Es ist die Nummer 4: Beharrlich ackert sich der Leipziger Übersetzer Erich Ahrndt durch die Werke der großen russischen Dichterinnen und Dichter des 20. Jahrhunderts. Jetzt hat er sich das Werk der Dichterin Bella Achmadulina vorgenommen, zumindest jene Auswahl, die 2004 in Moskau erschien. Sie gehört zu jenen Stimmen, die man mit dem so genannten "Tauwetter" in Verbindung bringt.

Das war die Zeit nach Stalins Tod 1953 und Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, mit der Chruschtschow den Menschen in der Sowjetunion das Gefühl gab, eine andere, freiere Gesellschaft sei möglich. Ohne großen Diktator oder, wie es in russischer Tradition seit Dostojewski heißt: ohne Großinquisitor. Das Ergebnis war eine Blüte der Literatur – nicht nur der Prosa, die mit Granin, Okudshawa, Trifonow usw. Unverwechselbares bot, sondern auch in der Lyrik. Was seinerzeit selbst die Lyriker überraschte.

Doch in einer Gesellschaft, in der seit über 20 Jahren alles zensiert und reguliert war und kleinkarierte Literaturfunktionäre den Eiertanz um einen verquasten “sozialistischen Realismus” tanzten, in der auch Zeitungen nicht viel mehr waren als gedruckte Propaganda, wirkten selbst die Gedichte der jungen, aufmüpfigen Leute, die sich da Ende der 1950er hervorwagten, wie ein lebendiger Regen. Die Namen sind bis heute berühmt: Jewtuschenko, Roshdenstwenski, Achmadulina, Okudshawa nicht zu vergessen. Und eigentlich gehört auch Wyssotzki noch hierher, auch wenn ihn Achmadulina nicht erwähnt.

Die anderen erwähnt sie schon, widmet ihnen Gedichte. Und sie wehrte sich gegen die Versuche, sie in den Olymp der russischen Dichterinnen einzureihen – neben Achmatowa und Zwetajewa. Es gibt ja ganze Schulen der “Literaturwissenschaft”, die können nicht anders, für die werden Autoren erst wichtig, wenn man sie mit den “Klassikern” auf eine Stufe stellen kann. Als wäre Literatur eine ewige Jagd nach Podestplätzen. Es nervt. Es nervt auch in diesem Buch, auch wenn Erich Ahrndt so versucht, die russische Dichterin irgendwie fürs deutsche Publikum einzuordnen.Wahrscheinlich hat er recht, so viel Unkenntnis vorauszusetzen. Selbst dieses Tauwetter der Chruschtschow-Zeit ist heute tiefe Geschichte. Die ganze Mühsal der russischen Autoren, den Stalinismus auszutreiben und bis in sein Existenzmark hin zu analysieren – umsonst. Das alte Bild von der Matrjoschka scheint wirklich zu stimmen: Jedem Zar folgt ein neuer Zar, dem Schreckensherrscher folgt einer, der lächelnd die Knute schwingt. Kaum noch vorstellbar, dass eine Dichtergeneration wie die Jewtuschenkos einst ganze Stadien füllte. Er wurde – wie später auch Wyssotzki – verehrt wie ein Rockstar. Und selbst in der deutschen Übersetzung versprühen seine Gedichte bis heute die Lebenslust dieser Nachkriegsgeneration.

Und Vieles davon findet man auch bei Achmadulina (mit der Jewtuschenko zeitweilig verheiratet war). Es ist dieser Estradenton, der den Leser nicht in einer heimeligen Stunde am Ofen abholt, sondern auf offener Bühne begeistern will. Der sich wieder den Mut nimmt, das eigene Leben als Maßstab zu setzen und im eigenen Erleben die Wirklichkeit der Welt zu suchen. Es war ein fast euphorischer Abgesang an all den quasi-sozialistischen Helden- und Väterchen-Stalin-Bembel, der als die einzig maßgebende Literatur galt. Nö, sagten sich die jungen Leute, die sich da um 1960 auf die Bühnen stellten und ihre Lyrik zelebrierten wie Rocksongs ohne Bandbegleitung, was kümmern uns alle diese verlogenen Heldengestalten? Was zählt ist: die Liebe, die Lebensfreude, die Freundschaft, das Jungsein.

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Und unsere literarischen Vorbilder sind auch nicht eure handgeschnitzten Arbeiterfunktionäre. Wen interessiert denn das? Und sie beriefen sich lauthals – nicht auf Majakowski (obwohl der es 40 Jahre vorher genauso gemacht hatte), sondern auf Achmatowa, Zwetajewa, Jessenin, Blok, manchmal auch auf Puschkin, auf Mandelstam oder – was dann schon eine ganz klare politische Botschaft war – auf Boris Pasternak. Dessen Tod als tiefer Schmerz auch in den Gedichten Bella Achmadulinas widerhallt.

Die gern auch mal mit dem Etikett unpolitisch abgetan wurde. Oder wie Erich Ahrndt zu erklären versucht: “Man hat ihr in der Tat vorgeworfen, ihr vorgehalten, sie dichte zwar kunstfertig, erschöpfe sich aber in Sprachschönheit.” Und dabei kommt er selbst nicht wirklich viel weiter, wenn er anbietet: “Aber sie teilt dabei Inhalte mit, die den Leser bewegen.”

