Das alte Leipzig starb in den Morgenstunden des 4. Dezember 1943. Kurz nach 3.50 Uhr wurde Leipzig von einem Teppich greller Lichter erhellt. Kurz darauf fielen die ersten der 900 Sprengbomben, 18 Minenbomben, 90.000 Stabbrandbomben und 17.400 Phosphorbrandbomben, die einen zwei Kilometer breiten Streifen der Verwüstung durch die Stadt frästen. Schon 2003 veröffentlichte Mark Lehmstedt das Buch, das diese Verwüstung in Texten und Bildern schildert.

Zum 70. Jahrestag dieses schwersten und folgenreichsten Bombardements der Stadt Leipzig hat er das Buch “Leipzig” noch einmal überarbeitet und korrigiert aufgelegt. Das Buch sorgte schon 2003 für Furore, weil es erstmals in kompakter Form zeigte, was bis dahin nur zwei Ausstellungen des Stadtgeschichtlichen Museums in Ausschnitten gezeigt hatten. Was diese nicht zeigen konnten, war natürlich das Entsetzen der Betroffenen. Und auch das ist nur überliefert, weil einem Mann im damaligen Leipzig sehr bewusst war, was diese Nacht vom 3. zum 4. Dezember bedeutete. Dr. Friedrich Schulze hieß er und war Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums. In einem Rundschreiben forderte er die Leipziger auf, ihre Erlebnisse während der Bombennacht zu schildern – als Zeitzeugenberichte für eine künftige, friedlichere Zeit.

Die Berichte überdauerten in Schulzes Nachlass und zeigen das, was der Amtliche Bericht (der auch im Buch enthalten ist) so nicht zeigen kann. Er enthält die trockenen Daten zum Angriff der 200 bis 400 englischen Bomber, die registrierten Opfer und Schäden und die Rettungsbemühungen in der Nacht und in den Tagen danach. Denn noch verheerender als die Bombentreffer erwiesen sich die Großbrände, die noch Tage danach wichtige Gebäude verzehrten. Stärker noch als im amtlichen Bericht wird in den Augenzeugenberichten deutlich, wie sehr die Stadt überfordert war von dieser Katastrophe, wie hilflos auch die Feuerwehr der brennenden Häusermenge gegenüberstand.Dazu kam, dass die Leipziger Feuerwehr in der Nacht zuvor die Hälfte ihrer Kräfte nach Berlin hatte schicken müssen, nachdem Berlin zwei Nächte hintereinander Angriffsziel der anglo-amerikanischen Bomber gewesen war. Und auch in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember sah es so aus, als ob die Bomber der Royal Airforce auf Berlin fliegen würden, doch über Magdeburg schwenkten sie dann abrupt nach Süden ab. Seit knapp zwei Monaten lag auch der sächsische Raum, der lange als sicher galt, in der Reichweite der alliierten Bombergeschwader. Und Leipzig galt als ein wichtiges Ziel: Über 200 für die Kriegsrüstung wichtige Unternehmen waren hier angesiedelt – bei der HASAG wurden Panzerfäuste gebaut, bei Büssing in Wahren Panzerspähwagen, in den Erla-Werken Jagdflugzeuge, die ATG in Großzschocher baute Flugzeugteile, die Mitteldeutschen Motorenwerke in Portitz bauten Motoren für Junkers-Flugzeuge usw.

Doch 1943 war auch das Jahr, in dem der Bombenkrieg in der Strategie der Alliierten schon eine andere Rolle spielte. Sie griffen die deutschen Städte nicht mehr primär an, um die Infrastrukturen und kriegswichtigen Rüstungen zu treffen. Seit 1942 galt das von Luftmarschall Arthur Harris verkündete “Moral Bombing”, das von Juli bis August 1943 schon die Hansestadt Hamburg in der Operation “Gomorrha” zu spüren bekam. Es ging darum, die deutsche Zivilbevölkerung zu demoralisieren – eine Strategie, die bekanntlich nicht aufging. Was auch daran liegt, dass die alliierten Militärs nicht wirklich verstanden, wie eine totalitäre Diktatur funktioniert und wie marginal die Handlungsräume der Menschen in so einem komplett überwachten System sind. Zuweilen hat man auch heute noch das Gefühl, dass Briten und Amerikaner bei ihren Kriegseinsätzen in aller Welt derart blauäugig – und damit oft genug katastrophal – agieren.

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Für Leipzig bedeutete das, dass in den Morgenstunden des 4. Dezember jedes zehnte Gebäude total beschädigt wurde (3.500), weitere 5.100 schwer. Besonders schwer getroffen wurde eine breite Schneise durch die Mitte der Stadt – danach war die Innenstadt samt ihren Vorstädten nur noch eine Brand- und Trümmerwüste. Der Brand, der durch die gewaltigen Papiermassen, die im Grafischen Viertel bei all den marktführenden Verlagen, Druckereien und Grossisten lagerten, erst recht Nahrung bekam, verwandelte ganze Stadtviertel in eine Gluthölle. Die zufällig in Leipzig anwesenden Feuerschutzexperten schätzten die Gewalt des Brandes noch als wesentlich stärker ein als den Feuersturm in Hamburg.

