Etliche Bücher zur Geschichte der jüdischen Mitbürger in Sachsen sind in den letzten Jahren erschienen, etliche zum Holocaust, der aus jüdischer Perspektive Shoah heißt, zu jüdischen Persönlichkeiten und Erinnerungsstätten. Zumeist beschränkt auf das 20. Jahrhundert, als wären die Juden da irgendwie aus einem Dunkel der Geschichte aufgetaucht. Es war höchste Zeit für ein Buch, das auch die Zeit davor mit beleuchtet.

Denn die jüdischen Mitbürger kamen ja nicht aus dem Nichts, auch wenn sich das Kurfürstentum und Königreich jahrhundertelang immer schwer tat, Juden ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, von vollen Bürgerrechten ganz zu schweigen, die bekamen sie tatsächlich erst 1918 mit Beginn der Weimarer Republik. Aber es trifft auch zu, dass die jüdische Geschichte in Sachsen vor dem 18. Jahrhundert schwer rekonstruierbar ist. Die Quellenlage ist dünn, zu vielen Kapiteln jüdischen Lebens vor den großen Vertreibungen der Jahre um 1349, 1430 und 1536/1543 fehlen viele historische Nachweise.

Auf alten Landkarten haben sich zuweilen noch die alten Siedlungs- und Begräbnisplätze namentlich erhalten, seltener haben Straßen- und Platzbezeichnungen überlebt. Noch viel seltener die Bauten, die einst von jüdischen Gemeinden genutzt wurden. Ihre Spuren sind oft restlos getilgt. Dabei gehörten jüdische Händler und Kaufleute von Anfang an zur Urbanisierung Sachsens. Sie siedelten sich in den wichtigen Knotenpunkten des Handels an und wurden mit ihren Siedlungen in der Regel Teil der neu entstehenden Stadt. In Dresden war es so, in Leipzig wahrscheinlich auch. Anderswo – wie in Meißen – hatten sie ihre eigene Siedlung vor der Stadt.

Und gerade in der wichtigen Phase der Städtegründungen vom 11. bis 13. Jahrhundert muss es ein Nebeneinander gewesen sein, das beide Seiten bereicherte und Handel und Wandel in der Markgrafschaft Meißen zum Blühen brachte. Christiane Donath geht in ihrem Beitrag in diesem von Gunda Ulbricht und Olaf Glöckner herausgegebenen Buch auf diese Frühgeschichte ein, die ihren ersten Riss im Jahr 1349 bekam, als eine wohl auch staatlich zumindest geduldete Mordwelle über die jüdischen Gemeinden in der Markgrafschaft Meißen hereinbrach.Doch während anderswo in deutschsprachigen Gebieten diese Pogrome im Gefolge der Pest geschehen, scheint es in der Markgrafschaft andersherum gewesen zu sein: Man mordete und vertrieb die jüdischen Gemeinden schon im Frühjahr, noch bevor die Pestwelle heranrückte. Und man bereicherte sich ausgiebig am Eigentum der Vertriebenen. Ein uraltes Muster, das über die Jahrhunderte immer wieder sichtbar wurde. Stets gab es interessierte Kreise, die auf Hab und Gut der Juden aus waren, die bis in die Neuzeit vor allem als Händler und Kaufleute in Erscheinung traten.

Aber wohin verschwanden die vertriebenen Juden, wenn auch anderswo in Deutschland derart Jagd auf sie gemacht wurde? Ihr Weg ging nach Osten, in Länder wie Polen und Russland, die in dieser Zeit durchaus noch sicherere Zufluchtsländer waren und wo jüdische Gemeinden überlebten, bis sie auch dort durch die Pogrome der Neuzeit vertrieben wurden. Von hier knüpften sie auch wieder Handelskontakte nach Sachsen, denn sie bewältigten einen Großteil des Handels mit den östlichen Ländern. Die Messestadt Leipzig erlebte deshalb zu jeder Messe auch die Ankunft der Messjuden, deren Aufenthalt freilich streng reglementiert war.

Und Sachsens Kurfürsten taten sich schwer, Juden wieder Siedlungsrecht im Land zu geben, obwohl sie oftmals dringend auf ihre Hilfe angewiesen waren, denn sie liehen sich in Krisenzeiten bei ihnen immer wieder das benötigte Geld. Wie einst Friedrich der Streitbare und Friedrich II. bei Abraham aus Leipzig. Mit dem Geld finanzierten sie die Kriege gegen die Hussiten und – nicht zu vergessen: die Erwerbung der Kurwürde. Ohne Abraham aus Leipzig kein Sachsen an der Elbe. Der Konkurrent war seinerzeit der Herzog von Sachsen-Lauenburg – Kurwürde und der Name Sachsen wären also beinah nach Schleswig-Holstein abgewandert.

