Den 19. Oktober kann man sich vormerken: Da liest Rudolf Scholz im Haus des Buches. Aus einem Buch, das im Leipziger Literaturrummel ein bisschen unterging. 2002 ist es erschienen. Und durch den Tod von Erich Loest hat es eine neue Aktualität gewonnen. Denn Erich Loest war es, der den Helden dieses Buches in seinem Roman "Völkerschlachtdenkmal" 1984 als "unser letzter Held" bezeichnet hatte und später die Leipziger Ehrenbürgerschaft für ihn forderte.

Bis dann herauskam, dass Hans-Georg Rausch, der am 23. Mai 1969 als einziger Leipziger Stadtverordneter den Mumm hatte, gegen die geplante Sprengung der Paulinerkirche zu stimmen, jahrzehntelang als IM für die Stasi gearbeitet hatte. Eine der vielen Enttäuschungen im Leben Erich Loests. Da gab es nun diesen forschen Pfarrer aus Probstheida, der als einziger “Nein!” zur Sprengung sagte, als der komplette Rest der Stadtverordnetenversammlung aus Gehorsam, aus Angst oder auf Parteilinie für die Sprengung stimmte. War das vielleicht gar ein demokratisches Mäntelchen für diese Abstimmung, abgestimmt mit der Stasi, fragte dann so Mancher?

Es wurde in den 1990er Jahren viel gemutmaßt darüber. Aber Rudolf Scholz tat dann das, was man eigentlich in solchen Fällen immer tun sollte: Er widmete sich den Quellen in den Archiven, versuchte Zeitzeugen zu finden und vor allem versuchte er, den Mann zu begreifen, der da am 23. Mai 1968 sogar ans Rednerpult ging, um seine Haltung zu begründen. Doch das Protokoll dieses denkwürdigen Tages ist verschwunden. Und auch die LVZ, die einen Großteil der feierlichen Zustimmungsreden in Teilen oder gar vollständig abdruckte, erwähnte weder die Stimmabgabe noch die Rede von Rausch mit einem Wort. Nur indirekt kommt sie vor – in der Rede des damaligen Leipziger Parteichefs Paul Fröhlich, der die treibende Kraft war hinter dem neuen Uni-Bau und der Eliminierung der alten Universitätskirche.

Aber wer war dieser Rausch? – Nur einfach so ein Pfarrer und CDU-Mitglied? Scholz staunte selbst, was da zum Vorschein kam. Denn was die Probstheidaer mit ihrem Pfarrer Rausch erlebten, ist eine eigene Geschichte. Sie füllt auch den größten Teil des Buches. Und sie macht ein wenig verständlicher, wer Rausch war – und warum er immer wieder so zwiespältig handelte. Scholz zeichnet die Familiengeschichte nach, die von starken, aber auch eigensinnigen streng lutherischen Pfarrergestalten geprägt war. Er zeichnet die frühe Entwicklung des begabten Theologen nach. Er kniet sich in die Entwicklungsgeschichte der evangelischen Kirche nach 1945, als es darum ging, die tiefen Verwerfungen aus der Nazi-Zeit zu reparieren, als sich auch in Sachsen etliche Pfarrer (manche auch ganz und gar in Uniform) den Deutschen Christen angeschlossen hatten. Noch viel mehr freilich lebten in der NS-Zeit durchaus lutherische Standhaftigkeit und schlossen sich der bekennenden Kirche an. Und noch viel mehr blieben lieber lau und angepasste Mitte.Aber die neuen Strukturen, die zwar eine stärkere Rolle der Gemeinden vorsahen, gleichzeitig aber auch eine starke Amtskirche schufen, stießen nicht bei allen Pfarrern auf Gegenliebe. Eigensinnige Geister kamen damit in Konflikt. Zu ihnen gehörte auch Rausch, der als junger Pfarrer in Probstheida durchaus beliebt war, aber nicht bereit, zu Kreuze zu kriechen. Nicht vor seinen Leipziger Vorgesetzten und auch nicht vor dem Bischof der Landeskirche. Und da in den kirchlichen Archiven dazu das Material erhalten ist, konnte Scholz diese Geschichte sehr detailreich – und von mehreren Seiten beleuchtet – nachzeichnen. Er schildert, warum dieser unbeugsame und sehr von sich selbst überzeugte Mann in seiner Gemeinde so beliebt war, dass er selbst den Bruch mit dem alten, gegen ihn opponierenden Kirchenvorstand riskieren konnte und am Ende die Gemeinde sogar in die Selbstständigkeit trieb, indem der Kirchennotstand ausgerufen wurde.