Selbst Übersetzern fällt es sichtlich schwer, über das zu reden, was sie übersetzt haben. Ja, worüber sollten Dichter denn sonst schreiben, wenn nicht über genau das? Aber das wären noch keine Gedichte. Die werden es, wenn es zu knistern beginnt zwischen Dichterin und Zuhörer. Es geht in diesen Texten nicht um Kunstfertigkeit, auch wenn sie wie Lieder aussehen und durchweg in Strophen geschrieben sind und gereimt. Es gibt sogar Stellen, an denen die Dichterin leise flucht über diese Reimerei. Aber sie ist Teil ihrer Botschaft. Man kann es genauso bei Puschkin, Blok und Majakowski finden, bei Jewtuschenko sowieso – es ist diese klassische Liedstruktur, die den Texten nicht nur Rahmen, sondern auch Spannung gibt. Gerade das strenge Versmaß und die klaren Reime erzeugen Druck und Tempo – aus dem die Dichterin nicht ausbrechen kann, weil dieser Rhythmus das Thema vorantreibt. Es ist, als sagte sie sich selbst: Nun erzähle, erzähle! – Und sie erzählt, zunehmend atemlos, als stünde einer mit der Stoppuhr neben der Bühne. In diesem Versmaß steckt das ganze euphorische Tempo der “Tauwetter”-Zeit. Man findet es genauso angewendet eben auch bei Jewtuschenko.Diese junge Dichtergeneration hatte Hoffnung, sie musste sich nicht mehr abfinden und einigeln wie noch die Älteren um Achmatowa und Zwetajewa, auch wenn sie über die selben Themen schrieben, nun aber offen, fordernd. Gib her, das Leben! – Ein gut Teil der Abwertung durch die Literaturkritik ist auch wieder politische Abwertung, nicht nur nach russischer Art: Na wenn ihr nicht mehr über Revolutionen schreibt, dann seid ihr nicht mehr relevant. Sprachschönheit heißt das in diesem Fall. – Die Arroganz der Nie-Lebendigen kann deprimierend sein.

Dabei schrieb die Achmadulina bis zum Schluss über die selben Themen. Oder genauer: über das eine Thema. Anspruch und Wirklichkeit. Und ihre Texte schillern, sind voller Neugier, Wut, Hoffnung, Trauer – es ist alles da, so, wie es jeder selbst sehen, spüren und erleben kann, wenn er sich nicht gerade die Birne weghaut mit Alkohol, Fernsehen oder anderen Drogen. Und genau das, was den Kritikern fehlt, macht diese Gedichte aus dem scheinbar so unspektakulären Alltag so drängend, dringlich und atmosphärisch. Aber auch da ist man wieder mitten in der Welt der Bely, Mandelstam und Jessenin. Es braucht keine Heldendenkmäler, um den Riss durch die Zeit zu beschreiben, das Erschrecken über falsche Illusionen und die sichtbaren Verluste im Alltag. Gerade deshalb sind Achmadulinas Texte so genau: Sie beschreibt das, was sie sieht, was sie erlebt und was ihr widerfährt.

Und der große Prosatext “Viele Hunde und der Hund” bringt es in poetisch dichter Erzählung auf den Punkt. Da wird so beiläufig Bulgakow zitiert (oder ist es gar der selige Herr Sobakjewitsch aus den “Toten Seelen”?), der Stil ist Pasternak nah, der Held eine weitere Verkörperung jenes uralten Iwan, der sich erneut in einer Welt wiederfindet, in der nicht nur Hunde gequält werden, sondern auch der einzelne Mensch behandelt wird wie ein Hund. 1978 geschrieben. Die Jahreszahlen bei den Texten sagen alles: Es ist dieses von Verachtung geprägte Breshnew-Zeitalter, die in Zynismus erstarrte Depression einer Gesellschaft, die ihre einstigen Ideale alle verspielt hat.

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Viele Hunde und der Hund
Bella Achmadulina, Leipziger Literaturverlag 2013, 24,95 Euro

Es ist alles präsent – auch in den vielen Gedichten für ihre Dichter-Freunde, die in den 1980er Jahren entstehen. Es gehört schon eine Menge Fatalismus dazu, dann 1984 mitten in ein scheinbar nur dem “überflüssigen” 29. Februar gewidmetes Gedicht die Zeile zu schreiben: “Wir hatten Glück, die Stirn ist nicht zerschmettert / und brauchbar noch zur Reimverfertigung …” – Natürlich hat auch Erich Ahrndt so seine Not mit diesem dicht gepackten Vers. Wie behält man das Atemlose bei? Diesen Gestus der Bühne, in dem sich die Dichterin immer wieder einem spürbar präsenten Publikum zuwendet? Die Stimmungsschwankungen mitten im Vers? – Eine Gratwanderung zwischen den Sprachen, mit der aber Bella Achmadulina nach dem in Vorzeiten – 1974 – erschienenen Band “Musikstunden” endlich wieder mit einem umfangreicheren Lyrikband auf dem deutschen Buchmarkt vertreten ist.

www.l-lv.de

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