Aber zurückzahlen konnten die neu gebackenen Kurfürsten das Geld wohl nicht. Immerhin hatten sie sogar eine ganze Stadt dafür verpfändet: Delitzsch. 1438 strengten sie einen dubiosen Prozess gegen Abraham an und enteigneten ihn praktisch einfach. Vor allem die Beiträge von Christiane Donath, Daniel Ristau (17. Jahrhundert bis 1840) und Gunda Ulbricht (Juden in später preußischen Gebieten Sachsens) zeigen, wie schwer sich Fürsten, Städte und Innungen taten, Menschen jüdischen Glaubens zu akzeptieren und zu integrieren. Penibel wurden Aufenthalte definiert, Kopfabgaben kassiert, strenge Regeln für Niederlassung, Handel und Glaubensausübung erlassen. Und das auch dann noch, als jüdische Händler und Kaufleute aus den Handelsplätzen des Landes nicht mehr wegzudenken waren. Uralte Vorurteile wurden immer neu aufgelegt. Oft genug sprach sich in den Ressentiments auch reines Konkurrenzdenken aus.

Das sich später zu neuen Vorurteilen auswuchs, als sich in Sachsen nämlich die ersten auch international erfolgreichen Banken, Handelshäuser und Manufakturen entwickelten. In einigen Branchen – wie dem Pelzhandel – dominierten zwangsläufig jüdische Händler. Sie waren es, die die Pelze russischer Bären, Zobel und Silberfüchse nach Leipzig brachten. Doch wenn Vorurteile erst einmal im Schwange sind, werden sie auch immer wieder hervorgekramt, wenn Kleingeister damit Politik machen können.Und die zunehmende Assimilierung der jüdischen Mitbürger, die die wenigen Chancen, sich in die neu formierende Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts zu integrieren, nutzten, rief mit der ersten großen Krise des deutschen Zeitalters – dem “Gründerkrach” – auch die alten Kleingeister auf den Plan. Dresden und Leipzig wurden in den 1880er Jahren zu den Schwerpunkten des neu aufbrechenden Antisemitismus, der seine eigene Verunsicherung in einer krisenhaften Zeit auf die scheinbare Konkurrenz projizierte. Doch der Boden war fruchtbar, denn jede neue Krise erschreckte das gefährdete deutsche Kleinbürgertum jedes Mal aufs Neue. Das ist bis heute so, auch wenn sich die Kleinbürger heute “die Mitte” nennen.

Wesentlich bekannter ist ja dann, wie schnell der Antisemitismus nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg seine Opfer suchte und zur staatlichen Mordmaschine wurde. Weniger bekannt ist meist, wie stark jüdische Unternehmer, Wissenschaftler und Politiker den Aufschwung Sachsens zum führenden deutschen Industriestandort begleiteten. Vielerorts sind sie aus der lokalen Wirtschaftsgeschichte nicht wegzudenken, auch wenn sie heute fast vergessen sind. Leipzig kommt im Buch nicht nur etwas umfangreicher vor, weil die Leipziger jüdische Geschichte etwas besser erforscht ist als die in anderen sächsischen Kommunen. Hier bildete sich auch im 19. Jahrhundert die größte jüdische Gemeinde in Sachsen. Was auch kein so verblüffender Effekt ist, denn er ähnelt auch heute der Entwicklung von Migrantenpopulationen in Deutschland: Migranten jeder Epoche bevorzugen zur Ansiedlung Städte, in denen ihre Chancen, Fuß zu fassen, größer sind. Man assoziiert das heute gern mit den Begriffen Weltoffenheit und mit Internationalität. Was leider nicht ausschließt, dass am gleichen Ort die reaktionärsten Widerstände zu Hause sind.

Seit 1990 haben jüdische Gemeinden wieder einen zum Teil verblüffenden Aufstieg erlebt, erhielten beachtlichen Zuzug aus den Staaten der ehemaligen GUS, was auch das Leben in den Gemeinden bereicherte und veränderte. Aber auch das Kapitel DDR wird nicht ausgespart. Man bekommt in acht recht umfangreichen Beiträgen einen weit reichenden Überblick über 900 Jahre jüdischer Kultur im Gebiet des heutigen Sachsen – mit den erwähnten großen Lücken.

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Juden in Sachsen
Olaf Glöckner; Gunda Ulbricht, Edition Leipzig 2013, 19,95 Euro

Und man trifft auf eine ganze Reihe von Namen, die heute noch einen Ruf haben, weil ihre Träger mit ihren Projekten zeigten, was in Sachsen möglich ist, wenn nicht ignorante Gesetze fatale Grenzen ziehen. Zu erwähnen seien die Kaufhausgründer Schocken aus Chemnitz, die Bankiersfamilie Kroch aus Leipzig oder der Musikverleger Hinrichsen. Doch derlei kann in so einem Buch nur andeutungsweise auftauchen. Man bekommt nur eine vage Ahnung, was auch Sachsen verlor, als die Vernichtungsmaschinerie des NS-Staates die jüdischen Mitbürger aus dem Lande trieb oder gar in die Vernichtungslager brachte.

Man spürt sehr wohl, wie reich eine Gesellschaft sein kann, die auch mit den scheinbar fremden Religionen tolerant umgeht. Auch das ein brennend aktuelles Thema. In Leipzig und anderswo.

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