Manches davon ist von erstaunlicher Logik. Denn warum soll man nicht auch gegen Amtshierarchien klare Kante zeigen, wenn diese sich hinter Amtsgewalt und Jurisdiktion verschanzen? – Bürokratien neigen dazu. Und Scholz fragt zu Recht: War dieser Rausch vielleicht ein neuer Michael Kohlhaas? Oder doch nur ein Judas?

Denn finanziell durchgehalten hätte er das Spiel gegen die eigene Landeskirche aus eigener Kraft nicht. Dazu brauchte er Hilfe. Und diese schneite ihm während der heftigsten Tumulte in Person zweier grauer Männer ins Haus, die sich als Mitarbeiter der Stasi auswiesen und mit Rausch ins Geschäft kamen. Das übliche Geschäft: Kohle gegen Berichte. Und weil die Loslösung der Gemeinde von der Landeskirche auch ein Stich gegen die Kirche war, bekam Rausch auch dafür Schützenhilfe. Staatliche Instanzen waren künftig auf Rauschs Seite, wenn die Landeskirche versuchte, zum Beispiel wieder an ihre Immobilien in Probstheida zu kommen.

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Jahrelang züngelte der Streit, versuchten auch die Landesbischöfe immer wieder, eine Schlichtung hinzubekommen. Denn auch andere Pfarrer revoltierten gegen die Bevormundung. Das sollte nicht Schule machen. Nicht alle aus den selben Gründen. Und keiner so starrköpfig wie Hans-Georg Rausch, der ja seit dem Besuch der zwei Herren eine dunkle Gewalt hinter sich wusste. Oder glaubte zu wissen, denn der allgegenwärtige Staatssicherheitsdienst wollte ja immer eine Gegenleistung. Und das waren Berichte über all und jedes, was einer wie Rausch erfuhr. Aber Rausch selbst wurde dieser Zuträgereien wohl nach Jahren müde, lieferte weniger, wusste auch weniger über das, was in Kirchenkreisen passierte.

Es gibt viele persönliche Einschätzungen von Wegbegleitern und Schlichtern, die Scholz zitiert, in denen dieser starrköpfige und eigentlich nie kompromissbereite Pfarrer, der “Probst aus Heida”, Konturen gewinnt. Eine wichtige christliche Tugend schien ihm wirklich zu fehlen: Demut. Das “Hier stehe ich und kann nicht anders” hat eben auch seine Schattenseiten, die dazu gehören, wenn über dieses über 20 Jahre währende Probstheidaer Refugium berichtet wird, das erst mit Rauschs Übertritt in den Ruhestand und seine Ausreise in den Westen ein Ende fand.

Dass er dann in der Leipziger Stadtverordnetenversammlung den Mut zu diesem “Nein!” fand, hat viel damit zu tun. Kurz geht Scholz auch auf Rauschs Arbeit in der Kulturkommission ein, in der er es fünf Jahre vor der Sprengung von St. Pauli schon mit einer anderen Sprengung zu tun hatte, bei der die Verantwortlichen genauso rigoros vorgingen – der Sprengung des Kirchturms der Johanniskirche. Auch diese Sprengung erzeugte Wellen bis hinauf in die Staatsführung. Und nicht nur Rausch sah darin den Auftakt für die geplante Sprengung der Kirche St. Pauli, über die seit 1960 gesprochen wurde.

