Gerade hat die Versöhnungskirchgemeinde in Gohlis den 100. Jahrestag ihres Bestehens gefeiert. Ihre Kirche selbst ist 80 Jahre alt. Und sie verbindet sich nicht nur mit dem Namen des Architekten, der sie im Stil der neuen Sachlichkeit entwarf, Hans Heinrich Grotjahn. Sie verbindet sich auch mit dem Namen eines fast vergessenen Künstlers: Odo Tattenpach.

Er hat die Bildfenster für die Kirche geschaffen. Und er starb vor nun fast genau 60 Jahren – gerade als er im Westen des nun geteilten Landes wieder Fuß zu fassen begann. Mit 48 Jahren. Die Versöhnungskirche ist im Osten Deutschlands das prägnanteste Bauwerk, in dem seine Arbeit noch zu sehen ist. Eine Ausstellung in der Kirche erzählt dem Besucher die Lebens- und Wirkungsgeschichte des 1905 als Hans Wilhelm Schulz Geborenen, der sich nur kurzzeitig zu Beginn der 1930er Jahren mutig Odo Tattenbach nannte, 1933 das entstehende NS-Reich verließ, weil er sich mit der neuen Kulturpolitik nicht arrangieren konnte, später aber zurückkam, weil er in seinem Wahlland Frankreich keine Arbeitserlaubnis bekam.
Der Kunstwissenschaftler Rainer Behrens, langjährig tätig als Kustos der Universität Leipzig, hat in diesem reich mit Bildtafeln bestückten Buch zusammengetragen, was zum Leben und Arbeiten Tattenpachs noch zu finden war. Der Krieg hat das Leben des Künstlers nicht nur zweigeteilt. Auch sein Berliner Atelier und zahlreiche seiner Berliner Arbeiten wurden in den Bombennächten und während der Kämpfe in Berlin zerstört. Es ist also der Versuch, ein eher unbekanntes Künstlerleben zu rekonstruieren. Das natürlich auch ein Besonderes war. Denn Grotjahn hat Tattenpach ja nicht ohne Grund in “sein” Projekt hineingeholt. Den Wettbewerb um die Fenstergestaltung hatte ja nicht Tattenpach gewonnen. Aber für den Architekten war der Mann, der zu den Erneuerern der alten Kunst der Glasmalerei gehörte, auch einer, der in seine Architektursprache passte. Die war modern, von schnörkelloser Ästhetik, aber auch der Zeit und der zeitgenössischen Kunst nah.

Auch wenn der Name in diesem Band nicht fällt, er drängt sich geradezu auf: Tattenpachs Bildersprache ist der eines Max Beckmann erstaunlich nah. Auch er wählt wuchtige, kantige Gestalten, die er in kaum angedeutete Landschaften setzt. Es sind keine stilisierten Elfen oder Engel, die er auftreten lässt, sondern eher wuchtige, fast proletarische Typen. Man sieht sofort, dass Tattenpach mit dem Expressionismus zum Künstler reifte. Auch die Holzschnitte eines Hans Masereel könnte man neben Tattenpachs “Der Gläubige in der Großstadt” halten – es ist dieselbe Bildersprache. Und es ist die Bildersprache der Zeit, die eine rastlose und zerrissene Zeit war. Das merkten nicht nur die Künstler, die sich gleich reihenweise zur KPD hingezogen fühlten.

Das spürten auch Künstler wie Tattenpach, der sich selbst als zutiefst gläubig empfand und seine Bildwelten aus dieser Glaubenswelt schuf. “Abendmahl” und “Pfingsten” sind in der Versöhnungskirche zu sehen, aber auch wer den Bilderkanon aus anderen Kirchen kennt, muss das Bild erst mit den ihm bekannten Ikonen in Einklang bringen. Dies hier sind keine gut gekleideten Herrschaften, die in die Rolle der Jünger geschlüpft sind. Es sind Menschen mit derben Gesichtern und Händen und Körpern. Menschen, denen man ihre Mühsal und Plackerei ansieht. Und die in krisengeplagten Zeiten durchaus ihre Fragen haben an Gott, Kirche und Gemeinschaft. Es spricht aus jedem einzelnen Gesicht.Es ist eine Bilderwelt, die auch die Leipziger Nazis sofort diffamierten, als die Fenster zu sehen waren. Sie packten auch einen wie Tattenpach in ihre Schublade “Entartete Kunst”. Es blieb nicht die einzige Kampagne, die sie gegen den Künstler anzettelten. Dass er in der Nazi-Zeit überhaupt noch künstlerisch für die Berliner U-Bahn tätig sein durfte, hatte er der Protektion des dortigen Direktors zu verdanken. In der Kriegszeit verschlug es Tattenbach alias Schulz nach Griechenland, nach dem Krieg ging er nach Braunschweig und begann, sich wieder ein eigenes Atelier aufzubauen. Seine kleineren Arbeiten, die in diesem Band ebenfalls zu finden sind, erzählen von einem Künstler, der auch die Formensprache eines Franz Marc beherrschte und Tierbilder schuf, die an die großen Höhlenmalereien der Vergangenheit erinnern.

Ein wenig von dieser Ästhetik ist in dem Kalksteinrelief “Aufsteigender Phönix” für den Eingangsbereich des Bundeshauses in Bonn zu sehen, seiner wichtigsten Arbeit nach 1950. Aber auch die Berliner Zeit versucht Behrens zu rekonstruieren. Teilweise kann er auf Zeitungen und (Kunst-)Zeitschriften der Zeit zurückgreifen. Etliche Arbeiten Tattenpachs sorgten durchaus deutschlandweit für Aufmerksamkeit.

Was freilich im Hintergrund bleibt, ist die Persönlichkeit des früh verstorbenen Künstlers – sein Leben, sein Denken, sein Freundeskreis. Dergleichen findet man in Kunstabhandlungen und kritischen Artikeln nicht.

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Odo Tattenbach
Rainer Behrends, Pro Leipzig 2013, 19,95 Euro

Trotzdem ist die Arbeit von Rainer Behrens die erste umfassende Monografie, die das Schaffen Tattenpachs zeigt. Und gerade weil es so rudimentär überliefert ist, macht es natürlich neugierig und wirft Fragen auf. Waren es wirklich nur seine Lehrmeister aus Düsseldorf, die ihn prägten? Waren es wirklich nur die Kreise katholischer Künstler, in denen er sich bewegte? Die Nähe zum Bauhaus und der neuen Architekturästhetik ist ja unübersehbar. Wie expressiv Tattenpachs Formensprache werden konnte, ist noch heute in der katholischen Kirche St. Bonifatius in Bad Dürrenberg zu sehen, wo er Christus am (vornüberstürzenden) Kreuz mit der klagenden Maria in leuchtenden Blautönen gestaltete.

Es ist ein moderner und auch experimentierfreudiger Künstler, den Rainer Behrens hier wiederentdecken lässt in einem auch mit Originalaufnahmen aus der Entstehungszeit reich bestückten Buch.

Wer die Odo-Tattenpach-Ausstellung in der Versöhnungskirche besuchen möchte: Sie ist dort noch bis zum 31. Oktober 2013 zu sehen.

www.proleipzig.eu

www.versoehnungs-gemeinde.de

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