Die Alliierten hatten ihre Bombardiertechnik im Lauf des Krieges ausgefeilt und wendeten sie gegen die Städte Mitteldeutschlands dann schon in Perfektion an. Die Bilder, die die RAF bei Aufklärungsflügen am 20. Dezember 1943 aufnahm, zeigen das ganze Ausmaß der Zerstörung. Auch sie sind im Buch abgebildet und ergänzen jene zumeist laienhaften Fotos, die von einigen Leipzigern selbst in den Wintermonaten nach der Bombennacht aufgenommen wurden. Teilweise unter Lebensgefahr, denn die NS-Machthaber hatten das Fotografieren strikt verboten. Paul Kröber, der sich bei den obersten Stellen extra eine Fotoerlaubnis erwirkte, schildert seine Erlebnisse ebenfalls im Buch. Auch er konnte die Verwüstung erst ab Januar 1944 fotografieren, nachdem die Straßen schon beräumt und die Brände gelöscht waren.Auf die Zeitungen der Zeit kann man natürlich nicht rechnen. Sie waren gefüllt mit Propaganda – die Wirklichkeit durfte dort gar nicht vorkommen. Auch der seinerzeit erstellte amtliche Bericht blieb geheim. Und anders als im Fall Dresden, das im Februar 1945 bombardiert wurde, wurde die Vernichtung der Buch- und Messestadt Leipzig (auch das Messegelände und die Messehäuser in der Innenstadt waren zerstört) von den Nationalsozialisten propagandistisch nicht ausgeschlachtet, so dass dieser Luftangriff auch nie so einen Status erhielt wie die Angriffe auf Hamburg und Dresden.

Es blieb auch nicht der einzige Luftangriff auf Leipzig. Bis zum Kriegsende im April 1945 erlebte Leipzig 38 Luftangriffe, davon 11 mit großen Bombergeschwadern, den letzten noch am 10. April 1945. Doch keiner blieb im Gedächtnis der Leipziger so prägnant wie der am 4. Dezember 1943, der eine bis dahin unversehrte Stadt binnen einer halben Stunde in Schutt und Asche legte. Über 2.000 Leipziger verloren ihr Leben – doch auch das Begräbnis der Opfer auf dem Südfriedhof fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Und noch aus einem anderen Grund wahrten die NS-Funktionäre Geheimhaltung. Es steht auch im Bericht, warum: “Nur geringe Schäden erlitten Rüstungsbetriebe der Maschinen- und Metallindustrie”. Die Leipziger Rüstungsindustrie konnte weiterproduzieren, der Krieg konnte weitergehen.

Der Bildband bietet eine Auswahl der Augenzeugenberichte, die Friedrich Schulze gesammelt hat. In der atmosphärischen Stimmung ähneln sie sich alle, denn im Grunde erlebten die Augenzeugen alle dasselbe, egal, wo sie sich in den Morgenstunden des 4. Dezember gerade aufhielten. Die Vorwarnung hatten viele gar nicht oder zu spät gehört. Als die aufgeschreckten Leipziger in die Keller flüchteten, kamen die Bomben meist schon in der Nähe herunter. Und viele mussten nach dem Abflug der Bomber hilflos zusehen, wie ihr Wohnhaus abbrannte. Manche kämpften auch erfolgreich gegen den Verlust wertvoller Bausubstanz, wie Pfarrer Friedrich Ostarhild an der Nikolaikirche. Andere schildern, wie ohnmächtig ihre Bemühungen blieben, wichtige Gebäude wie das Alte und das Neue Theater, das Zentraltheater, die Nikolaischule oder wichtige Kliniken im Universitätsklinikum zu retten.

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Leipzig brennt
Mark Lehmstedt, Lehmstedt Verlag 2013, 19,90 Euro

Was die Fotos nicht zeigen können, schildern die Berichte. Und die eindrucksvollsten unter ihnen machen sichtbar, wie das alte Leipzig in diesem Feuersturm unterging. Man bekommt dabei auch ein Gefühl dafür, welche Aufbauleistung die Leipziger nach dem Krieg – trotz aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hemmnisse – leisteten. Etliche Wunden sind noch heute als Brachfläche zu sehen. Aber auch die werden verschwinden. Und dann kommt der Tag, an dem erinnert nur noch so ein Bildband daran, wie verwundbar eine alte Kulturstadt ist und wie wenig genügt, sie im Herzen zu treffen.

Veranstaltungshinweis:
Am 5. Dezember 2013 um 18:30 Uhr erinnert eine Veranstaltung im Stadtarchiv an den schwersten Bombenangriff des zweiten Weltkriegs auf Leipzig. Die Archivarin und Historikerin Birgit Horn-Kolditz und Reinhard Steffler, Mitarbeiter der Branddirektion Leipzig und Experte für die Geschichte der Leipziger Berufsfeuerwehr, erläutern Aspekte des Luftkrieges, der für Leipzig in den frühen Morgenstunden des 4. Dezembers 1943 schwere Zerstörungen brachte.

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