Zuweilen fühlt man sich an die seltsamen Spiele moderner Bürokratien erinnert: Da wird schon weit vor dem für Aufsehen erregenden Ereignis in aller Stille alles vorbereitet, werden Pläne gemacht, Beschlüsse gefasst und Wettbewerbe durchgeführt. Auch zur Neugestaltung des Uni-Campus gab es ja einen Wettbewerb. Für preiswürdig befunden wurden aber nur die Wettbewerbsbeiträge ohne Paulinerkirche. Die Leipziger wussten also, was sich anbahnte. Und nicht nur die Theologen an der Karl-Marx-Universität protestierten, auch die Kulturschaffenden der Stadt meldeten sich zu Wort.Mit eindringlichen Sätzen schildert Scholz die gespenstischen Vorgänge ab dem 23. Mai 1968 rund um die Paulinerkirche. Als dann am 30. Mai gesprengt wird, steht Pfarrer Rausch wohl nicht unter den Zuschauern. Anders als der wagemutige Theologe Nikolaus Krause, den die Stasi noch Monate nach der Sprengung verhaften, verhören und einsperren lässt. Einige Vermerke in Rauschs Stasi-Akten schienen die Vermutung zu nähren, Rausch habe den mutigen jungen Mann verraten und dadurch die Verhaftung erst ermöglicht. Aber dem ist nach Scholz’ Forschungen nicht so.

Auch hier passt Rausch nicht ins simple Bild.

Was dann aber auch wieder passt zu dieser Enttäuschung, als nach 1990 herauskam, dass auch “dieser letzte Held” kein reiner, sauberer, klarer Held war, sondern eine widersprüchliche Gestalt. Nicht nur Erich Loest war enttäuscht. Und Scholz fragt natürlich zu Recht: Brauchen wir wirklich Helden? Sind wir ihrer so bedürftig?

Oder steht eine zerrissene Gestalt wie Rausch nicht gerade auch für die Zerrissenheit der Zeit, in der er lebte und handelte? Viel typischer als all die anderen, die an jenem 23. Mai einfach zustimmten, die allerwenigsten augenscheinlich mit irgendeinem Skrupel?

Was Rudolf Scholz in seinem Essay zusammengetragen hat, ist eben auch ein Stück Leipziger Zeitgeschichte, die nicht nur aus Helden und Bösewichtern bestand, sondern zum größten Teil immer aus einer Gemengelage zerrissener bis willfähriger Gestalten. Was dann freilich auch Typen wie Rausch wieder interessant macht: Warum sind sie so? – Übrigens keine ganz neue Frage: Genau so hat sich seinerzeit auch Heinrich Kleist der Gestalt des Kohlhaas genähert.

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Leipzigs letzter Held oder die Leben
des Pfarrers Hans-Georg Rausch

Rudolf Scholz, Dingsda Verlag 2013, 19,90 Euro

Veranstaltungshinweis: Rudolf Scholz liest aus seinem Buch “Leipzigs letzter Held oder Die Leben des Pfarrers Hans-Georg Rausch” am 19. Oktober, ab 12.15 Uhr im Literaturcafé im Haus des Buches. An diesem Tag findet im Haus des Buches das Fest sächsischer Verlage und Autoren “Gut zum Druck” statt. 19 ausgewählte Verlage aus ganz Sachsen, die Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlags- und Literaturszene und 10 Literaturvereine präsentieren an 30 Ausstellungsständen ihre Publikationen. Zudem gibt es 17 Kurzlesungen sowie eine Podiumsdiskussion zum Thema “Zukunft Buch” mit Monika Osberghaus (Klett Kinderbuch Verlag), Klaus Schöffling (Verlag Schöffling & Co.), Andreas Eichler (Mironde Verlag) und Andreas Heidtmann (poetenladen Verlag) unter der Moderation von Michael Hametner.

www.dingsda-verlag.de

www.haus-des-buches-leipzig.de

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