übliche Aufgabe: “Die Sache zu beenden”. Als dann gar ein verdienstvoller ehemaliger Offizier der Sowjetarmee den wortführenden General der feigen Flucht aus einem von deutschen Truppen umzingelten Kessel vorwarf, schien die Sache endgültig kulminiert zu sein. Am 1. August, einem warmen, klaren Sommertag, sprachen nicht mehr die Worte, sondern die Waffen der Soldaten. 64 der Streikenden wurden sofort erschossen, über 100 wurden schwer verwundet.

Auch einige der Autoren dieses Buches gehören zu den damals Verwundeten und können auch erzählen, unter welch primitiven Bedingungen die mit ihnen inhaftierten Ärzte Leben retteten. Für Gerald Wiemers und seine Co-Autoren gehört dieser 1. August in Workuta in die Reihe der vielen vergeblichen Aufstände gegen den Stalinismus, angefangen mit dem niedergeschlagenen Aufstand in Kronberg 1921 bis zur Solidarnosc in Polen 1981. Am Ende scheint die Geschichte den Aufständischen Recht zu geben. Wenn man den Stalinismus als ein abgeschlossene Kapitel betrachten will und das Jahr 1989 als einen endgültigen Sieg.

Aber die Geschichte der Diktaturen, die die neuere Menschheitsgeschichte spätestens seit Napoleon begleitet, sieht so endgültig beendet leider nicht aus. Die Werte, für die die in diesem Buch zu Wort Kommenden drangsaliert und verurteilt wurden, sind immer wieder in Gefahr. Von der Meinungsfreiheit über die demokratischen Grundrechte bis hin zum “Whistleblowing”. Das gab es auch in den 1950-er Jahren. Natürlich. Ein junger Sachse hatte dem RIAS erzählt, was da mit der Kasernierten Volkspolizei in der DDR eigentlich bezweckt war – das kleine Land baute sich gerade eine Armee auf. Das MfS half dann den sowjetischen Brüdern dabei, den jungen Mann nach Workuta zu schaffen.

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Der Aufstand
Gerald Wiemers, Leipziger Uni-Vlg 2013, 24,00 Euro

Nach Chrustschows großer Rede von 1956 scheint es zumindest mit der harten stalinistischen Gangart im Osten vorbei gewesen zu sein. Aber auch das klingt in einigen der Beiträge an: Wirklich “entstalinisieren” konnte Chrustschow das Land nicht. Die alten Hardliner bekamen sehr bald wieder Oberwasser. Die vorsichtige Entlassung der Strafgefangenen aus dem GULag scheint man freilich gleich nach Stalins Tod in die Wege geleitet zu haben. Nur neue Wellen sollte das wohl nicht schlagen, so dass einige der Akteure erst 1955, nach Adenauers Moskau-Fahrt, den Weg in die Freiheit antreten konnten.

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